Klaus Mattes

Vor dem Fenster draußen ist die leere Luft / 9670

Ein unsozialer Mensch war ich immer. Anhaltende Bemenschung wird mir jedes Mal unangenehm. Wiederholt gezeigtes Verlangen nach Nähe wird irgendwann als Forderung erlebt: „Ich müsste dir wesentlich wichtiger sein als viele andere und vieles anderes. Kümmere dich jetzt mehr um mich als um diesen Film oder die Dose Bier neben dir!“

Mein ganzes Leben bin ich kontaktarm gewesen und habe mich still und leise vielem entzogen, bei dem ich hätte mitmachen können oder gar sollen, um nützliche Kontakte zu knüpfen, mein Netz zu spinnen. Nur selten liefen meine Distanzierungen über Streit und Krach. Meist versickerte ich allmählich aus ihrem Umfeld, war in der späteren Rückschau irgendwann zwischen den Gullystäben der Erinnerung verschwunden.

Aber sogar mir schien einleuchtend, nützlich und ratsam, Partner, Freunde, Kameraden zu haben, damit ich über Instanzen verfügte, die meine Ambitionen, Ansichten, Gefühle, Wünsche und Hoffnungen im Zuge ihrer Anteilnahme für existent, wesentlich, wichtig und wertvoll erklärten.

So habe ich sehr oft gedacht, wenn ich wieder einmal, aber bloß für einen einzigen Tag, einen sehr sehenswerten, imponierenden oder beseligenden Punkt erreicht hatte, mittels einer Kombination aus langer Zugreise, Busfahrt und Wanderung, beispielsweise die Walhalla bei Regensburg oder die Weinberge am Genfer See: „Herrlich ist es hier, aber richtig, ganz und vollkommen zählen würde es, wenn ich nicht allein hier wäre, sondern mit jemand zusammen und wir uns nach Jahren gemeinsam erinnern könnten: „Weißt du noch, damals in Straßburg, der Bäckeoffe und das Boot auf der Ill?“

In dem Jason-Reitman-Film „Up in the Air“ hatten sie es clever eingefädelt, als George Clooney, ein Typ, der praktisch sein ganzes Leben in Flugzeugen und auf Geschäftsreisen verbracht hatte, sich direkt an den Kinozuschauer wendet und fragt: „Wenn Sie sich an die besten Momente Ihres Lebens erinnern, bei welchen sind Sie alleine gewesen?“

Äh ja, bei etlichen von ihnen. Aber ich habe sie dann vielleicht bald wieder vergessen, weil ich dort alleine gewesen war. Zum Glück fiel mir gleich ein, dass man die suggestive Frage ja auch umdrehen kann, auch so trifft sie einen. „Erinnern Sie sich bitte an die widerlichsten Augenblicke Ihres Lebens! Waren da noch andere Leute dabei?“ Oh ja, andauernd! Nicht vieles außer Krankheiten, Bränden und Sintfluten kann einem das Dasein so vermiesen wie der andere Mensch.

Was ich sehr gerne und extrem ausgiebig tat, sodass es sich in jedem einzelnen Fall irgendwann totlief, waren meine Briefwechsel, früher auf Papier, später als Mails, in denen man sich im Verlauf von Monaten so nahe kam, bis die intimsten Details erzählt wurden, jedoch so weit von einander entfernt lebte, dass die Frage persönlicher Begegnungen beinah nie aufgeworfen und, wenn doch einmal, von meiner Seite umgangen werden konnte. Vor Jahren korrespondierte ich mit einer Frau in Österreich, einer Witwe mit Kindern, die amourös sich zwischen zwei Männern unterschiedlichen Temperaments bewegte. Ihr Trost: „Sei nur froh, dass du alleine lebst!“

Oft schaffe ich es nicht, die in mir aufsteigenden defätistischen Gedanken hinunterzuschlucken oder wegzulächeln, doch das habe ich meiner Brieffreundin nicht geschrieben: Unbedingte Nestsuche-Sucht bis in Beziehungen, die das eigene Wohlbefinden schädigen, ist für mich typisch weiblich. (Aber von Frauen kenne ich sie in meiner Lebenswirklichkeit gar nicht so oft als vielmehr von etlichen Schwulen.)

Auf keinen Fall alleine bleiben. Alleine ist der Tod. Äh ja. Und zwar fast für jeden, konnte ich erleben. Auch bei denen, die vorher fast noch nie alleine gewesen waren.

Als ich in Heidelberg auf Station lag, wo es um die Frage ging, ob man sich auf die Suche nach einem Spenderherz für mich machen müsste, dachte ich: „I've been everywhere.“ Ein Lied von Tom Petty, das Johnny Cash mit seinen American Recordings aufnahm. In meinem Fall irgendwann mal praktisch in jeder Ortschaft zwischen Würzburg, Aschaffenburg, Kaiserslautern, Karlsruhe und Stuttgart. Ich rief mir Ansichten und Blicke ins Gedächtnis zurück. Mich tröstete, dass ich wenigstens ein einziges Mal überall gewesen war, was immer mir nun auch bevorstand.

Was ich in der Kardiologie dagegen nicht rekapitulierte, waren die sexuellen Begegnungen, die mir zugefallen waren. Napoleon Seyfarth hat das in seinem, heute vergessenen, Buch „Schweine müssen nackt sein“ getan. Den und den und ihn sogar auch habe ich mal abgekriegt! Das und das haben wir damals getrieben, Schweine, die wir waren. So sterbe ich (Seyfarth an Aids), doch das war's wert. Ich dagegen sprang, an mein Bett gefesselt, von Ortschaft zu Ortschaft: Maintal, Rheintal, Kraichgau, Odenwald, Haardtgebirge.

Nur kurz zwar, aber überall war ich gewesen. Immer war ich fremd gekommen und als Fremder wieder gegangen. Ohne Führerschein war mir gelungen, in diese vielen Orte zu gelangen, von denen ich mir nicht vorstellen kann, dass außer mir ein einziger Autofahrer sie mit seinem fahrbaren Untersatz im Laufe der letzten 30 Jahre auch gesehen hat.

Allerdings handelte es sich um mehr oder weniger unbedeutende Orte. Doch weshalb ist irgendein Ort in unserem Leben bedeutender als die vielen anderen, ist ein Tag wichtiger als so viele? Das Leben besteht aus 28000 völlig unbedeutenden Tagen. Nur ganz selten hat es uns zu den absoluten Momenten des Glücks und zu den bedeutendsten Stätten geführt. Tatsächlich sind wir dort dann, im Gegensatz zu mir, nicht allein gewesen. Und einige der besten Tage und Plätze haben wir in der Zwischenzeit tatsächlich wieder vergessen, schließlich sind sie lange her und kommen nicht mehr zurück.

Um mit öffentlichen Verkehrsmitteln überhaupt so weit raus und innerhalb von 20 Stunden zurückzukommen, denn die Hotelübernachtung hätte ich nicht zahlen können, musste ich meine Exkursionen sorgfältig durchplanen. Oft überstiegen die Fahrtzeiten in der Summe die Dauer meines Aufenthalts am Zielort beträchtlich. Unterwegs pflegte ich zu lesen und Hörbücher zu hören. Mir ging auf, dass es sich bei all den Reisen vielleicht nur um Vorwände handelte, meiner winzigen Wohnung und dem sich ständig wiederholenden Tagesablauf zu entwischen. Ich brauchte nur meinen Kopf zu heben, um durchs Fenster was zu sehen, was ich vielleicht nie wieder sehen würde, jedenfalls nicht auf der Rückfahrt, die erst in der Nacht stattfinden würde.

Manchmal dachte ich über die anderen Alleinstehenden nach, von denen es zu allen Zeiten in unserer Wohnanlage immer mehrere gab. Nach allem, was ich von ihnen wusste, taten sie wirklich Tag für Tag mehr oder weniger dasselbe: sorgfältig einkaufen, kochen und essen. Den Hund ausführen. Fernsehen. Stundenlang telefonieren. Das wahre Glück schien nur selten zu Gast zu sein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.08.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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