Die letzten Menschen von Schrottstadt
„Heute blase ich dir das Lebenslicht aus!“, murmelte er, als er schlaftrunken durch die Gassen wankte. Er war eine unheimliche Gestalt. Klotzartig erhob er sich in die Nacht und witterte den Geruch von Blut, das von den Stengeln der Blumen tropfte. Er kam immer ganz zuletzt, wenn alle schon getötet hatten, und sich satt gegessen hatten an den menschlichen Kadavern. Dafür bekam er auch immer am meisten ab, denn er griff sich stets diejenigen der Einwohner von Schrottstatt, die noch glaubten, zur Zeit der Zivilisation zu leben. Es war möglich, dass auch er einmal ein Mensch gewesen war. Wenn schon. Er hatte es längst vergessen. Zu oft hatte er getötet, und sich am Rausch des Mordens geweidet. Es war so schön, wenn man mit bloßen Händen einen noch lebenden Menschen auseinanderriss, die Angst in seinen schreckensgeweiteten Augen sah, und ihm den Kopf vom Rumpf riss, oder gleich den Brustkorb mit den langen Krallen und den wulstigen, kräftigen Stumpen, die in einer früheren Form der Evolution einmal Finger gewesen waren, aufbrach, sodass die Innereien wie ein wunderschönes Pralinen- oder Trüffelgeschenk herausplatzten. Er hechelte. Eben hatte er wirklich an Pralinen gedacht. Kurz überlegte er. Vielleicht war es ja doch wahr. Die Jahrhunderte der Zivilisation waren vielleicht erst 20 Jahre her, und noch nicht 2000 oder 8000 Jahre lang, wie er gedacht hatte. Er ging ja auch immer noch in das zurück, was er jahrhundertelang gar nicht genannt hatte. Dann, als ihm wieder die ersten Worte einfielen, seine Höhle, und dann, abermals Jahrhunderte später, seine Wohnung. Jenes ruinös verfallene Ding in einer Art Hochhausskelett. Immer, wenn er wieder nach solchen Erinnerungsschüben hinausging, sah er in den Straßen keine Dinosaurier, Riesenlibellen oder Säbelzahntiger mehr, sondern seinesgleichen… Hunanoide. Dieser Name war ihm irgendwann wieder eingefallen. „Menschen…“, murmelte er glücklich. Das einzige, was wirklich schmeckte. Diese Wesen, die in Fetzen von grauen Trainingsanzügen aus ihren Höhlen gingen, und manchmal unverständliche Satzfetzen in gummiartige, schwarze Dinger hineinsprachen, die dudelnde und bimmelnde Laute von sich gaben, und manchmal keckernde und quäkende Stimmen. Und dann erinnerte er sich an noch mehr. Er erinnerte sich daran, dass er selber einmal ein Mensch gewesen war. Dass er selber auch eines dieser Dinger gehabt hatte… ein Handy. Zuhause sogar ein Telefon. Dass die Zivilisation, das normale Menschsein, eben nicht schon tausende von Jahren her war, sondern erst drei oder vier. Er erinnerte sich, dass das Land, in dem er lebte, Deutschland hieß. Und dass es in den letzten Jahren der Zivilisation seine Banken auf dubiose Weise gerettet hatte. Dass es danach eine Flüchtlingswelle nach der anderen gegeben hatte, und dass ab irgendeinem Punkt der neuen Völkerdurchmischung mehrere Missverständnisse in der Handhabung des Internets gegeben hatte.
„Das Internet.“. Er lächelte. Mit fröhlicher Miene schlürfte er seinen Coffee to go herunter und sah glücklich in die Augen der Frau ihm gegenüber. Sie lächelte zurück. Immer nahmen sie sich diese Zeit in der kleinen Bahnhofsbäckerei, bevor die U-Bahn kam. Die junge Frau kam immer um dieselbe Zeit, und nahm dieselbe Bahn wie er. Er war gerettet, wenn er sie sah. Weinte vor Glück. Hielt sich an seinem Pappkaffeebecher fest, und sah in ihre Augen. Und sie sah in seine. Und redete und redete. Man vergaß die furchtbaren Coronamasken dabei, und die Tatsache, dass man an diese Seuche gar nicht glaubte. Man redete wie wirrsinnig über Politik, die neuesten Musikalben, die man sich gekauft hatte, die Lieblingskünstler, die Tatsache, dass immer wieder irgendwo Atomkraftwerke hochgingen, den beängstigenden Erfolg der rechten Parteien in Europa, die in den Städten immer unheimlicher werdende Polizeipräsenz, die Polizeispezialeinheiten mit Maschinengewehren, die Gewalt auf den letzten Demonstrationen, und das Wiedererstarken, des islamischen Terrors. Wenn dann die Bahn kam, stieg man ein, hielt sich nervös aneinander fest, und sah sich in die Augen. Sie war drei Jahre jünger als er, und hatte leichtes Asthma und eine Angststörung. Immer wieder versicherte er, dass das auch von dem ständigen Maskentragen, und der andauernden, latenten Bedrohung kommen konnte. Er habe selbst als Kind Asthma gehabt, und irgendwann sei es von selber weggegangen. „Man muss nur genügend Autoabgase einatmen, dann wird man von selber immun.“, lachte er aufmunternd, wenn sie ins Hypochondrische fiel. „Du bist so stark!“, sagte sie dann voller Bewunderung und Liebe. „Ich bin sehr einsam.“, sagte er dann oft. Immer, wenn sie bei der Station ankamen, wo ihr Büro war, stieg er mit aus, und brachte sie noch bis zu dem gläsernen Gebäude. Vor dem Eingang nahmen sie die Masken ab, und küssten sich sacht. Sehr oft kam er dann zu spät in sein Büro und musste sich Ermahnungstiraden seines Chefs anhören. Er war froh, wenn er abends wieder nach Hause ging, und die Nacht ihn in seinem abgelegenen Stadtteil wohlig umschloss. Ein paar Schritte bis zu seiner Wohnung in einem Hochhaus, aufschließen, und…abtauchen.
Er sah sie an, und zitterte. Schon lange war sie selbstbewusster als früher. Sie lächelte. Und sie rauchte. Demonstrativ. Ihre Sprüche waren ausländerfeindlich. Mit einem zynischen Lächeln blies sie den Rauch dem türkischen Bäcker in der kleinen Bahnhofsbäckerei ins Gesicht, und lachte, wenn er hustete. „Das ist Corona, Lan!“, sagte sie. „Schwere Krankheit. Du musst Impfung. Gehen zu Testzentum. Spritze, du Kanacke. Und dann ab nach Bosporus, du Gorilla.“. Er war nervös. „Hier darf man nicht rauchen, Julia.“, sagte er hektisch. „Und er ist Syrer. Er ist neu hier, und kann noch gar kein deutsch.“. „Schlimm genug, Derenger.“, sagte sie. „Berenger.“, berichtigte er sie. „Du bist langweilig.“, sagte sie. „Der Typ, der dich hier aufgerissen und ins Büro gebracht hat, als ich krank war. Er ist es, nicht wahr?“. Er sah sie an, als wollte er sie auffressen, seine Augen waren angstgeweitet. „Du warst nicht krank.“, sagte sie. „Du hast getrunken, und dann eine ganze Woche lang halluziniert.“ „Aber dieser Knall.“, stammelte er. „Als ich dich anrief, hast du auch noch gesagt, dass du glaubst, das Atomkraftwerk könnte hochgegangen sein.“ „War es ja aber nicht.“, entgegnete sie schnippisch. Er biss in den Rand des Pappbechers mit seinem Coffee to go. „Ich liebe dich wahnsinnig.“, stammelte er. „Du bist ein Klemmi.“, blaffte sie verächtlich. „Und das ebn war ein Zitat aus den „Nashörnern“ von Ionesco. Das hab ich neulich im Theater gesehen. Der Hauptcharakter heißt…“. „Ja.“, sagte er. „Ich weiß. Behringer. Fast wie ich.“. Sie setzte ein noch breiteres Grinsen auf. „Berenger im Original. Genau wie du. Du bist ein Zitat im Zitat eines Zitates.“. Sie blies den weißen Rauch in sein Gesicht, genoss, zu spüren, wie sich sein Glied bei dem Geruch von Nikotin aufrichtete, und sein Gesicht immer grauer und eingefallener wurde, während er mit seinen Stumpenfingern und den viel zu langen Fingernägeln seinen Pappbecher zerdrückte und zerstach. Der Kaffee lief durch die Löcher im Becher auf den kleinen Serviertisch. „Is nich gud.“, sagte der Syrer. „Du machen alles dreggich. Du wegwischen, du Asozialer.“. „WAS WILLST DU!?!?“, schrie er. „Willst du `ne Tracht Prügel!?“. „Gehen raus.“, sagte der Syrer. „Hausverbot.“. „Ich glaub‘, ich spinn!“, schrie er. „Da, du Kanacke!“. Er schmiss dem Syrer den Kaffeebecher mit dem Rest Kaffee ins Gesicht. Dann rannte er raus. Sie lachte ein kleines, dreckiges Lachen, und zahlte für ihn. „Er ist bald reif, Ali.“, grinste sie. „Dann kriegt er das am Kopf wie du.“. Sie machte eine schraubende Handbewegung. „Dann wird’s ihm besser gehen.“. „Ja.“, lachte der Syrer und grinste debil. „Kopf weg, alle Leute freundlich, immer schön.“. „Ja, genau, du Dreckskanacke!“, sagte sie, blies ihm noch einmal demonstrativ den Rauch ihrer verglimmenden Zigarette ins Gesicht, und streckte ihm erneut die Hand hin. „Ach ja, Fräulein.“, sagte er. „Sie noch was wiederkriegen.“. Er zog den Register seiner Kasse auf, und gab ihr den vollen Betrag zurück.
Sie hastete auf den Bahnsteig. Der Zug fuhr ein. Ihr Handy gab ein Signal. Verdammt! Sieghart war schon in dieser Bahn, und Berenger stand immer noch auf dem Bahnsteig. Was für eine dumme Fehlkalkulation!
Seine Augen wurden zu Schlitzen. Sein Feind, dieser Nazi, der ihm seine Julia wegnehmen wollte, stieg aus der U-Bahn. Er sah ihn. Und er wusste wieder, wer er war. Und dass alles Illusion gewesen war. Es gab keine Zivilisation mehr. Schon seit Jahrtausenden nicht mehr. Es waren wirre Erinnerungen, an das, was sie „Menschheit“ nannten. Irgendwo in der Synapsen-DNA ihrer zu Glück zurückdegenerierten Gehirne gespeichert. Jetzt wusste er auch wieder, wie er selber sich zuletzt genannt hatte. Deneriert. Das war sein Name. Er lachte. Ein debiles, keckenrndes Lachen. „Deneriert.“ Lachte er und seine Stimme hüpfte in einem dumpfen Bass. „Deneriert.“ „Ich bin Deneriert. Dene G. Riert.“. Sieghart musterte diesen ekelhaften Asozialen voller Abscheu. „Däne gerührt?“, fragte er, und eine Zornesader schwoll auf seiner viel zu roten Glatzenstirn. „Ich geb‘ dir gleich deinen Dänen gerührt!“
Die Faust traf unerbittlich. Däne gerührt. Hamm, Hamm. Lett, Lett. Eine Prince Denmark taumelte ins Nichts. Das Nazischwein haute ihn vom Bahnsteig auf die Gleise und fiel selber hinterher.
„Heute blase ich dir das Lebenslicht aus!“, schrie Deneriert , als er sich auf den Gleisen wieder aufrichtete, und seinem Gegner mit den Krallenfingern die Kleider in Fetzen vom Leib riss. Er war eine unheimliche Gestalt. Er wusste es, und er genoss es. Klotzartig erhob er sich und witterte den Geruch von Blut, das von den aufgerissenen Rippen seines Gegners tropfte. Damit hatte diese Sau nicht gerechnet. Das wusste er. Er kam immer ganz zuletzt, wenn alle schon getötet hatten, und sich satt gegessen hatten am Zynismus des menschlichen Leides. Dafür bekam er auch immer am meisten ab, denn er griff sich stets diejenigen der Einwohner von Schrottstatt, die noch glaubten, zur Zeit der Zivilisation zu leben. Es war möglich, dass auch er einmal ein Mensch gewesen war. Wenn schon. Er hatte es längst vergessen.
© by Patrick Rabe, 18. August 2021, Hamburg.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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