Carola Kickers

Die letzte Bühne

Die letzte Bühne

 

Es war schon spät. Der Barkeeper spülte gerade die letzten Gläser und versorgte ein paar angetrunkene Nachzügler, die sich am Tresen festhielten und dem sich ständig leerenden Inhalt ihrer Gläser hinterher schauten.

Die bunten Neonleuchten hinter der Bar und die Windlichter auf den einzelnen Tischen versteckten gnädig den Staub, den abgewetzten Boden und das schäbige Mobiliar des Lokals, das auch schon bessere Zeiten gesehen haben musste.

Erst auf den zweiten Blick bemerkte man die kleine Bühne. Das indirekte Licht sorgte dafür, dass die schon dünn gewordenen Samtvorhänge an beiden Seiten des Podiums noch mal im alten Glanz erstrahlten und es ließ den abgelaufenen Boden glänzen, um die Erinnerung an ruhmreiche Zeiten zu wecken, so, wie das übertriebene Make-Up einer großen Diva. Auch die vergilbten und teils eingerissenen Plakate an den Wänden der Bar zeugten von einer bewegten Vergangenheit. Sie zeugten die mehr oder weniger bekannten Größen des Showgeschäfts, die einmal in diesem Lokal aufgetreten waren.

 

Im Fokus eines einzelnen Scheinwerfers stand ein Barhocker. Darauf saß ein alter, farbiger Gitarrist, der liebevoll sein Instrument im Arm hielt. Eine zusammengekauerte Gestalt, deren Hände den Saiten eine alte Bluesballade entlockten, die wehmütig durch den Raum schwebte. Kaum einer der Gäste kannte den Namen des alten Musikers, der fast jeden Abend hier spielte, selbst der Barkeeper nannte ihn nur Phil. Sein wahres Alter wusste niemand.

Aber Phil selbst erinnerte sich – an seine Band, die Tourbusse, die vielen Auftritte und die großen Namen, mit denen er auf der Bühne gestanden hatte. Damals war er noch jung und voller Hoffnungen und Träume gewesen. Er erinnerte sich an die Freunde, die er während dieser großen Zeit hatte, und die nach und nach wieder aus seinem Leben verschwunden waren, als sein Stern im Sinken begriffen war. Und er erinnerte sich an die jubelnden Zuschauer und die vielen Partys.  Oh ja, er vermisste den Applaus, und wie er ihn vermisste.

 

Nach dem so genanten „großen Durchbruch“, dem Plattenvertrag mit einer großen Firma in den siebziger Jahren, den Phil mit Blut und Tränen unterschrieb, hielt seine Frau schon bald sein unstetes Leben und den ganzen Presserummel nicht mehr aus und verließ ihn. Er war oft monatelang nicht nach Hause gekommen. Die Scheidung war hässlich und die Journalisten ließen lange keine Ruhe aufkommen. Zuguterletzt hatte seine Frau das Land verlassen, einen anderen Namen angenommen und irgendwann wieder geheiratet. Sein damals ungeborenes Kind hatte er nie zu Gesicht bekommen. Erst viele Jahre später, auf einem Zeitungsfoto, entdeckte er seine Tochter. Die damals Siebzehnjährige hatte offenbar sein Talent geerbt und war Sängerin in einer Rockband, die gerade einen Wettbewerb gewonnen hatte. Dieses Foto hatte er ausgeschnitten und in seine Brieftasche gesteckt. Dort befand es sich heute noch, auch wenn kaum noch etwas darauf zu erkennen war. Phil hatte es nie gewagt, Kontakt zu seiner Tochter aufzunehmen. Manchmal schämte er sich dafür.

 

Damals hatte ihn die Familie nicht allzu sehr interessiert, die Plattenfirma brachte einen Hit nach dem anderen heraus und Phil verdiente Millionen. Dabei war er kaum zum Nachdenken gekommen. Er merkte nicht einmal, dass „irgendwas“ falsch lief.  Die Freude an der Musik aus der Anfangszeit der Band wich dem Erfolgsdruck. Tourneen durch Europa, Asien und die USA folgten. Das Leben drehte sich immer schneller und die Frauen an seiner Seite wechselten genauso oft. Ihre Namen und Gesichter hatte er längst vergessen.

 

Mit neuen Musikrichtungen verblasste sein Erfolg langsam, neue Künstler wurden von der Plattenindustrie nach oben gespült. Das Internet brachte die Musik in die kleinsten Winkel der Erde. Die Plattenläden verschwanden nach und nach und immer weniger Leute konnten sich die teuren Eintrittskarten für Konzerte leisten.  

 

Für Phil selbst kam das Ende der Karriere erschreckend schnell, und zwar durch einen Autounfall nach einer Aftershow-Party. Leicht alkoholisiert war er mit seinem Wagen in einer Kurve von der nassen Straße abgekommen und hatte sich überschlagen. Seine Beine waren eingeklemmt worden und die Feuerwehr hatte ihn aus dem Wrack im Straßengraben herausschneiden müssen. Wochenlang hatte Phil damals im Krankenhaus gelegen. Anfangs kamen noch säckeweise Post und Genesungswünsche. Die Zeitungen waren voll von seinen Fotos und einige Reporter waren nur schwer davon abzuhalten, in sein Zimmer zu stürmen. Doch schnell wurde es ruhiger, andere Schlagzeilen füllten die Musikpresse. Auch die Post wurde weniger. Phil umfing schließlich eine seltsame Stille in seinem Krankenzimmer, nur unterbrochen von gelegentlichen Besuchen der Ärzte und Krankenschwestern.

Es war die Zeit des großen Nachdenkens für den großen Musiker: über sein Leben, seine Karriere. Ein Bilanzziehen von Gewinnen und Verlusten.

Die vielen Operationen und Behandlungen verschlangen die Ersparnisse auf seinem Konto. Trotz der positiven Diagnose nach der letzten Operation stand fest, dass er immer etwas hinken würde. Mit diesem Makel würde er höchstens noch ein Engagement als Studiomusiker  bei den großen Stars bekommen, zu sehr war diese Welt auf Vollkommenheit und Perfektion geprägt.

 

Es dauerte nicht lange, bis die Bank auch sein Haus versteigerte. Die Freunde aus den alten Zeiten ließen sich nicht mehr blicken. Seine Anrufe wurden unter fadenscheinigen Ausreden abgewimmelt, oder man nahm gar nicht erst den Hörer ab. Alles, was Phil noch blieb, als er das Krankenhaus verließ, waren seine Kleidung und seine alte Gitarre. Natürlich hatte er schon einmal daran gedacht, diese durch eine Anzeige bei musik-news.at zu verkaufen, aber irgendetwas hatte ihn zurückgehalten.

Trotzdem fühlte er an diesem Tag keine Bitterkeit in sich, nur eine seltsame Leere. Doch irgendwo, ganz tief in seinem Herzen, tauchte eine leise Melodie auf.

 

Zunächst begann Phil auf der Straße zu spielen, die alten Songs, die Jeder kannte. Das bisschen Geld reichte gerade mal für eine Mahlzeit. Nachts schlief er in den Obdachlosenheimen. Oft schrieb er vor dem Einschlafen auf kleinen Zetteln Texte und Noten auf. Neue Melodien wurden so geboren, die aber keiner hörte, außer Phil selbst. Wenn sie fertig waren, spielte er sie irgendwo auf der Straße. Hin und wieder kamen dann andere Musiker hinzu, und es war fast so, wie in alten Zeiten. Dann schlich sich ein Lächeln auf Phils Gesicht und seine Augen begannen, wieder zu leuchten. Die Freude an der Musik lebte wieder auf, und die Passanten blieben stehen, lachten und klatschten. Im Laufe der Jahre trug Phil seine neue Art der Musik in viele Städte und trotz des harten Lebens auf der Straße war eine Ruhe und Gelassenheit in ihm eingekehrt – eine stille Zufriedenheit, die sich in seinen Melodien widerspiegelte.

Es war ein glücklicher Zufall, dass einer der anderen Straßenmusiker Phil hörte und ihm die Adresse der Bar „New Orleans“ gab, wo ab und zu einige Live-Musiker auftraten.

Seit einigen Jahren spielte Phil jetzt in dieser Bar, die - wie er - von den großen Zeiten träumte. Jeden Abend saß er dort auf seinem Barhocker und spielte altbekannte und neue Melodien. Wenn er gut drauf war, sogar stundenlang. Für das Publikum gehörte Phil fast schon zum Inventar, und auch Phil nahm das Publikum kaum noch war. Hauptsache, er hatte seine Gitarre und die Musik, die von Kindheit an in ihm gewesen war, und für die er einen so hohen Preis bezahlt hatte. Sein Talent, das ihm letzten Endes doch kein Plattenboss abkaufen konnte, war ihm geblieben.

Einmal hatte ihm ein Musikagent sogar schon eine Menge Geld für einen seiner neuen Songs geboten, doch er hatte nur still in sich hinein gelächelt und den Kopf geschüttelt.

 

Der Barkeeper stellte gerade die Stühle hoch, als die letzten Töne verklangen. Mühsam kletterte Phil von seinem Bühnenhocker, packte seine Gitarre ein und griff nach seiner Kappe, die an einem Haken neben der Türe hing. Grüßend hob er die Hand und verließ das Lokal.

Frische, kühle Nachtluft schlug ihm entgegen und Phil klappte fröstelnd den Kragen hoch. Es war Ende Oktober, und die Luft roch würzig wie alter Wein, schon mit einem Hauch des Abschieds. Ein kurzer Regenschauer hatte dem Asphalt einen glänzenden Anstrich verliehen wie Phils Bühne, und die letzten Neonlichter spiegelten sich in den Pfützen.

Phil nahm einen tiefen Atemzug. Seine unregelmäßigen Schritte verhallten langsam, als er mit seiner Gitarre auf dem Rücken die Straße entlang ging. Die Nacht nahm ihn auf wie einen Freund.

* * *

 

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