Heinz-Walter Hoetter

Sieben "Fantasy" Kurzgeschichten

"Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung."

Eugène Ionesco


 

***


 

1. Albion, der Alchemist


 

Der Wind strich sanft über die wogenden Ähren draußen in den weiten Feldern und kräuselte fast lautlos die silbrige Wasseroberfläche des nahe gelegenen Flusses, der sich träge durch die dunkle Landschaft schlängelte.

 

In weiter Ferne ragten die hohen Türme der wuchtigen Stadtmauern und ein Meer von Dächern, die nur vom hellen Mondlicht übergossen wurden, in einen nachtschwarzen, Sternen übersäten Himmel hinein.

 

Wie überall, so herrschte auch hier vor der Stadt stille Einsamkeit.

 

Eine feierliche Ruhe schwebte empor zu Albion, dem Alchemisten, die tief in sein Herz drang und ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte.

 

Frei und glücklich fühlte er sich in dieser Nacht, wie schon seit langem nicht mehr. In wundervoller Klarheit nahm er seine Welt um sich herum gewahr, die er still und hingebungsvoll beobachtete.

 

Und doch schien sie ihm so unendlich fremd, ja schier unbegreiflich zu sein. Lag es an seinem gewagten Vorhaben, das er jetzt endlich und unwiderruflich verwirklichen wollte?

 

Seine Gedanken wanderten plötzlich unruhig hin und her.

 

Offenbarten sich die Wunder des Universums für ihn nur in den Laboratorien, in den Dämpfen brodelnder Mixturen oder beim Gezische siedender Elixiere?

 

Oder gab es da noch was anderes?

 

Er wollte es unbedingt heraus bekommen.

 

War nicht vielleicht der Wunder allergrößtes jene demütige Ehrfurcht, die von der schlummernden Natur in solch heiligen Augenblicken dem wagemutigen Versucher von irgendwoher auf geheimnisvolle Art und Weise zugetragen wurde, um ihn von seinem frevelhaften Tun abzubringen?

 

Und weiter fragte sich der Alchemist, ob die planvolle, harmonische Schönheit der Natur – der sanfte Schwung der fernen Hügelketten am Horizont, zu denen er gerade andächtig hinüberschaute, die spiegelnde Oberfläche des träge dahin fließenden Wassers, das klare, verzaubernde Licht des Mondes hoch über dem Fluss, welches sich wie ein Mantel des Unwirklichen über die weite Landschaft ausbreitete, ja musste das nicht in seiner Gesamtheit für alle Zeit ein unlösbares Rätsel für ihn bleiben, trotz seines scharfen Verstandes und seines alles überragenden Wissens? – Und gebar nicht jedes Rätsels mühevolle Lösung ein noch schwerwiegenderes, so dass die gefundenen Lösungen im Grunde genommen nie ein Ende nahmen? Was würde ihn erwarten, wenn sein bevorstehendes Experiment wirklich gelingen sollte?

 

Ja was?

 

Albions Gefühle schienen in einen tiefen Abgrund zu fallen.

 

Wenn er schon wusste, wie sich die Gestirne im All bewegten, wer erklärte ihm jedoch schlüssig den Ursprung der Kraft, die sie durchs Universum treiben? Wer kannte die Ursache dafür, warum sie nach ganz bestimmten Gesetzen in vorgezeichneten, unveränderlichen Bahnen liefen?

 

Ja wer?

 

Tief in Gedanken versunken machte sich Albion wieder auf den Weg zurück in sein Labor, wo das von ihm zusammen gebraute Elixier schon vor Tagen seiner Vollendung in großen bauchigen Gläsern entgegen gereift war.

 

Die schäbige alte Kutte, die ihm schlaff am Körper runter hing, schleifte über den schmutzigen Erdboden und erzeugte dabei ein seltsam kratzendes Geräusch. Sein Gesicht war fahl, die Wangen eingefallen, so dass die Backenknochen weit heraussprangen. Seit Tagen hatte er schon kein richtiges Essen mehr zu sich genommen und wie von dunklen Mächten innerlich gejagt, strebte er einem fernen Ziel entgegen, von dem er nicht einmal wusste, wo es lag.

 

In seinem Laboratorium angekommen, schloss er sorgfältig die schwere Eichentür hinter sich zu, ging hinüber zur bereit stehenden Retorte und trank ohne lange zu zögern die rötlich schäumende Flüssigkeit darin bis zur Neige aus.

 

Nur wenige Minuten später.

 

Schwer und schwerer ging Albions Atem. Auf seiner bleichen Stirn perlte der kalte Schweiß, die trockenen, halbgeöffneten Lippen zuckten…, sein Blick hing noch immer an dem Glas, das jedoch plötzlich seinen matten Händen entglitt und laut krachend auf dem Fußboden in tausend Stücke zerbrach.

 

Doch dann tat sich etwas.

 

Sein bebender Körper erstrahlte auf einmal in einem wundersamen Licht, ganz überirdisch klar erfüllte es den Raum mit einem milden, bläulichen Schein, der den Alchemisten immer schneller kreisend wie ein rasender Wirbelwind erfasste.

 

Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er plötzlich verschwunden.

 

Zurück blieb sein stilles Labor, wo Albion fast sein ganzes Leben verbracht hatte.

 

***

 

Prinz Sidden von Gautama stocherte geistesabwesend mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen herum. Mit eingehender Sorgfalt musterte er den weiten Nachthimmel, der sich über ihn ausbreitete. Rechts erkannte er eine Spirale silbernen Nebels. Sein Licht verblasste neben dem blauen, abgeplatteten Gestirn, das nahe über dem Zenit hing. Sein tiefblaues Licht strömte durch das transparente Rumpfsegment auf die künstlich angelegten Gärten des kaiserlichen Flaggschiffes „NOMUR“. Die weichen, beigefarbenen Sanddünen der Gärten erschienen wie gewellte Teppiche. Gelegentlich huschte eine dekorative Eidechse über den losen Sand, der an manchen Stellen von einer unbestimmten Anzahl grüner Riesenkakteen bedeckt wurde.

 

Prinz Sidden von Gautama räkelte sich genüsslich auf seinem weichen Plüschsofa. Mit gespielter Lässigkeit wandte er sich um und sah in das fahle Gesicht seines 1. kaiserlichen Wissenschaftlers Albion und fragte ihn nach dem Stand seines neuesten Projektes.

 

Hoheit, wir stehen kurz vor der Vollendung des Antimaterie-Konverters. Diese bahnbrechende Erfindung wird unsere Raumschiffe in die Lage versetzen, mit Überlichtgeschwindigkeit zu fliegen. Und das ist erst der Anfang, mein Gebieter. Zeitreisen werden möglich sein. Des Kaisers Machtgebiet wird sich über alle bestehenden Grenzen von Raum und Zeit hinweg ausdehnen. Der jetzt schon gewaltige Einfluss des Herrschergeschlechts der Gautamas wird nicht mehr aufzuhalten sein.“

 

Der Prinz lächelte geschmeichelt.

 

Ich bin darüber hoch erfreut, mein lieber Albion und weiß deine überragenden wissenschaftlichen Fähigkeiten zu schätzen. Auch mein Vater tut das. Aber bis heute hast du mir nicht verraten, woher du so plötzlich gekommen bist. Ich bin der Sohn des mächtigen Kaisers und habe es nicht so gerne, wenn man mir aus irgendwelchen Gründen die Wahrheit verschweigt oder ein Geheimnis vor unserer Herrscherfamilie verbirgt, das besonders mich als Thronfolger beunruhigen könnte. Außerdem gehörst du nicht zu unserer Rasse. Ich kann dir deshalb nicht in dem Umfange mein absolutes Vertrauen entgegen bringen, wie ich es mir von ganzem Herzen wünschen würde. Ich wollte dich eigentlich wegen deiner eisernen Verschwiegenheit schon vor Tagen deswegen köpfen lassen, aber du bist nun mal einer unserer fähigsten Wissenschaftler und im Augenblick einfach unersetzlich. Mein Eindruck ist der, dass du eine Gefahr für uns werden könntest, Albion. Deine Fähigkeiten scheinen grenzenlos zu sein. Doch denke daran, dass sich die wohlmeinenden Umstände irgendwann zu deinen Ungunsten verschieben könnten, mein Guter.“

 

Albion hustete etwas gekünstelt und griff sich instinktiv an den Hals.

 

Hoheit würden mich sicherlich für schwachsinnig erklären lassen, wenn ich die Wahrheit über meine Herkunft erzählte. Aber wenn Sie es wünschen, werde ich alles offenbaren.“

 

Nun denn, mein lieber Albion, beginne er endlich mit seiner Geschichte, ganz gleich wie phantastisch sie auch immer ausfallen mag. Und lüge mich bloß nicht an, denn meine Gedankenwächter beobachten dich genau. Sei also auf der Hut, mein 1. kaiserlicher Wissenschaftler.“

 

Ich verstehe, mein Gebieter. Also möge er mir jetzt aufmerksam zuhören….“

 

Nach einer kurzen Denkpause fing Albion damit an, seine Geschichte zu erzählen.

 

Ich war vor langer Zeit in einem anderen Leben Alchemist und entdeckte die Formel für ein geheimnisvolles Elixier. Nach Jahren harter Arbeit ging ich eines Tages spät in der Nacht nach draußen vor mein einsam gelegenes Haus, in dem mein Laboratorium untergebracht war. Es war die letzte Nacht in dieser alten Welt, denn ich hatte das Elixier fertig gestellt und wollte es an mir selbst ausprobieren. Noch einmal schaute ich mir deshalb alles ein letztes Mal an. Alles war so unwirklich ruhig, als ich einsam draußen in der fahlen Dunkelheit die Gegend durchstreifte. Dann ging ich in mein Laboratorium zurück und nahm den Wundertrank zu mir, der mich augenblicklich aus meiner Welt verschwinden ließ. Zu meiner großen Überraschung tauchte ich auf eurem Raumschiff „NOMUR“ wieder auf und wurde von dem kaiserlichen Wachpersonal sofort fest genommen. Als Sie, mein hochwohlgeborener Prinz Sidden von Gautama, von meinen außerordentlichen Fähigkeiten erfuhren, die ich auch unter Beweis stellen konnte, wurde ich alsbald zum 1. kaiserlichen Wissenschaftler befördert, was ich persönlich als eine überaus große Ehre für mich empfand. Meine Heimat, die Erde, liegt allerdings irgendwo da draußen in der Unendlichkeit des Universums. Wie ich dahin zurück kommen soll, das weiß ich nicht, denn mir fehlen die entsprechenden Koordinaten dazu. Das ist alles, mein Prinz."

 

Plötzlich riefen die Gedankenwächter wie im Chor mit lauter Stimme: „Er lügt, Prinz Sidden von Gautama. Er kennt die Koordinaten genau und weiß, wo die Erde liegt. Wir haben seine Gedanken lesen können. Der 1. kaiserliche Wissenschaftler hat das Herrschergeschlecht der Gautamas belogen. Darauf steht die Todesstrafe.“

 

Albion der Alchemist zögerte jetzt nicht lange und griff im Beisein des völlig verblüfften Prinzen in seine rechte Brusttasche, holte ein kleines verschlossenes Glas mit einer rötlichen Flüssigkeit aus ihr hervor, öffnete den Verschlusskorken und trank es mit einem einzigen tiefen Schluck leer.

 

Noch im gleichen Augenblick wurde der Alchemist von einem bläulichen Schein umhüllt, der seinen Körper immer schneller kreisend wie ein tobender Wirbelwind erfasste, bis er schließlich ganz darin verschwunden war. Die Waffen der kaiserlichen Soldaten prallten von dem Lichtwirbel ab, wie von einer unsichtbaren Betonwand. Sie zeigten nicht die geringste Wirkung.

 

Zurück blieb nichts als Leere an dem Ort, wo der Alchemist noch kurz vorher seine Geschichte erzählt hatte.

 

***

 

Der Wind strich sanft über die wogenden Ähren draußen in den weiten Feldern und kräuselte fast lautlos die silbrige Wasseroberfläche des nahe gelegenen Flusses, der sich träge durch die dunkle Landschaft schlängelte.

 

In weiter Ferne ragten die hohen Türme der wuchtigen Stadtmauern und ein Meer von Dächern, die nur vom hellen Mondlicht übergossen wurden, in einen nachtschwarzen, Sternen übersäten Himmel hinein.

 

Wie überall, so herrschte auch hier vor der Stadt stille Einsamkeit.

 

Eine feierliche Ruhe schwebte empor zu Albion, dem Alchemisten, die tief in sein Herz drang und ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte.

 

Frei und glücklich fühlte er sich in dieser Nacht, wie schon seit langem nicht mehr. In wundervoller Klarheit nahm er seine Welt um sich herum gewahr, die er still und hingebungsvoll beobachtete.

 

Und doch schien sie ihm so unendlich fremd, ja schier unbegreiflich zu sein. Lag es vielleicht daran, dass er eine andere Welt besucht hatte, in der er der 1. kaiserliche Wissenschaftler gewesen war und nur knapp einer Hinrichtung entkommen konnte, wenn er sein Elixier nicht rechtzeitig getrunken hätte?

 

Tief in Gedanken versunken machte sich Albion wieder auf den Weg zurück in sein Labor. Dort angekommen, öffnete er die schwere Eichtür, trat in sein vertrautes Laboratorium, ging unverzüglich hinüber zur bereit stehenden Retorte und trank ohne lange zu zögern die rötlich schäumende Flüssigkeit darin bis zur Neige aus.

 

Dann, von einer Sekunde auf die andere, war er verschwunden.

 

Wohin es den Alchemisten Albion diesmal verschlagen hat, das kann ich euch schon sagen. Er tauchte nämlich ganz plötzlich bei mir auf, erzählte mir schließlich noch diese kleine Geschichte, bevor er sich wieder von mir verabschiedete und mit unbekanntem Ziel weiterreiste, vielleicht wieder zurück in seine Welt oder in eine andere irgendwo da draußen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit.

 

 

ENDE

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

 

2. Begegnung mit Freya


 

Arthur Maier erwachte ganz plötzlich. Er fühlte sich wunderbar ausgeruht und voller Energie. Es kam ihm so vor, als hätte er viele Jahre seines Lebens im tiefen Schlaf verbracht.

Ein Diener brachte ihm das Frühstück, das er mit großem Appetit aß. Als er damit fertig war, zog er sich frische Kleidung an und freute sich darüber, dass alles gut passte.

 

Der kräftig aussehende junge Mann lauschte. Anscheinend war Freya nicht im Haus, aber dafür hörte er ihre Stimme draußen im Hof. Er verhielt sich ruhig, lauschte erneut, um sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Sie sprach offenbar mit jemand. Aber mit wem? Leider konnte er so gut wie nichts verstehen, denn ihre Stimme wurde immer wieder vom Rauschen des nahen Meeres überlagert.

 

Nach einer Weile trat Arthur vor die Tür, schaute sich nach allen Seiten um, erklomm dann etwas später eine sanfte Düne ganz in der Nähe und ließ seinen Blick über die gekräuselte See schweifen. Das weite Meer sah harmlos aus. Ein sanfter Wind strich über die Wasseroberfläche und die hochstehende Sonne glitzerte in den unzähligen Wellen, die wie kleine Silberschiffchen aussahen. Irgendwie erschien ihm der Horizont weiter in die Ferne gerückt zu sein. Oder täuschte er sich nur? Wohin er auch schaute, es ragte nichts aus diesen unendlich erscheinenden Wassermassen heraus, kein Strand, keine Küste und auch keine Insel.

 

Tief in Gedanken versunken stand der junge Mann so da. Auf einmal vernahm er Schritte hinter sich. Arthur erschrak fast, als Freya plötzlich wie aus dem Nichts neben ihm auftauchte.

 

Ohne ein Wort zu sagen deutete sie mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung der silbrig funkelnden See.

 

Findest du sie nicht auch wunderschön?“ fragte sie mit sanfter Stimme und fuhr mit verklärtem Blick fort, „die See ändert ständig ihre Gestalt. Morgens erscheint sie anders als am Mittag oder wenn es auf den Abend zugeht, wenn die Glut der Sonne langsam am Horizont versinkt."

 

Arthur kniff die Augen zu schmalen Sehschlitzen zusammen und starrte über das weite Wasser.

 

Kannst du mir sagen auf welcher Insel sich das Tor zu meiner Welt befindet, Freya?“

 

Die schöne junge Frau mit dem schneeweißen Gesicht und den langen schwarzen Haaren, die ihr bis zu den Hüften herunter hangen, schüttelte den Kopf. Dann schaute sie hinüber zu dem gut gebauten Mann neben ihr und betrachtete ihn aufmerksam von der Seite. Sie wusste, dass er von weit her gekommen war, aus einer Welt, die außerhalb der Ewigkeit lag, in der sie zu Hause war. Er war ein Sterblicher, sie dagegen unsterblich. Sie konnte seine Gedanken lesen, die, so schnell wie sie kamen, auch genauso schnell wieder verschwanden. Es war schwer, ihnen zu folgen. Doch jetzt spürte sie eine starke Sehnsucht tief in seinem Innern, die immer stärker wurde. Er wollte diesen Ort auf einmal so schnell wie möglich wieder verlassen. Nicht nur die Unrast trieb ihn an, sondern ein unbestimmter Drang, dem alles Sterbliche und Lebendige von Natur aus unterworfen war. Er sehnte sich in seine Welt zurück und Freya konnte nichts dagegen tun. Die Liebe zu Arthur Maier hatte anfangs alle Bedenken in den Hintergrund treten lassen. Sie genoss seine unverfälschte animalische Liebe zu ihr. Sie wollte ihn deshalb nicht einfach so gehen lassen, sie, die eine Göttin war und über ein riesiges Reich herrschte.

 

Sie muss irgendwo da draußen sein. Weißt du etwas darüber, wo sie liegt, Freya?“

 

Ich? Nein. Wie oft habe ich dir das denn schon gesagt, mein Liebster“, log die schöne Frau – wie so oft zuvor.

 

Wie kann das sein? Du wohnst hier in einem wunderschönen Palast am Rande des Meeres, verfügst über unzählige Dienerinnen und Diener, verkehrst mit Leuten, die hinausfahren auf die See oder von dort kommen..., und du willst nichts davon wissen, auf welcher Insel das Tor zu meiner Welt sein soll? Das nehme ich dir nicht ab, Freya.“

 

Ach Arthur“, sagte die schöne Frau ernst, „bleib bei mir, geh’ nicht weg von mir. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihn dabei an. Dann sprach sie weiter.

 

Für sterbliche Menschen wie dich ist der Weg über das Meer viel zu weit. Überall lauern Gefahren. Es gibt die Strudel des Todes, die alles verschlingen, was ihnen zu nahe kommt. Sie tauchen an jeder x-beliebigen Stelle ganz plötzlich auf und verschwinden dann wieder. Was willst du tun, wenn du in einen dieser tödlichen Strudel hineingezogen wirst? Niemand könnte dich dann noch retten. Nicht einmal ich. Du wärst hoffnungslos verloren, Arthur. Das willst du doch nicht – oder?“

 

Ich fürchte mich nicht vor dem Meer und den so genannten Todesstrudeln. Ich muss zurück in meine Welt. Koste es, was es wolle. Sind denn nicht schon andere von dort gekommen und wieder dahin zurück gekehrt, Freya?“

 

Gewiss. Aber vergiss nicht, dass es ihnen so bestimmt war. Die mächtigen Götter wollten es so. Nun, bei dir sehe ich, dass du nicht aufgeben willst. Dein Wille ist sehr stark. Er wird dich bestimmt wieder dorthin zurück bringen, was du als deine Heimat betrachtest. Für kurze Zeit nur konnte ich dir Frieden, Geborgenheit und Liebe schenken. Ich sehe jetzt ein, dass es keinen Sinn mehr hat, dich länger bei mir zu behalten. Deshalb werde ich dir einen Rat sagen, den besten, den ich dir in deiner Situation geben kann.“

 

Freya wurde traurig und hielt ein wenig inne, bevor sie weitersprach.

 

Gehe den Strand in östlicher Richtung entlang, bis du an die grünen Klippen kommst. Dort wirst du einen Leuchtturm vorfinden, dessen Wärter ein gewisser Heimdall ist. Suche ihn auf und bitte ihn darum, dass er dich zu dieser Insel führt, auf der sich das Tor zu deiner Welt befindet. Rede nicht allzu viel in seiner Nähe und sprich besonders leise mit ihm. Er hat empfindliche Ohren, die sogar das Gras wachsen hören können. Vielleicht kannst du sein Herz erweichen, und er bringt dich von hier weg.“

 

Hab’ vielen Dank Freya“, sagte Arthur und umarmte die schöne Frau ganz überraschend, „ich werde dich nie vergessen und mich immer an deine wunderschöne Liebe erinnern, die mein kaltes Herz auf wunderbare Weise erwärmte und mir ein neues Leben geschenkt hat. Ich werde die Erinnerungen an dich wie Gold aufbewahren und es pflegen und putzen, sodass es immerfort strahlen und glänzen wird.“

 

Er küsste Freya ein letztes Mal.

 

Dann löste sich Arthur Maier schnell von der schönen Göttin und wandte sich zum Gehen. Eigentlich wäre er gerne bei ihr geblieben, hätte noch so viele Fragen gehabt, aber jetzt, wo er den Weg zurück nach Hause kannte, musste er Abschied nehmen. Dann drehte er sich endgültig um und ging den Strand am wogenden Meer entlang. Freya sah ihm noch lange nach. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie war eine Göttin und hatte sich in einen Mann verliebt, der mit der Sterblichkeit behaftet war.

 

***

 

Arthur lief mit weit ausholenden Schritten am Ufer des Meeres dahin. Schon bald hatte er die Klippen erreicht auf denen ein großer Leuchtturm stand. Unten in der weiten Bucht, direkt am Strand, ankerte ein schlankes Segelschiff. Dann rief er nach Heimdall, der gerade dabei war, ein Fischernetz zu reparieren. Als dieser den jungen Mann sah, ließ er das Netz los und rief mit lauter Stimme, er solle doch zu ihm herunter kommen. Arthur verstand und stieg den schmalen Pfad zum Meer hinab. Wenig später stand er vor Heimdall, der ein altersloses Gesicht hatte.

 

Wer bist du?“ fragte dieser gelassen, als der junge Mann bei ihm schweißnass angekommen war.

 

Ich bin Arthur Maier und suche die Insel mit dem Tor zu meiner Welt, die Erde heißt."

 

So, so. Wie ich sehe, scheint dich das Leben wieder zurück gewonnen zu haben. Nun ja, ich bin keine Mann der vielen Worte. Meine Ohren schmerzen mir, wenn ich laute Geräusche höre. Lass uns am besten jetzt gleich aufbrechen. Komm mit und steig’ ins Boot. Es geht sofort los.“

 

Arthur tat, was Heimdall von ihm forderte. Er hielt sich zurück und sprach fast kein Wort mit ihm. Dann segelten sie hinaus aufs offene Meer.

 

Einen ganzen Tag lang trieb das Segelschiff unermüdlich dahin. Der Himmel über der See war mit düsteren Wolken behangen. Nur sporadisch rissen die Wolken hier und da auf und ließen die Strahlen der Sonne hindurch.

 

Schon hatte sich Arthur an das Tosen des Meeres gewöhnt, ja das Brausen, Gurgeln und Rauschen der Wellen schon fast nicht mehr wahrgenommen, als mit einem Mal Ruhe einkehrte, dass man sein eigenes Herz klopfen hören konnte. Nebel lag über dem Wasser, und eine Weile später konnte man schemenhaft, ganz undeutlich nur, die Konturen einer Küste erkennen. Der junge Mann war erleichtert. Offenbar hatten sie die Insel mit dem Tor, das ihn in seine Welt bringen sollte, erreicht.

 

Heimdall hatte mittlerweile die Segel eingerollt und sah Arthur hintergründig lächelnd aus seinen blauen Augen an.

 

Jetzt“, sagte Heimdall, „hast du das Ziel deiner Bestimmung erreicht. Das Tor findest du oben auf der höchsten Erhebung der Insel. Gehe hindurch und im gleichen Moment wirst du wieder auf der Erde sein. Wenn du die Insel betreten hast, werde ich sofort umkehren und dich verlassen. Dann bist du ganz auf dich allein gestellt. Ich wünsche dir noch viel Glück, Arthur Maier.“

 

Ich danke dir für alles, Heimdall. Ich bin froh, dass ich mit deiner Hilfe die Insel erreichen konnte. Doch will ich mich beeilen und mit Worten sparen. Also, leb’ wohl mein guter Freund!“

 

Als der junge Mann vom Boot auf die Insel sprang und sich noch einmal kurz umdrehte, war Heimdall mit dem Segelschiff bereits verschwunden. Dann machte sich Arthur auf den Weg zum Mittelpunkt der Insel. Bald stand er vor dem leuchtenden Portal, das ihn zur Erde zurückbringen würde. Das Tor hatte die ganze Zeit für ihn offen gestanden. Erst als Arthur hindurch geschritten war, schloss es sich wieder geräuschlos. Ein letzter Gedanke ging ihm dabei durch den Kopf.

 

Das Schicksal des Menschen ist wie eine Kerze, die von unbekannter Hand entzündet wird. Ihr Licht leuchtet und flackert im Auf und Ab des Lebens, und doch kann es von einem plötzlichen Windstoß ausgeblasen werden. Wie gut, das es Mächte gibt, die es wieder entzünden können.“

 

***

 

Immer wieder fielen Arthur Maier die Augen zu. Er zwang sich, gegen die lähmende Müdigkeit anzukämpfen. Mühsam blickte er mit trübem Blick um sich. Alles war verschwommen – nur grauer Schleier und Licht.

 

Als er endlich besser sehen konnte, erkannte er drei Gestalten. Ein Mann und zwei Frauen anscheinend, die weiß gekleidet waren und einige Blätter in den Händen hielten.

 

Ich liege vermutlich in einem Bett“, sagte er mit leiser Stimme. Sein Kopf schmerzte. Er hörte nur ein seltsames Surren und, wie aus weiter Ferne, ein gleichmäßiges Piepsen. Der Mann und die beiden Frauen schienen mit irgendwelchen Dingen beschäftigt zu sein, die ihn betrafen.

 

Etwas schnürte seinen Hals zu, als er bemerkte, dass er seine Arme und Beine nicht bewegen konnte.

 

Arthur schloss wieder die Augen und schlief ein.

 

Irgendwann kam er zu sich. Wie lange hatte er geschlafen? Er fühlte sich wunderbar ausgeruht und voller Energie. Sein Kopf war jetzt wesentlich klarer und der Blick seiner Augen war nicht mehr getrübt.

 

Offensichtlich konnte er seine Glieder wieder bewegen. Langsam richtete er sich auf. Er versuchte es zumindest, was ihm aber nicht so richtig gelang. So weit er feststellen konnte, lag er allein im Halbdunkeln eines sauber aufgeräumten Zimmers. Er versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Was mochte vorgefallen sein? Vor seinem geistigen Augen sah er die Bilder eines Flugzeuges hoch am Himmel. Das war alles. Ihm fehlte das entscheidende Stück Erinnerung. Es schien ihm fast so, als hätte jemand sein Gedächtnis gelöscht. Wieder wurde er müde.

 

Gegen Morgen drangen die ersten zaghaften Lichtstrahlen ein, und Arthur wusste jetzt, als er um sich blickte, dass er in einem Krankenzimmer lag. Er trug ein weißes Hemd, sein rechter Arm war völlig eingegipst worden und die Oberschenkel der Beine hatte man mit weißem Verbandsmaterial umwickelt. Ansonsten schien er in Ordnung zu sein.

 

Er erinnerte sich noch immer nicht, was geschehen war. Unfähig, sich richtig zu konzentrieren, wollte er schon wieder die Augen zumachen und weiterschlafen, als plötzlich die Zimmertür aufging. Eine Krankenschwester trat ein.

 

Endlich scheint unser Patient ja richtig da zu sein. Na, wie geht’s Ihnen heute, Arthur? Ich darf Sie doch mit Ihrem Vornamen anreden, oder? Mein Name ist übrigens Freya Lopez. Aber sagen Sie einfach Freya zu mir. Ich hatte deutsche Großeltern, die vor dem 1. Weltkrieg nach Brasilien ausgewandert sind. Daher der Vorname. Wissen Sie, Freya war irgend so eine nordgermanische Göttin der Liebenden und der Fruchtbarkeit. Aber ich schweife ab. Entschuldigen Sie bitte. Ich bin übrigens ab heute für Sie zuständig. Ach so, wollen Sie denn nicht wissen, was mit Ihnen passiert ist?“

 

Freya Lopez grinste auf einmal.

 

Arthur hatte in der Tat das Bedürfnis, an die Frau in dem weißen Kittel viele Fragen zu stellen. Seine Stimme klang ziemlich mitgenommen, als er seinen Kopf zu ihr herum drehte und sagte: „Ich kann mich leider an nichts mehr erinnern. Sagen Sie mir, was geschehen ist, Schwester.“

 

Nun ja“, fing Freya Lopez an, „ich denke mal, dass Sie die Wahrheit schon vertragen werden.“

 

Sie zögerte etwas. Doch dann sprach sie weiter.

 

Sie saßen in einer Linienmaschine, die auf dem Flug von München nach Rio de Janeiro war. Die Maschine stürzte kurz vor der brasilianischen Küste brennend ins Meer. Sie konnten glücklicherweise gerettet werden, obwohl man Sie mehr tot als lebendig aus dem Wasser gezogen hat. Die meisten Passagiere kamen bei dem Unglück um. Nur neun von ihnen überlebten, darunter Sie. Immerhin, bis Rio haben Sie es ja doch noch geschafft. Sie liegen hier in einer Klinik ganz in der Nähe des Zentrums. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, können Sie sogar die Christus-Statue auf dem Corcovado sehen. Aber alles der Reihe nach. Ich werde jetzt erst mal das Essen holen. Ich hoffe, Sie können es allein und ohne meine Hilfe zu sich nehmen. Eine Hand haben Sie ja noch frei. Der Arzt hat mir gesagt, dass Sie die ganze Sache hier ohne Folgeschäden überstehen werden. Sie sind schon wieder auf dem Weg der Besserung. Tja, Sie sind ein richtiger Glückspilz, Arthur Maier, und ich liebe Glückspilze über alles.“

 

Als die Krankenschwester näher an sein Bett trat, blickte der junge Mann zum ersten Mal genau in ihr Gesicht. Es war das vollendete Gesicht einer überaus schönen Frau. Ihre nach oben zusammengebundenen langen schwarzen Haare lugten unter einer kleinen, schneeweißen Kopfhaube hervor. Sie lächelte ihn mit sinnlich geformten Lippen an und Arthur Maier hatte den seltsamen Verdacht, dass ihm das wunderschöne Gesicht und das betörende Lächeln dieser hinreißenden Frau irgendwie bekannt vorkamen.

 

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

3. Das dunkle Geheimnis des Schriftstellers Mark Hollester


 


 

"Wenn du zu den Menschen gehst, so verschließe deine Augen vor dem, was du dort an Elend und Leid antriffst. Schütze deinen Geist vor dem Anblick ihrer mörderischen Kriege, in denen sie sich gegenseitig abschlachten. Beachte nicht die Armut und den mannigfachen Tod, der überall und mitten unter ihnen ist.

Ihre Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Sie ist ein Schlachthaus. Vertraue deshalb nicht deinen Sinnen, die dir zu suggerieren versuchen, die Welt des Menschen sei gut.

Sie war es nie, sie ist es nicht und sie wird es auch nie sein.

 

Doch nimm diesen in Raum und Zeit verlorenen Lebewesen nicht den Glauben daran, dass ihre Welt die beste aller möglichen Welten ist. Sie würden sonst daran zugrunde gehen, wenn du ihnen diese Illusion nimmst.“

 

Mark Hollester

(Schriftsteller)


 

***

Eine magische Welt, jenseits all unserer Vorstellungen.

 

Die ersten sichtbaren Anzeichen, die auf die Nähe des geheimnisvollen Ortes Mysterium hinwiesen, waren diese seltsamen Warnsteine links und rechts am Gras bewachsenen Straßenrand. Wer sie lesen wollte, musste sie berühren.

 

Ich legte meine flache Hand auf den fein geschliffenen Stein und im gleichen Augenblick leuchteten die Hieroglyphensymbole auf, die ich mittlerweile zu lesen gelernt hatte.

 

Wohin führt dich dein Weg, unbekannter Reisender? Vielleicht nach Mysterium, hin zu jenem Ort, der weit ab der Hauptrouten liegt und nicht zur Außenwelt gehört? Wenn du ohne Schuld bist, dann gehe nicht weiter! Noch kannst du umkehren, Fremder! Überlege dir also gut, ob das, was du vorhast, auch das ist, was du wirklich willst. Wenn nicht, gehe einem anderen Ziel entgegen.“

 

Die Worte machten mich ein wenig nachdenklich. Dann sah ich zum Horizont hinüber.

 

In der Ferne erhoben sich die gewaltigen Traumtürme der uralten Stadt Mysterium, die so alt wie die Menschheit selbst war. Wehmut erfüllte mein einsames Herz für einen Augenblick, denn der Ruf der Magie ging von dieser geheimnisvollen Stätte aus, die weit draußen in der Einsamkeit lag. Und jene, die es schafften diesen Ort zu erreichen, wussten oft nicht, was sie wirklich dort erwartete. Viele gingen in den Straßen von Mysterium zugrunde oder kamen mit leeren Händen aus ihr wieder zurück, weil ihre Wünsche und Hoffnungen nicht in Erfüllung gegangen waren.

 

Ich nahm meine Hand von dem Warnstein und ging weiter. Am Straßenrand hockten einige Bettler, manche blind, andere wiederum verkrüppelt und einige lagen sogar im Sterben. Gierig greifende Hände wurden mir entgegengestreckt und flehende Stimmen baten entweder um Brot, Wasser oder Geld.

 

Ich blickte starr geradeaus. Ich hatte nichts dabei, was ich verschenken konnte. Alles, was ich besaß, war mein eigenes Leben, die Kleider auf meinem Körper und die Seele darin.

 

Der Weg führte mich an halb verfallenen Baracken vorbei. Überall türmte sich der Müll auf. Die Wände der Hütten waren aus rostigem Blech und stinkendem Lehm. Die weinenden Stimmen einiger Kinder drangen an mein Ohr, die mich aber nicht kümmerten. Warum auch? Ich konnte ihnen sowieso nicht helfen. Sie waren nichts weiter als vom Leben in den Tod geborenes Fleisch, ohne die geringste Aussicht auf Besserung ihres armseligen Daseins. Verfaulen würden sie in ihrem eigenen Dreck. Das war ihr unabwendbares Schicksal.

 

Außerdem war die Hitze um diese Zeit unerträglich. Ich wollte deshalb so schnell wie möglich die Stadt erreichen, die in ihren tiefen Häuserschluchten Schatten spendende Kühle versprach.

 

Für einen Augenblick blieb ich trotzdem stehen und legte den Kopf in den Nacken. Das Höllenfeuer senkte sich langsam dem Horizont entgegen. In zwei oder drei Stunden würde die nächtliche Dämmerung einsetzen, dachte ich. Ich wollte mich deshalb beeilen, denn es wäre besser, wenn ich die Außenbezirke von Mysterium noch vor der Dunkelheit erreichte.

 

Ich setzte mich wieder in Bewegung. Diesmal ein wenig schneller. Von allen Seiten musste ich die Hände der Bettler und Taschenspieler abwehren. Einige Musikanten in zerlumpten Kleidern spielten an einer Straßenkreuzung. Ihre dürren Finger glitten über die Saiten ihrer schlanken Instrumente. Einst hatte Sternenglanz sich in ihren Augen gespiegelt; jetzt waren ihre Blicke leer und trüb. Es waren herunter gekommene Individuen, die ohne jede Hoffnung dahin vegetierten. Nur der Tod bot ihnen den einzig möglichen Ausweg, sich ihres elendigen und würdelosen Daseins zu entledigen. Aber selbst dafür besaßen sie weder ausreichend Mut, noch die Kraft und den Willen dazu, sich selbst umzubringen.

 

Ich eilte weiter und erreichte bald den äußeren Rand der magischen Stadt Mysterium. Schon schimmerten mir die Lichter der Suggestivwerbung entgegen und die Umgebung wurde etwas freundlicher. Doch der Schein trog. Denn hinter den leuchtenden Fassaden der zahllosen Etablissements von Mysterium verbarg sich eine andere Form des Elends. Das Laster der Prostitution.

 

Das Gedränge auf den Gehsteigen nahm jetzt merklich zu, und auf den breiten Straßen glitten seltsam aussehende Fahrzeuge dahin. Flüchtig dreinblickende Augenpaare betrachteten mich aus gleichgültigen Gesichtern, die wie Schatten an mir vorbeieilten. Jede Gestalt für sich strebte in dieser Stadt einem eigenen Ziel entgegen, dachte ich so für mich und erinnerte mich gleichzeitig daran, dass das auch für mich galt.

 

Auf dem Bürgersteig der Straße waren mir einfach zu viele Leute. Ich wechselte deshalb in eine Seitengasse. Einige herunter gekommene Huren kauerten in schmutzigen Nischen und boten sich den vorbei gehenden Freiern an.

 

Na Süßer, willst du ein paar Stunden der sinnlichen Freude mit mir genießen?“ fragte mich eine Duosexuelle verführerisch und griff nach meinem Geschlecht. Ich schüttelte den Kopf und wehrte sie angeekelt ab. Dann eilte ich so schnell ich konnte weiter. Die Hure schickte mir ihre Schmähungen hinterher.

 

Ich versuchte mich neu zu orientieren und schaute mich um.

 

Schließlich bog ich in einen schmalen Seitenweg und erreichte das alte Haus des Magiers, der Shamanin hieß. Ich atmete erleichtert auf und ging eilendes Schrittes darauf zu. Eine verschmutzte Holztür sprang knarrend auf, als ich den Öffner betätigte. Dann trat ich ein. Im Innern des breiten Flures vor mir drang nur wenig Licht durch die verstaubten Fenster. Die kahlen Wände waren schief, der spröde Putz bröckelte in großen Fladen von den Wänden ab. Mit zitternden Armen und Beinen tastete ich mich die Stufen der ausgetretenen Treppe empor. Als ich fast oben angekommen war, blieb ich auf dem zweiten Absatz stehen und klopfte zaghaft an die Tür. Ich konnte leise Musik hören, die aber kurz darauf abgestellt wurde; schlurfende Schritte kamen näher. Ich kniff die Augen zusammen als die Tür langsam geöffnet wurde und helles Licht meine geröteten Augen blendete.

 

Aha, ich dachte schon, du würdest nicht mehr kommen, Hollester. Tritt ein!“ sagte der Magier Shamanin auffordernd zu mir und machte einen Schritt zur Seite.

Ich betrat durch einen schmalen Korridor vorsichtig den dahinter liegenden Raum, der nur von einigen Kerzen trübe ausgeleuchtet wurde. Dann warf der Magier mit einem kurzen Ruck die Tür hinter meinem Rücken ins Schloss und lächelte mir dabei entschuldigend zu. Mein Herz begann zu pochen. Ich hatte endlich mein Ziel erreicht.

 

Schließlich, ohne lange zu warten, sagte ich zu ihm: „Ich habe in meiner Welt das getan, was du mir aufgetragen hast, Magier Shamanin. Ich bin hier, um meinen Lohn abzuholen.“

 

Ich weiß“, gab er mir zur Antwort.

 

Dann hast du bereits alles vorbereitet?“

 

Meine geröteten Augen tränten wieder. Der Schmerz in meinem Kopf wurde nahezu unerträglich.

 

Was vorbereitet?“

 

Ich schaute den Magier fassungslos an, weil ich dachte er hätte mich nicht verstanden und griff mit der rechten Hand ungewollt an seine Schulter.

 

Er trat einen Schritt zurück und hob warnend den Zeigefinger.

 

Trotzdem ließ ich mich nicht beirren.

 

Du weißt verdammt noch mal genau, was ich meine. Ich brauche es..., jetzt gleich, hier und sofort. Ich habe getan, was du mir befohlen hast. Mehr als drei unschuldige Kinderseelen schickte ich zu dir, damit deine magische Kraft wachsen und mächtiger werden konnte. Für dich hab’ ich gemordet, Shamanin. Gib mir jetzt, was du mir versprochen hast!“

 

So, hab’ ich das?“

 

Der Magier Shamanin schaute mich mit einem sonderbaren Blick an und ließ sich in einen weinroten Sessel sinken.

 

Eigentlich bist du ein ganz mieser...“, kam es stockend aus mir heraus.

 

Ja? Nur weiter!“

 

Entschuldige bitte.“ Ich schluckte. „Ich habe es nicht so gemeint.“

 

Der Magier fingerte an seinem weiten Kragen herum. Dann sah er zu mir hoch.

 

Was habe ich dir versprochen?“ fragte er mich plötzlich.

 

Das...., das Elixier.“

 

Der Schmerz intensivierte sich. Ich krümmte mich zusammen, mein Kopf schien zu explodieren.

 

Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt bist du an der Reihe, Shamanin. Warum zögerst du?“

 

Der Magier erhob sich aus seinem tiefen Sessel und lächelte mich aus funkelnden Augen an.

 

Ich möchte nichts übereilen, mein Freund. In der Tat, du hast deinen Teil erfüllt und mir auch diesmal wieder drei neue unschuldige Seelen beschaffen können. Die vierte Seele ging leider verloren, weil du deine Arbeit stümperhaft ausgeführt hast. Nun, das tut aber nichts zur Sache. Es ist nur recht und billig, wenn ich dir das versprochene Elixier gebe, das deinen Geist in ungeahnte Sphären katapultieren wird, Mark Hollester. Aber wenn du mich das nächste Mal besuchen kommst, dann will ich, dass du mir bis dahin alle versprochenen Kinderseelen beschafft hast. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, mein Freund.“

 

Ich nickte ein paar Mal mit dem Kopf und zitterte plötzlich am ganzen Körper, als der Magier bedächtig zum Schrank schritt, eine breite Schublade öffnete und eine große Beutelflasche mit einer rötlichbraunen Flüssigkeit daraus hervor holte.

 

Weißt du, Geschichtenerzähler, irgendwie bist du mir sogar sympathisch. Ich kann dir auch sagen, warum. Ich bin schlichtweg davon beeindruckt, dass du deine Seele Stück für Stück gegen den Wunsch eintauschen möchtest, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Die meisten Menschen, die den Weg hier her zu mir finden, bieten mir ihre Seele für Geld, Karriere, Schönheit oder andere vergängliche Dinge an, die eigentlich nur von kurzer Dauer sind. Du aber möchtest ausgerechnet ein großer Schriftsteller werden. Dahinter steckt wohl der Wunsch nach Unsterblichkeit, wie ich denke. Hab’ ich recht damit, Hollester? Egal wie auch immer. Du hast dir viel vorgenommen. Die Zukunft wird zeigen, was du daraus machen wirst. Nun, an mir soll’s nicht liegen. Ich hoffe, das dir klar ist, dass dir mein Elixier nur dabei helfen kann, Geschichten und Romane zu erfinden. Der Erfolg ist damit noch lange nicht garantiert.“

 

Während der Magier Shamanin weiter redete und die bauchige Flasche vorsichtig öffnete, schmerzte mir die trockene Kehle wie aufgerissene Haut.

 

Dann holte er ein kleines Glas aus dem gegenüberliegenden Regal und goss es mit der rötlich braunen Flüssigkeit bis zum Rand voll.

 

Der Magier sah mich an, und in seinem Blick war etwas, das ich dort noch nie gesehen hatte. Mitleid vielleicht. Und ein wenig Zuneigung? Aber auch eine Portion Verachtung.

 

Dieses wundersame Elixier wird dein Wissen und deine Phantasie für die kommenden Jahre in unerreichte Höhen treiben. Nutze dein wachsendes Genie für deine großartigen Geschichten und Erzählungen. Wenn die Wirkung nachlässt, weißt du, was du zu tun hast. Unschuldige Kinderseelen lassen die Macht meiner Magie wachsen. Doch hüte dein Geheimnis vor den Menschen, sonst bringen sie dich zu Tode.“

 

Bitte“, stöhnte ich, „gib’ mir endlich das Elixier, Magier!“

 

Meine Stimme klang wie ein jämmerliches Betteln. Dann reichte mir Shamanin das Glas, das ich begierig bis zum letzten Tropfen austrank. Im gleichen Augenblick breitete sich Ruhe in mir aus, und meine Arme und Beine zitterten auf einmal nicht mehr. Langsam erwachten die kreativen Kräfte in mir. Ich spürte das Leben in seiner höchsten Form, und wie Körper, Geist und Seele in Harmonie miteinander zu einer Einheit verschmolzen.

 

Nachdem ich das leere Glas abgestellt hatte, führte mich der Magier stumm zur Tür hinaus. Kein Wort des Abschieds kam über seine Lippen. Ohne mich umzudrehen verließ ich das Haus wieder über die ausgetretene Treppe und den breiten Flur, durch den ich vorher gekommen war.

 

Draußen vor dem Haus erschrak ich zutiefst. Fast hätte ich einen Schock bekommen. Nicht nur ich, sondern die gesamte Umgebung um mich herum hatte sich total verändert.

 

Ich stand plötzlich in der gepflegten Eingangshalle eines großen Pariser Hotels, hielt zwei vollgepackte Koffer in den Händen und bestellte mir gerade an der Rezeption ein Taxi. Dann ging ich nach draußen, um auf das Taxi zu warten. Es regnete ein wenig. Der Morgen war schon fast vorüber und wirklich hell würde es bestimmt nicht mehr werden.

 

Fünf Minuten später kam das Taxi um die Ecke gebogen und hielt direkt vor mir am Straßenrand. Der Taxifahrer, ein korpulenter Mann in einem grauen ausgeleierten Pullover, sprang heraus, nahm mir die Koffer ab und verstaute sie im hinteren Teil der schweren Limousine. Während er mir die Beifahrertür offen hielt, sah er mir beim Einsteigen zufällig ins Gesicht.

 

Sind Sie nicht der berühmte Schriftsteller Mark Hollester aus New York?“ fragte er mich erstaunt.

 

Ja, der bin ich“, antwortete ich ihm kurz angebunden. „Ich möchte trotzdem ganz gerne zum Flughafen. Meine Maschine geht nämlich in weniger als zwanzig Minuten.“

 

Kein Problem, Mr. Hollester. Trotz aller Hektik würde ich mich tierisch darüber freuen, wenn Sie mir vorher noch schnell ein Autogramm geben. Ich bitte Sie darum. Diese Gelegenheit kommt für mich so schnell nicht wieder. Das verstehen Sie doch, Mr. Hollester, oder?“

 

Der Taxifahrer beeilte sich, setzte sich schnell hinter das Lenkrad seines Wagens und bevor er den Motor startete hielt er mir die Ausgabe meines neuesten Bestsellers zusammen mit einem Kugelschreiber unter die Nase.

 

Bitte, wenn Sie so freundlich wären, Mr. Hollester. Gleich auf der ersten Seite direkt unter dem Titel hätte ich gerne ihr Autogramm.“

 

Na schön. Geben Sie mal her! Ich will mal eine Ausnahme machen.“

 

Der Mann grinste jetzt über beide Ohren und war überglücklich. Ich wollte kein Spielverderber sein und kritzelte meinen Namenszug in geübter Manier auf das weiße Papier der ersten Seite des Buches mit dem Titel:

 

Der Kindermörder von Paris

 

Als ich fertig war, nickte der Taxifahrer zufrieden mit dem Kopf, legte das Buch auf den Rücksitz, gab Gas und rauschte mit seinem Taxi in Richtung Flughafen davon.

 

 

ENDE

 

 

©Heinz-Walter Hoetter

 

 

 


 

4. Das Ding aus dem All


 

Am fernen Horizont konnte man eine lange Kette von mächtigen Bergen erkennen, die weit in den blauen Himmel hineinragten. Auf den meisten Gipfeln lag noch Schnee, der selbst im Hochsommer nicht auftaute.

Am Fuße der Berge gab es viele enge Schluchten und tiefe Täler mit geheimnisvoll anmutenden Wäldern, die noch nie eine Axt oder Kettensäge gesehen hatten.

Weit draußen vor dem Gebirge durchzogen sanfte Grashügel die stille Landschaft und manchmal traf man auf einsame, moosbewachsene Hütten, die allerdings unbewohnt waren. Einige von ihnen standen wohl schon seit langer Zeit hier, was man auch daran erkennen konnte, dass ihre Kamine langsam zerbröckelten und die niedrigen Dächer an vielen Stellen große Löcher aufwiesen.

Obwohl diese Gegend jedem Durchreisenden auf dem ersten Blick menschenleer vorkommen musste, wohnten dennoch ein paar unverwüstliche Einheimische hier, die aber allesamt weit verstreut am Rande eines weitgespannten Sperrgebietes ihr karges Dasein fristeten.

Einer dieser wenigen, alteingesessenen Bewohnern war der alte Mr. Henry Bischoff, der zwar recht wirr im Kopf war, aber bestens darüber Bescheid wusste, warum vor langer Zeit die meisten Bewohner aus dieser schönen Landschaft nach und nach weggezogen sind.

Mr. Bischoff war eigentlich von Natur aus ein sehr schweigsamer Mensch, der über die damaligen Vorkommnisse nur selten ein Wort verlor. Wenn jedoch mal Besucher hier vorbei kamen, die sich für die schöne, unberührte Landschaft interessierten, erzählte er ihnen stets von den seltsamen Ereignissen, die sich hier vor langer Zeit zugetragen haben sollen, und die angeblich bis heute fortdauern würden, wie er stets ahnungsvoll andeutete.

Warum der Alte noch da war, das hatte einen einfachen Grund. Sein kleines Haus, welches man seinerzeit extra für ihn bauen lies, lag an einer belebten Straße, die damals neu gebaut werden musste. Sie schlängelte sich wie eine Schlange unmittelbar am weitläufigen Sperrgebiet entlang und verlor sich schließlich irgendwo im fernen Gebirge.

Die alte Straße gab es zwar immer noch, die allerdings unten an den Bergen vorbei durch die tiefen, stark bewaldeten Täler verlief, jedoch später zu einem erheblichen Teil vom smaragdgrünen Wasser eines neu gebauten Stausees überflutet worden war.

Und genau aus diesem Grunde hatte man vorsichtshalber die alte Straße eben für den gesamten Verkehr gesperrt, weil es immer wieder Leute gab, die mit ihren geländegängigen Fahrzeugen, trotz aller Warnungen übrigens, auf dem Rest der überwucherten Fahrbahnen bis tief in die dunklen Wälder und meist zu nah an die zerklüfteten, steil abfallenden Ränder des Stausees gefahren waren. Immer wieder ereigneten sich deshalb in fast schon regelmäßigen Abständen unheimlich anmutende Unfälle, die sich niemand erklären konnte. Die meisten Unfallopfer tauchten seltsamerweise nie wieder auf und blieben verschollen, obwohl man wochenlang mit allen technischen Mitteln nach ihnen gesucht hatte. Aber das alles ist schon lange her. Heute darf kein Mensch mehr dieses weiträumig abgesperrte Gebiet betreten. An etlichen Stellen hat man sogar unüberwindbare Stacheldrahtzäune hochgezogen.

***

Ich hielt meinen schweren Geländewagen an und stieg aus. Es war still in der Gegend und der Boden, auf dem ich jetzt stand, war überzogen mit feuchtem Moos und faulenden Resten alter Bäume, die sich hier einst hoch in den Himmel erhoben hatten. Nun lagen sie morsch und verwittert überall herum. Ich ließ meinen Blick langsam über die weite Landschaft gleiten und erinnerte mich an längst vergangene Zeiten, die mein damaliges Leben von Grund auf verändert haben.

Ach so, ich habe mich ja noch nicht vorgestellt.

Mein Name ist Joe Allen. Als ich damals hier das Gelände für den neuen Stausee zu vermessen begann, lernte ich während meiner Tätigkeit auch den etwa 40jährigen Mr. Bischoff kennen, der hier wohnte.

Mr. Bischoff lebte zu jener Zeit noch in einem kleinen Anwesen direkt am Rande eines tiefen Tales mit dichtem Waldbestand. Beides gibt es allerdings schon lange nicht mehr, weil sich heute sowohl das Tal als auch der Wald tief unterhalb der Wasseroberfläche des neuen Stausees befinden, an dessen Bau ich als junger Vermessungsingenieur viele Jahre, und bis zu seiner Fertigstellung, mitgewirkt habe.

Heute werde ich endlich mal den mittlerweile 85 Jahre alten Mr. Bischoff besuchen, was ich eigentlich schon immer in der Vergangenheit tun wollte, doch jedes mal kam etwas Unvorhergesehenes dazwischen. Ich habe ihm einfach einen Brief geschrieben und ihn darin gefragt, ob wir uns über gewisse Dinge aus der damaligen Zeit unterhalten könnten. Er war nicht abgeneigt, und so stehe ich heute hier.

Ich schloss meinen abgestellten Geländewagen ab und marschierte hinüber zu seinem Haus. Eine Weile später klingelte ich an seiner Tür. Schon bald wurde sie geöffnet. Der alte Mr. Bischoff begrüßte mich freundlich, ließ mich herein und wies mir einen gemütlichen Platz am Wohnzimmertisch zu, auf dem bereits dampfender Kaffee stand.

Während Mr. Bischoff unsere Tassen mit heißem Kaffee füllte, fing ich das Gespräch an.

Es ist schon lange her, Mr. Bischoff, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Leider war ich wegen meiner Arbeit immer verhindert. Ich habe mir heute extra Zeit dafür genommen, ihnen mal einen Besuch abzustatten. Danke auch für ihre nette Einladung. Wie gesagt, bin ich sehr daran interessiert, mir von ihnen die Geschichte erzählen zu lassen, was sich damals wirklich in dieser Gegend hier abgespielt haben soll. Es gab so viele Gerüchte, die im Umlauf waren, und immer noch sind wohlgemerkt, sodass keiner weiß, welche Erzählung eigentlich wahr ist und welche nicht. Was ist also ihre Version von dem, was damals passiert ist, Mr. Bischoff?

Der alte Mann blickte mich argwöhnisch an. Dabei stellte er ein Stück Kuchen vor mir auf den Tisch, nahm dann behäbig auf seinem Stuhl Platz und fing an zu reden.

Nun Mr. Allen, ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden. Wann alles anfing, weiß ich eigentlich nicht mehr so genau. Ich erinnere mich aber noch ganz genau daran, dass alles mit diesem Meteoriten begonnen hat, der nur eine Woche vor ihrer Ankunft hier in dem tiefen Tal donnernd explodiert war. Die meisten Leute haben allerdings nichts davon mitbekommen. Ich aber schon, da ich ganz in der Nähe des Tales wohnte, wo der Meteorit nieder ging. Einen Tag später, es muss wohl um die Mittagszeit gewesen sein, ereigneten sich eine Kette von weiteren, jedoch kleineren Explosionen, deren weiße Rauchschwaden schließlich wie ein Nebelschleier das ganze Tal zudeckten. Erst am nächsten Tag bin ich zusammen mit einem anderen Bauern aus der Gegend frühmorgens zu der Einschlagstelle hinaus geeilt, um den Besucher aus dem All näher zu besichtigen. Dann lag er vor uns. Die Erde war überall aufgerissen und in einem Umkreis von mehreren einhundert Metern waren alle Pflanzen verbrannt worden. Einige Büsche und Bäume qualmten immer noch, auch das umliegende Gras war bis auf den letzten Halm verkohlt. Das komische jedoch war, dass der Meteorit gar nicht so aussah, wie ein Meteorit. Seine Form glich vielmehr die einer Kugel, etwa in der Größe eines Fußballs. Die sich ständig bewegende Oberfläche glitzerte wie ein Meer aus Millionen von Sternen. Wir nannten diese Kugel nur „Das Ding aus dem All“, weil es nicht von dieser Erde war. Hin und wieder schossen sogar kleine Blitze aus der unheimlichen Oberfläche der Kugel, die kleine Vertiefungen im verbrannten Waldboden hinterließen. Wir beschlossen später, niemanden von unserem geheimnisvollen Fund etwas zu erzählen und deckten „Das Ding“ einfach mit einer Schicht Erde, losen Ästen und Zweigen zu. Wir markierten die Stelle noch zusätzlich mit herumliegenden Steinen, um die Kugel später schneller wieder finden zu können. Danach verließen wir den Ort und wollten erst einmal sozusagen Gras über die Sache wachsen lassen. Nach etwa zwei Woche kamen wir wieder zurück. Zu unserer großen Überraschung konnten wir das kugelförmige Ding nicht mehr wiederfinden. Wo wir auch suchten, das Gebilde war wie vom Erdboden verschluckt. Außerdem hatte sich während unserer Abwesenheit seltsamerweise die gesamte Vegetation erholt, was uns erst im Nachhinein aufgefallen war. Neue, kräftige Bäume waren in den Himmel gewachsen, Sträucher wucherten überall herum und auf den freien Stellen wuchs mannshohes Gras. Mein Kollege und ich haben uns darüber sehr gewundert. Zum Glück hatten wir die Stelle mit Steinen gekennzeichnet. Deshalb konnten wir den so markierten Ort genau lokalisieren. Aber die Kugel blieb dennoch verschwunden. Sie ist nie wieder aufgetaucht. Zur gleichen Zeit trafen Sie bei uns ein und fingen mit den Vermessungsarbeiten für den Stausee an. Ich dachte schon, sie hätten dieses kugelförmige Ding vielleicht auch gesehen oder möglicherweise etwas davon mitbekommen, wo es verblieben war. Sie sind doch die ganze Zeit dort herumgelaufen und haben die Gegend vermessen, Mr. Allen. Ach was, vergessen sie meine dümmlichen Fragen. Nun, die Geschichte geriet danach jedenfalls langsam in Vergessenheit, bis eines Tages diese seltsamen Vorkommnisse eintraten, wodurch in unserer Umgebung die Menschen in Angst und Schrecken versetzt worden sind. Zuerst begann das Sterben der Haustiere, dann folgte das Geflügel und alle anderen Tiere auf den angrenzenden Bauernhöfen. Die Tierärzte standen vor einem Rätsel. Ein paar Monate später fingen schließlich einige Bewohner an, wirres Zeug zu reden. Auch wurden sie in der Nacht von schlimmen Alpträumen heimgesucht, die ihnen schwer zusetzten. Manche brachten sich sogar um, weil sie glaubten, von Dämonen verfolgt zu werden. Als dann noch verschiedene Krankheiten ausbrachen, die man sich nicht erklären konnte, verließen immer mehr Bewohner ihre Häuser und zogen weg von hier. Dann waren die Dörfer dran. Auch sie waren bald öd und leer. Einige davon versanken schließlich in den Fluten des neuen Stausees, andere wiederum wurden später von der Regierung zu Sperrgebieten erklärt, die man nicht mehr betreten durfte. Es gab allerdings immer wieder Leute, die sich den Anweisungen der Regierung widersetzten und bis in die alten Dörfer vordrangen. Keiner von ihnen ist je zurück gekehrt. Was mit ihnen geschah, weiß man bis heute nicht. Die örtlichen Behörden hüllten sich stets in Schweigen. Sie haben jeden Vorfall vertuscht und tun bis heute so, als sei alles normal. Das ist es aber nicht, Mr. Allen. Irgend etwas Schreckliches kam in der Gestalt dieser schwarzen Kugel in das tiefe Tal herab und keiner weiß, wo dieses Gebilde hin ist, das seine Umgebung extrem verändern und beeinflussen kann, wie ich das damals zu meinem Entsetzen selbst heraus gefunden habe. Es kann alles verändern, und das ganz nach seinem Belieben. Unfassbar, nicht wahr? Es hat offenbar große Macht über die Materie und ganz besonders über jenen Teil der Materie, die lebt. Wissen Sie, was mir komisch vor kommt? Sie waren doch ebenfalls die ganze Zeit damals da unten in dem Tal und sind als einziger immer wieder unbeschadet daraus aufgetaucht. Vielleicht hat Sie dieses Ding aus dem All verändert, Mr. Allen. Es hatte ja Zeit genug, um sich von seinem schweren Aufschlag zu erholen. Deshalb verstand ich auch, warum dieses seltsame Gebilde meinem Kollegen und mir anfangs nichts anhaben konnte. Es hat, wohl um seine Spuren zu verwischen, später auch die gesamte zerstörte Vegetation wieder innerhalb kürzester Zeit neu entstehen lassen. Unerklärlich, wie es so etwas fertigbringen konnte. Aber es kann auch töten, wie ich weiß. Es ernährt sich eigentlich von allem, was lebt. Das würde auch das Verschwinden der vermissten Personen erklären, die man damals nicht mehr gefunden hat. So, und das ist meine Geschichte, Mr. Allen.“

***

Viel später. Draußen war es schon dunkel geworden.

Ich verließ das Haus von Mr. Bischoff wieder und ging zu meinem Wagen zurück. Der alte Mann hat mich nicht angelogen. Seine Erzählung war auch keine Ausgeburt seines verwirrten Geistes, wie andere behauptet haben. Nein, seine Geschichte entsprach völlig der Wahrheit. Seine Fragen haben mich deshalb auch nicht überrascht. Ich wusste nur zu gut, was er dachte. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, aber er wusste wohl, wer ich wirklich war. Ich hätte ihn mit Leichtigkeit töten können, trotzdem verschonte ich sein Leben. Der Gedanke war mir einfach verhasst, einen alten Mann, der sowieso bald sterben würde, der inneren, verformbaren Masse meines Körpers zuzuführen. Ich habe auch meine guten Seiten, wie jeder Mensch, zu dem ich mich nach und nach verwandelt habe.

Ich, Joe Allen, bin nämlich „DAS DING“.

Oder sollte ich lieber sagen, dass ich es einmal war?


 

ENDE



(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

5. Ashmon Krull will zurück zu seinen Vorfahren

 

 

Was träumen wir gerade? Unser Leben?

Was leben wir gerade? Unseren Traum?


 

(Heinz-Walter Hoetter)

 

***

 

Alles hatte sich verändert. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Was ist Traum und was ist Wirklichkeit? Oder vermischt sich beides nur miteinander?“

 

***

 

Obwohl es erst Vormittag war, brannte die Sonne unerbittlich vom wolkenlosen Himmel herab. Kein Lüftchen regte sich.

 

Ashmon Krull hielt atemlos inne. Er war die gesamte Strecke über gelaufen, ohne auch nur eine Pause einzulegen. Schweißperlen standen auf seiner hohen Stirn, die jetzt in dünnen Streifen über sein Gesicht liefen und tropfend von seinem Kinn in den heißen Wüstensand fielen, wo sie verschwanden, als hätte es sie nie gegeben.

 

Die ganze Zeit hatte sich der Mann nicht ein einziges Mal umgewandt, um zu überprüfen, ob ihm jemand gefolgt war. Wer würde ihm denn schon freiwillig in die offene Wüste folgen wollen, die wie ein gigantisches Meer aus gelben Sand vor ihm lag und tödliche Gefahren in sich barg, wenn man sich in ihr nicht zurecht fand?

 

Krull blickte trotzdem hinter sich. Der feine Sand hatte seine Spuren verschluckt und nichts deutete darauf hin, aus welcher Richtung er gekommen war. Es gab nur den Sand, den wolkenlosen Himmel, die brennend heiße Sonne und jenes undefinierbare Geräusch, das wie ein leises, kaum vernehmbares Brummen aus der endlosen Weite der Wüste kam. Es war eigentlich immer da und er dachte manchmal, dass es zu seinem Körper gehörte, wie seine eigene Stimme.

 

Ashmon Krull atmete ein paar Mal tief durch. Die Luft schmeckte nach heißem Sand und trocknete seine Kehle aus. Irgendwie hatte er den komischen Eindruck, dass er mit jedem Atemzug den Tod in sich einsog.

 

Nach einer Weile drehte der Mann seinen Kopf wieder zurück und wandte sich der unmittelbar vor ihm liegenden Wüste zu. Dann sah er die gelbbraune Düne, die wie ein großer Hügel verheißungsvoll vor ihm lag. Komisch, dachte er so für sich, dass sie ihm vorher nicht aufgefallen war.

Krull schätzte die Entfernung. Er kniff deshalb die Augen zusammen, um die wabernde Hitzewand über dem heißen Sand in seinem Blick zu bannen. Es gelang ihm aber nicht das Flimmern aufzulösen und bald tränten seine Augen, weil sie ihm schmerzten.

 

Trotzdem lief Ashmon Krull nach einer Weile wieder los und erreichte bald den Scheitel des riesenhaften Sandberges. Von hier oben aus konnte er weit bis ins trockene Land hineinsehen, wenngleich diese Aussicht auch unbefriedigend war, denn nirgends gab es das geringste Anzeichen von Grün. Nur endloser Sand und eine Menge kleiner und großer Hügel, die sich bis zum fernen Horizont erstreckten.

 

In den vielen Erzählungen und Märchen seines uralten Volkes wurde dieses Land immer als herrlicher Paradiesgarten geschildert, von einem Garten Eden mit schönen weitläufig angelegten Städten, deren Paläste, Straßen und Häuser aus weiß leuchtendem Marmor bestanden haben sollen. Nur wenige der Alten wussten noch davon und hatten ihm berichtet, wie es früher hier einmal ausgesehen hat.

 

Für Krull hatte das ausgereicht, um nach diesem wunderbaren Garten zu suchen, der wie ein grüner, blumenreicher Landstreifen am fruchtbaren Ufer eines großen Meeres lag, das es hier früher ebenfalls einmal gegeben haben soll. Heute existierte von diesem einstigen Paradies nur noch ein kleiner Überrest, eine Oase irgendwo inmitten einer heißen Wüste. An diesem Ort gab es außerdem einen geheimnisvollen Gegenstand, von dem die Alten erzählten, und dass man mit ihm in vergangene und zukünftige Welten gelangen könnte, je länger man ihn nur benutzte. Ja, so sagten es jedenfalls die Legenden.

 

Wieder ließ er seinen Blick über die endlose Wüstenlandschaft streichen. Er streckte seinen schmächtigen Körper dabei ein wenig in die Höhe, um ihn größer zu machen. Dann legte er die Hand wie einen kleinen Schirm über die Augen und schaute kreisend in alle Richtungen. Gelegentlich sah er einzelne braune Flecken, trockenes Dornengebüsch oder vereinzelt da stehende Grasbüschel, die aber allesamt verdorrt waren. Diese winzigen Stellen fielen jedoch kaum auf; zu groß und zu übermächtig war das schier endlose Gelb der Wüste, das durch eine hoch am Himmel stehende, gnadenlos brennende Feuerscheibe permanent aufgeheizt wurde.

 

Und dann sah Ashmon Krull etwas, das sein einfaches Gemüt in helle Aufregung versetzte und sein Herz höher schlagen ließ. Vor Staunen hielt er die Luft an.

 

Für einen kurzen Augenblick erfassten seine Augen einen grünen Punkt in der Ferne, der, wenn er ihn genauer fixierte, nach beiden Seiten zu einer schmalen Linie auslief.

 

Der Mann wurde von einer fieberhaften Unruhe erfasst. Noch einmal blickte er zu der entdeckten Stelle hinüber und prägte sie sich genau ein. Dann rannte er los, hüpfte mit weiten Sprüngen den Hügel hinab und lief ohne Unterlass durch den heißen Sand, dessen Glühen er an seinen nackten Fußsohlen bald nicht mehr spürte.

 

Nach etwa drei Stunden erreichte Ashmon Krull erschöpft eine gewaltige Sanddüne, deren Kamm wie eine Fata Morgana in greifbare Nähe lag. Langsam ging er darauf zu. Ohne überhaupt Einzelheiten zu erkennen, dachte er darüber nach, ob sich dahinter wohl jenes Grün befand, das er als kleinen Punkt in der Ferne gesehen hatte.

 

Krull musste zuerst eine tiefe Senke durchlaufen und erklomm kurz darauf die Sanddüne. Der Aufstieg war beschwerlich. Immer wieder rutschte er zurück, weil der lose Sand nachgab. Doch er gab nicht auf, bis er schließlich oben auf dem höchsten Punkt der Düne stand. Beinahe wäre er von dem Anblick zurückgeprallt, der sich ihm plötzlich unversehens bot: Eine kleine Insel des Lebens inmitten eines unendlich erscheinenden Meeres des Todes lag vor ihm.

 

Es war eine Oase mit saftig grünem Gras, ebenso grünem Buschwerk, hohen Palmen und einer silbrig glitzernden Wasserstelle, wie man sie nur selten in einer heißen, Hitze geschwängerten Wüste zu Gesicht bekam. Überall schwirrten Vögel herum und ihr Zwitschern erfüllte die Stille des friedlich da liegenden Ortes. Am Ufer des Oasensees ästen schlanke Gazellen, weiße Stelzvögel standen im Wasser und warteten geduldig auf Fische.

 

Langsam, wie in Trance, schritt Ashmon den Sandhügel hinab, bis er schließlich unten in der Oase stand. Dann konnte er sich nicht mehr halten und hastete mit weit ausholenden Schritten zum Wasser, um sich endlich zu erfrischen.

 

Direkt am Ufer ließ er sich auf die Knie fallen, steckte seinen Kopf mehrmals hinter einander unter Wasser und trank begierig von dem kühlen, köstlichen Nass.

 

Das stundenlange Laufen hatte ihn zu sehr angestrengt. Ashmon Krull spürte plötzlich eine grenzenlose Müdigkeit in sich aufkommen und er beschloss deshalb, sich unter einer der zahlreich vorhandenen Palmen zu legen, um im Schutze ihres wohltuenden Schattens zu schlafen. Dann setzte er sich hin und lehnte seinen Rücken an den breiten Stamm einer mächtigen Kokospalme. Wenige Augenblicke später schlief er ein.

 

Bald träumte er einen seltsamen Traum.

 

Zwei riesige Metallkörper fuhren mit lautem Getöse vom Himmel herab, umgeben von einem glühenden Lichtregen, der an ihrem hinteren Ende wie ein strahlender Schweif heraustrat.

 

Beide Himmelskörper ließen sich unweit der Oase in der offenen Wüste nieder. Bald darauf erschienen einige Gestalten in sonderbar aussehenden Anzügen, die das Treiben in der Oase rings umher mit sichtlichem Wohlgefallen begutachteten. Während sie so weitergingen verschwand nach und nach die äußere Hülle ihrer Bekleidung, bis schließlich ihre Körper sichtbar wurden, die dem menschlichen Körper verblüffend ähnlich sahen. Die Fremden setzten sich im lockeren Kreis um Ashmon Krull und reichten ihm die reifen Früchte der umstehenden Bäume und Sträucher. Von irgendwoher erklang sanfte Harfenmusik, die sich mit dem Rauschen der Palmen, dem Zwitschern der Vögel und dem leisen Plätschern der kleinen Wellen am Ufer des Oasensees harmonisch mischten.

 

Krulls Bewusstsein erhob sich plötzlich über die weite Wüstenlandschaft. Er hatte das Gefühl, als würde man ihn auf einer offenen Sänfte durch die unendliche Weite des Äthers tragen, weit ab jeglicher Erdenschwere. Majestätisch flog er über eine wunderschöne Landschaft dahin, durchzogen mit blau schimmernden Flüssen, dichten Wäldern, grünen Wiesen und üppig bestellten Feldern, auf denen alles wuchs, was das Herz begehrte. Dazwischen tauchten immer wieder herrlich anzusehende Städte in sein Blickfeld, an deren Peripherie sich seltsam aussehende Flugobjekte auf einem langen Feuerstrahl reitend mit wachsender Geschwindigkeit in den Himmel erhoben, bis sie schließlich irgendwo in der Schwärze des Universums zwischen den Sternen verschwanden.

 

Klangen so nicht die Erzählungen und Märchen der Geschichtenerzähler seines uralten Volkes aus längst vergangenen Zeiten, als die Wüste noch fruchtbares Land war, das einmal an den Ufern eines großen Meeres gelegen haben soll und von einer hochintelligenten Rasse bewohnt wurde?

 

Der Wohlklang seines Traumes wurde schlagartig durch ein fürchterliches Grollen unterbrochen, das sich immer mehr in ein brüllendes Röhren verwandelte und von riesigen Metallvögeln stammte, die hoch droben den Himmel mit weißen Kondensstreifen durchzogen.

 

Die unbekannten Besucher um ihn herum lösten sich auf und verschwanden im Nichts. Wenige Augenblicke später erhoben sich ihre gewaltigen Metallkörper wieder vom Boden, flogen über seinen Kopf hinweg und beschrieben dann eine steile Flugbahn nach oben in die Atmosphäre, wo sie bald nicht mehr zu sehen waren.

 

Krull erschrak, denn er hatte von solchen silbrigfarbenen Metallvögeln aus den Erzählungen und Märchen gehört. Sie galten als gefährlich und unberechenbar, weitaus bedrohlicher als Geister und Dämonen. Aus ihren bauchigen Körpern spieen sie stabförmige Gebilde, die Tod und Zerstörung verursachten, wenn sie erst mal den Boden erreicht hatten. Gebannt starrte er auf die fliegenden Gebilde, die jetzt direkt vom Horizont her kommend auf ihn zuflogen.

 

Ashmon erschrak noch heftiger als beim ersten Mal. Er presste seinen Rücken im Traum noch fester an den Stamm der Palme, überlegte fieberhaft, ob es nicht irgendwo eine Fluchtmöglichkeit gab. Zu spät! Die fliegenden Silbervögel hatten ihn anscheinend schon wahrgenommen. Sie kamen näher und näher. Krull war wie gelähmt. Er konnte die Glieder seines Körpers nicht bewegen und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.

 

Jetzt waren die fauchenden Silbervögel heran und ließen einen langgestreckten Körper aus einer schachtähnlichen Öffnung unterhalb ihres Rumpfes fallen. Schnell wie ein Pfeil schoss er auf ihn zu.

 

Krull wollte sich unsichtbar machen. Er sah mit weit geöffneten Augen dem Furcht erregenden Ungeheuer mit den kurzen Stummelflügeln ängstlich entgegen und glaubte sich dem Tode nahe, als er plötzlich wieder erwachte. Noch ganz benommen musste er gewahr werden, dass er wie von Sinnen schrie. Endlich beruhigte er sich wieder. Es war ja nur ein Traum, dachte Krull für sich.

 

Die Nacht hatte bereits ihren schwarzen Mantel über die endlose Wüstenlandschaft geworfen und es war kühler geworden.

 

Krull blickte aus seiner sitzenden Haltung zum nächtlichen Sternenhimmel hinauf. Geheimnisvolle Figurationen bildete er sich ein, als er die vielen Sterne über sich sah. Es war nie der gleiche Himmel und jede Nacht schien er ihm auf andere, ganz besondere Weise den weiteren Lebensweg zu bestimmen.

 

Endlich riss er sich zusammen und erhob sich. Er streckte seine Glieder, schaute sich um und ging schließlich zum Oasensee hinunter, dessen Wasseroberfläche jetzt wie eine schwarze Decke vor ihm lag. Alles war in tiefer, unberührter Stille gehüllt.

 

Ashmon Krull legte den Kopf in den Nacken und wandte sein Gesicht noch einmal zu den Sternen. Wie viele Rätsel barg dieses Lichtermeer, wie viele Fragen und Antworten lagen in ihm versteckt?

 

Er fröstelte ein wenig. So heiß auch die Wüste tagsüber war, nachts kühlte sie spürbar aus. Krull setzte sich in die Hocke und betrachtete nachdenklich das Wasser, das Leben versprach.

 

Nun, das Paradies hatte er nicht gefunden, dafür aber einen Ort, der ihn für lange Zeit am Leben erhalten würde. Nahrung und trinkbares Wasser waren in Hülle und Fülle vorhanden. Aber es gab da etwas anderes, das irgendwo in diesem Kleinod inmitten der heißen Wüste verborgen lag, von dem in den alten Geschichten und Märchen immer wieder berichtet wurde. Es war ein Gegenstand, dem geheimnisvolle Kräfte zugesprochen wurden und seinen Träger in vergangene und zukünftige Welten versetzen konnte. Er wartete in einem silberfarbenen Metallkasten auf seinen Finder, wie die Legende sagte. Danach wollte Ashmon Krull suchen und zwar solange, bis er ihn irgendwann einmal finden würde.

 

Eine ganze Weile saß er so da, fasziniert und halb träumend noch. Dann zog er sich wieder unter die Palme zurück, kauerte sich zusammen, um sich, so gut es ging, einigermaßen warm zuhalten. Noch lange lauschte er in die Nacht hinein, vernahm das Flattern und prasselnde Klatschen der Palmen im sanften Abendwind, wenn sie gegeneinander schlugen. Irgendwann glitt sein Bewusstsein erneut in einen tiefen Schlaf.

 

 

***

 

Die Sonne stand schon hoch am blauen wolkenlosen Himmel, als jemand Ashmon Krull auf die rechte Schulter klopfte.

 

Hey Ashmon..., aufwachen! Wie lange willst du hier im Garten noch herumliegen und schlafen?“ sagte eine weibliche Stimme zu ihm.

 

Noch ganz verstört und mit halbklarem Blick schaute sich der junge Mann um, der mit weit auseinander gestreckten Beinen rücklings auf einer weichen Liegedecke tief geschlafen hatte. Auf seinem Kopf befand sich ein Gerät mit zwei kopfhörerartigen Schalen, die mit kreisrunden Schläfensensoren verbunden waren. Ein fast unhörbares monotones Brummen ging von diesem Ding aus. Die Energie dieser einzigartigen Wunderapparatur aus wasserdichtem Kunststoff kam von der eigenen Körperwärme.

 

Ashmon blickte auf. Dann sah er seine ältere Schwester Seralin, die direkt vor ihm stand und ihn mit finsterer Mine anschaute.

 

Ich soll dir sagen, dass das Essen fertig ist. Verdammt noch mal, es ist schon Mittag. Ich hab’ bereits zweimal nach dir gerufen, aber scheinbar wolltest du dich nicht stören lassen, mein lieber Bruder. Und leg’ endlich diesen bescheuerten Visionator ab! Dieses Ding wird dich noch mal ganz irre im Kopf machen. Früher haben die Leute Drogen genommen, heute besitzt jeder so einen dämlichen Halluzinator, mit dem man angeblich reale Traumwelten erzeugen kann. Bin ich froh, dass ich so was nicht nötig habe.“

 

Nur keine Panik, Schwesterlein. Ich bin ja schon unterwegs“, sagte Ashmon mit stockender Stimme, der von seiner gerade erlebten Halluzination noch ganz benommen war. Er schaltete den Visionator ab und legte ihn vorsichtig in einen stabilen, silbrigfarbigen Metallkasten zurück , der vor ihm auf der Liegedecke stand. Dann schwang er sich mit einem Ruck auf die Beine und folgte brav seiner Schwester ins Haus.

 

Das Haus seiner Eltern stand auf einer Anhöhe und war von Wäldern und Wiesen umgeben. Am fernen Horizont konnte man das Ufer eines großen Meeres erkennen. Weiter unten am Rande des sanft abfallenden Hügels, auf dem ihr Anwesen lag, befanden sich große Farmen, Gewächshäuser und zahlreiche Fischweiher. Die Versorgung der Bevölkerung der Stadt Victory war eine autarke und galt als vorbildlich für den ganzen Planeten. Die Stadt selbst sah futuristisch aus und war äußerst praktisch angelegt. Überall verkehrten Einschienenbahnen, Elektroautos und –busse. Auf den Dächern der Hochhäuser landeten Hubschrauber und kleine Luftschiffe. Am fern gelegenen Stadtrand sah man mächtige Raumschiffe zu fernen Planeten im Universum aufsteigen.

 

Nach dem Mittagessen ging Ashmon Krull wieder an die gleiche Stelle im Garten zurück, legte sich entspannt auf die Liegedecke und stülpte den Visionator über den Kopf. Dann presste er die beiden Sensoren auf die freien Schläfen, drückte den Knopf für das Programm auf „Fortsetzung der zuletzt erlebten Vision“ und schaltete das Gerät damit automatisch wieder ein, das sich kurz danach mit einem leichten Brummen in Betrieb setzte.

 

Bevor er endgültig einschlief, hörte er noch die Stimme des Nachrichtensprechers aus seinem altmodischen Radio, die quäkend berichtete, dass Wissenschaftler auf dem Mond mit ihren Messinstrumenten stark vermehrte Sonnenaktivitäten festgestellt hätten, die das Klima auf der Erde entscheidend negativ verändern könnten. Aber das hörte der junge Mann schon nicht mehr.

 

***

 

Ashmon Krull wachte schlagartig auf. Er lag zusammen gekauert unter einer hohen Palme in der Nähe eines kleinen Oasensees. Er versuchte sich zu erinnern, was geschehen war.

 

Nun, das Paradies hatte er nicht gefunden, dafür aber einen Ort, der ihn für lange Zeit am Leben erhalten würde. Nahrung und trinkbares Wasser waren in Hülle und Fülle vorhanden. Aber es gab da noch etwas anderes, das irgendwo in diesem Kleinod inmitten der heißen Wüste verborgen lag, von dem in den alten Geschichten und Märchen immer wieder berichtet wurde.

 

Es war ein Gegenstand, der geheimnisvolle Kräfte in sich barg und seinen Träger in vergangene und zukünftige Welten versetzen konnte. Es wartete in einem silberfarbenen Metallkasten auf seinen Finder, wie die Legende sagte.

 

Danach wollte Ashmon Krull suchen und zwar solange, bis er ihn irgendwann einmal finden würde, denn er wollte in die Welt seiner Vorfahren zurück, als die Wüste noch ein wunderschönes Paradies war.


ENDE


© Heinz-Walter Hoetter


 


 


 


 

6. Das magische Buch


 


 

Der junge Mann saß traurig auf einem kleinen Felsvorsprung in der Sonne und las in einem uralten magischen Buch, dessen Umschlag aus brüchigem Leder bestand. Er vermisste jemanden, den er sehr liebte.

 

Sein konzentrierter Blick wanderte langsam über die goldfarbenen Symbole, die er mit seinen Lippen halblaut nachformte. Der Himmel über ihm war wolkenlos und obwohl die Sonne schien war es recht kühl hier oben bei den alten Steinen. Deshalb hatte sich Daiton Vennedey vorsorglich in eine lange, dicke Felljacke gehüllt, die er aber vorne aus Gründen der Bewegungsfreiheit nicht zugeknöpft hatte.

 

Daiton liebte die Einsamkeit hier oben in den hohen Bergen, das mystische Wispern des Windes und das ferne, dumpfe Rauschen des mächtigen Wasserfalles, der so namenlos wie das zerklüftete Gebirge war, das sich zu seiner Rechten bis zum Horizont erstreckte. Direkt unterhalb des leicht überhängenden Felsens dehnte sich eine weite, karge Geröllebene aus, in der nur sporadisch verteilt einige verkrüppelte Bäume und strohig aussehende Büsche wuchsen, die, zumindest rein äußerlich gesehen, denen auf der Erde sehr ähnlich waren.

 

Die bizarr anmutende Bergwelt dieses fremden Planeten kam Daiton außerdem irgendwie irreal vor, was vielleicht auch daran lag, dass er sich einfach nicht an die unheimlich anmutende Stille gewöhnen konnte, die hin und wieder nur durch das Heulen des Bergwindes unterbrochen wurde.

 

Der junge Mann blätterte zur nächsten Seite um und überflog mit suchendem Kennerblick die mystischen Symbole, die ihm Gold glänzend entgegen leuchteten. Dann wusste er, dass diese Zeilen keine magischen Zauberkräfte enthielten oder diese möglicherweise von selbst entwickeln konnten, sondern nur einige philosophische Erkenntnisse zum Ausdruck brachten, dessen Verfasser ein gewisser Mann namens „Ruairidh“ war, der weit vor Daiton Vennedeys Zeit im Mittelalter gelebt hatte und ein hochangesehener keltischer Druide und Magier gewesen war. Auch er hielt dieses uralte magische Buch einmal in seinen Händen, denn was da stand, das konnte damals noch kein Mensch wissen, es sei denn, er hat die Zukunft besucht.

 

Daiton las, was Ruairidh dem uralten magischen Buch an persönlicher Lebenserfahrung und Weisheit hinzugefügt hatte.


***

Der Mensch ist ein Gefangener in Raum und Zeit. Nur der Tod kann ihn daraus erlösen. Nichts von dem, was der Mensch je erschaffen hat, ist von Dauer gewesen. Selbst seine steinernen Denkmäler nicht. Sie werden vom Wind der Zeit geschliffen, abgetragen und hinweg gefegt, als hätte es sie nie gegeben. Sie zerfallen zu Staub. Auch all sein Wissen, seine zivilisatorischen Errungenschaften und seine technischen Großtaten haben keinen Bestand vor den immer gültigen Gesetzen der Ewigkeit. Des Menschen Werke sind wie Schall und Rauch. Sein verweslicher Körper besteht aus Elementen und Stoffen, die aus dem Tod der Sterne hervor gegangen sind. Er ist wie ein verlorener Gedanke, der aus dem Nichts kam und in dieses Nichts wieder zurückkehren wird.

 

Wer wird sich seiner erinnern?

 

Niemand!

 

Das ist des Menschen Schicksal.

 

Doch der wahre Ursprung allen Seins liegt in den schier unerschöpflichen magischen Kräften des Universums, die überall verborgen sind und heimlich walten.

 

Der Sucher aber wird sie finden. Und wenn er sie gefunden hat, muss er sie beherrschen lernen. Wenn er sie beherrscht, dann werden sich ihm die Geheimnisse der Ewigkeit von Raum und Zeit offenbaren. Er wird früher oder später erkennen, dass die magischen Kräfte die Erschaffer und Bewahrer dessen sind, was der Mensch Realität oder Wirklichkeit nennt. Seine irdisch angepassten Sinne halten ihn in dieser Wirklichkeit, die er als Gegenwart wahrnimmt, gefangen.

 

Die magischen Kräfte jedoch werden ihn daraus befreien und ihm ein ewiges Bewusstsein schenken, das keine Schranken kennt, sondern nur grenzenlose Ewigkeit.“

 

 

Grausam ist die Gegenwart.

Gefangen bin ich in ihr.

Deshalb bring mich in die Vergangenheit

oder in die Zukunft!

Ganz nach meinem Wunsch.
So hilf mir, mein Schicksal zu besiegen, mächtiges magisches Buch!

Aber ich gehe ganz ohne dich durchs Sternentor. Ja, ich kehre niemals mehr daraus zurück. Das ist mein letzter Wille.

Dadurch bereite ich vor, was andere nach meiner Zeit nutzen können. Vielleicht wird der eine oder andere mir folgen.


Diese Zeilen schrieb ich in dunkler Zeit vor Beginn meiner Reise zu den Sternen.

 

Ich, der Druide und Magier „Ruairidh.


***


Der junge Mann hob seinen Blick und schaute zu den seltsam geformten Riesensteinen hinüber, die unverkennbar einen großen Kreisrund bildeten. Dann lehnte er sich etwas zurück. Die kryptischen Symbole auf den bearbeiteten Steinen waren schon stark verwittert, sodass die meisten davon unleserlich waren. Sie standen hier bereits seit undenklichen Zeiten und niemand wusste, wer sie dort aufgestellt hatte. Nicht einmal die alten Sagen und Legenden oder das uralte magische Buch gaben darüber Auskunft.

 

Die unbekannte Sonne wanderte langsam über den blauen Himmel weiter, aber ihre Strahlen brachten nur wenig Wärme. Daiton zog deshalb die offene Felljacke vorne zusammen und knöpfte sie bis oben hin zu. Die Schatten der Steine wurden länger und länger.

 

Den uralten Schriften und Überlieferungen zufolge gehörte dieser Kreis aus Monolithen zu jenen Stellen, an der ein „magisches Sternentor“ entstehen konnte, das die Möglichkeit bot, durch Zeit und Raum reisen zu können. Reisen durch Raum und Zeit: diese Erzählungen faszinierten den jungen Mann immer wieder, der sich fragte, wer wohl die Erbauer dieser „magischen Sternentore“ waren. Es gab sie allerdings nur auf Planeten im Universum, auf denen sich eine für Menschen atembare Sauerstoffatmosphäre befand, in der sie ohne Schwierigkeiten überleben konnten, jedenfalls für eine gewisse Zeit, wie in dem uralten magischen Zauberbuch ausführlich erklärt wurde.

 

Daitons Aufmerksamkeit wurde schlagartig von einem großen, schwarz gefiederten Adler abgelenkt, der plötzlich aufgetaucht war, sich auf einem der aufrecht stehenden Riesensteine niederließ und ihn eine zeitlang von dort aus mit starrem Blick fixierte, der aber irgendwie böse aussah. Seine scharfen Krallen kratzten unruhig am verwitterten Felsen herum, der an einigen Stellen zu bröckeln begann.

 

Daiton Vennedey hielt für einige Sekunden den Atem an. Der schwarze Greifvogel kam ihm irgendwie vertraut vor, doch konnte er im Augenblick nicht sagen, warum das so war.

 

Dann, als folgte der Adler einem geheimnisvollen Ruf, erhob er sich mit weit ausholenden Flügelschwingen schreiend in die Lüfte, kreiste ein paar Mal über Daitons Kopf hinweg und flog schließlich hinaus in die weite Geröllebene, die abseits der hohen Berge lag. Etwas später verschwand er am fernen Horizont hinter einer sich auftürmenden Wolke. Der junge Mann blickte dem schwarzen Adler noch lange nach, bis er ihn schließlich aus den Augen verlor.

 

Daiton war etwas durcheinander. Er ahnte, dass ihm offenbar ein schwerwiegender Fehler beim Vorlesen der magischen Zeichen unterlaufen war. Seit der letzten Reise durch die Zeit konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er empfand das schlichtweg für beängstigend, denn die Situation war irgendwie außer Kontrolle geraten. Nichtsdestotrotz wandte er sich schnell wieder dem uralten magischen Buch in seinen Händen zu, um darin nach einer magischen Zauberformel zu suchen, die wieder alles ins Lot bringen sollte. Daiton wusste nur zu gut, dass es jetzt gefährlich werden konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Nach einer Weile fand er die richtige Zauberformel und las sie sofort laut und deutlich vor.

 

Kaum hatte er das letzte magische Zeichen ausgesprochen, als sich wie aus heiterem Himmel ein heftiger Blitz über dem magischen Steinkreis entlud, der die felsige Umgebung trotz Tageslicht in eine gleißende Helligkeit tauchte.

 

Daiton ließ vor Schreck über die heftige Auswirkung des angewandten Zaubers das Buch fallen und rollte sich instinktiv zur Seite. Er kam in einer kleinen Bodensenke zu liegen, aus der er vorsichtig seinen Kopf herausstreckte, um die gefährlich aussehende Lichterscheinung aus sicherer Entfernung beobachten zu können. Die Steine wirkten jetzt viel dunkler als vorher. Bläulich-weißes Licht strahlte aus ihnen hervor und eine Unzahl von kleineren Blitzen bildeten ein zuckendes Netz aus reiner Energie, das sich dumpf brummend nach und nach um die verwitterten Steine spann.

 

In der Mitte des Kreises nahm gleichzeitig die Intensität des anhaltenden Blitzgewitters zu. Schließlich verdichteten sich die verästelten Blitze zu einer gleißend hellen Kugel, die sich schrittweise zu einer mehr als zwei Meter hohen Energiewand aufbaute, die im Innern mit einem scharfen Zischgeräusch aufriss und die Sicht auf ein wunderschönes, von funkelnden Sternen übersätes Universum freigab. Der junge Mann wusste jetzt, dass sein Zauberspruch das magische Sternentor aktiviert hatte. Endlich konnte er zurück zur Erde. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.

 

Ein heftiger Wind heulte auf einmal über das steinige Plateau. Die Sonne verdunkelte sich ein wenig, als einige dichte Wolken an ihr vorbeizogen.

 

Daiton war sprachlos vor Staunen. Die konzentrierte Helligkeit verursachte Schmerzen in seinen Augen, als er zu dem pulsierenden Energieportal hinüber sah, aus dem plötzlich ein weiterer Blitz hervorschoss, der suchend nach ihm fingerte, bis er ihn schließlich in der Bodensenke fand und sich wie eine zweite Haut um seinen gesamten Körper legte. Dann wurde er abrupt nach oben gerissen. Sekundenlang schwebte der junge Mann, wie von Geisterhand angehoben, frei in der Luft. Schließlich zog ihn der zuckende Energiestrahl mit wachsender Geschwindigkeit in den offen Lichtkranz hinein, ohne das Daiton etwas dagegen tun konnte. Eine fremde Macht nahm offenbar Besitz von seinem Körper, und er fühlte sich wie in eine Zwangsjacke gesteckt, weil er weder Arme noch Beine bewegen konnte.

 

Wieder zuckten überall heftige Blitze aus den verwitterten Steinsymbolen nach allen Seiten, als der junge Mann mit einem lauten Aufschrei im magischen Sternentor verschwand. Gleich darauf fiel auch das spinnenartige Netz aus zuckenden und knisternden Blitzen in sich zusammen, bis es in der Mitte des Steinkreises zu einem winzigen Lichtpunkt geschrumpft war, der noch ein letztes Mal, wie eine verglühende Sternschnuppe, kurz aufleuchtete und nichts weiter hinterließ, als ein qualmendes, dünnes Rauchfähnchen, das sich schnell verflüchtigte.

 

Über der weiten Ebene des felsigen Plateaus brauste wieder ein heftiger Wind, der wie mit unsichtbaren Händen spielerisch in den Seiten des offenen Zauberbuches blätterte. Es lag immer noch am gleichen Platz, wo Daiton einmal gesessen hatte. Doch dann klappte es urplötzlich zu, als wolle es das dreiste Spielchen des Windes nicht mehr mitmachen. Dann, wie von Geisterhand angehoben, bewegte es sich langsam über den felsigen Boden schwebend auf die Mitte des Steinkreises zu, senkte sich wieder herab und blieb in einer kleinen Vertiefung liegen. Es schien fast so, als würde es auf jemanden warten, der, wie Daiton, auch noch durch das magische Sternentor seine Reise zur Erde antreten musste.

 

Und in der Tat, es war so.

 

Ganz plötzlich war der schwarze Adler wieder da, der auf einem der verwitterten Steine im magischen Kreisrund Platz genommen hatte. Seine messerscharfen Krallen umklammerten den brüchigen Felsen, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Das uralte Buch öffnete sich von selbst, blätterte mehrmals hin und her und blieb dann bei einer ganz bestimmten Seite stehen. Sofort schwang der Adler herab, hielt das offene Buch mit seinen starken Krallen fest und krächzte solange herum, bis seine Stimme unverkennbar in eine menschliche Sprache überging. Dann las er den Zauberspruch vor.

 

Sekunden später fingerten erneut helle Blitze durch die Luft, die sich in der Mitte des magischen Sternentores zu einem mannshohen Energieportal zusammenschlossen. Auch diesmal fuhr laut zischend ein gleißend heller Lichtstrahl daraus hervor, der den bewegungslos da sitzenden Adler und das uralte Buch erfassten und zusammen in das magische Sternentor hineinzogen. Dann fiel das knisternde Energieportal unter lautem Getöse wieder in sich zusammen. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Mittlerweile hatte sich das Brausen des Windes gelegt. Eine unheimlich anmutende Totenstille legte sich jetzt über den einsam da liegenden Steinkreis hoch droben auf dem weiten Felsplateau, als wäre es noch nie anders gewesen.

 

***

 

Das Erste, was Daiton Vennedey wahrnahm, als er langsam sein Bewusstsein wiedererlangte, war der durchdringende Geruch nach Desinfektionsmittel und Plastik. Im nächsten Moment spürte er einen glühend heißen Schmerz in der unteren Körperhälfte, und er hatte das Gefühl, seine Eingeweide würden durch einen Fleischwolf gedreht und Stück für Stück in Fetzen gerissen, sobald er sich nur ein wenig bewegte.

 

Ich bin nicht tot. Ich lebe. Daiton dachte eine Weile darüber nach und fand, das er sich darüber glücklich schätzen durfte. Vorsichtig bewegt er seinen Kopf zur Seite und versuchte, sich das transparente Plastikding irgendwie vom Gesicht zu schieben. Aber es gelang ihm nicht. Plötzlich tauchte an seinem Bett das verschwommene Gesicht einer Krankenschwester auf. Sie griff nach seinem Kopf, hielt ihn ruhig und entfernte es für ihn.

 

Wie fühlen Sie sich, Mr. Vennedey? Geht es Ihnen schon besser? Wenn Sie sprechen können, dann reden Sie mit mir. Tun Sie sich aber keinen Zwang an und überanstrengen Sie sich nicht?“ sagte die Frau mit mahnender Stimme.

 

Mister Vennedey? Woher kennt sie meinen Namen? Und sie hat mich mit ‚Mister’ angeredet. Irgendwie hörte sich das fremd an, dachte Daiton so für sich und versuchte seinen Kopf zu wenden, um die Krankenschwester in sein Blickfeld zu bekommen. Der trübe Schleier vor seinen Augen war mittlerweile verschwunden. Die Schwester an seinem Bett war schon ein älteres Semester, hatte leicht angegrautes Haar und trug einen hellgrünen Kittel mit kurzen Ärmeln. Doch ihre Gesichtszüge waren gutmütig.

 

Mr. Vennedey?

 

Die Krankenschwester ließ nicht locker und wartete immer noch auf eine Antwort.

 

Wollen Sie von mir wissen, dass ich nicht tot bin?“ fragte Daiton mit krächzender Stimme und sprach nicht weiter, weil ihm der Hals schmerzte.

 

Ach was, Mr. Vennedey. Sie sind nicht tot. Wir mussten Sie allerdings wieder zusammenflicken. Sie hatten einige tiefe Fleischwunden, die sie fast umgebracht hätten. Aber Sie werden wieder gesund werden. Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr? Sie werden nicht einmal Folgeschäden davon tragen. So, ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze gegen die Schmerzen. Danach verlegen wir Sie auf ein anderes Zimmer. Die Zeit auf der Intensivstation ist vorbei. Und bleiben Sie mir inzwischen hier schön liegen. Übrigens hat ein junges Mädchen nach ihnen gefragt. Sie nannte sich Shirley Sutherland. Wenn wir Sie verlegt haben, werde ich das Mädchen rufen und euch beide eine Weile allein lassen.“

 

Die Schwester gab Daiton eine Injektion in die Hüfte, verließ den Raum mit erhobenem Zeigefinger und lachte dabei.

 

Kaum war sie draußen, versuchte er sich aufzurichten. Aber es gelang ihm nicht. Die Schmerzen waren einfach zu groß. Daiton legte sich deshalb zurück und wartete geduldig darauf, dass er verlegt wurde. Nach einer Weile kam ein Krankenhelfer und rollte ihn in ein freies Krankenzimmer. Während er das Bett an die Wand schob und diverse Kabel und Schläuche anschloss, fragte sich Daiton, wie lange er wohl weg gewesen war. Ein Jahr, zwei Jahre oder länger? Verwirrt blickte er sich um und suchte nach einem Kalender an der Wand. Leider ohne Erfolg.

 

Als der Krankenhelfer mit seiner Arbeit fertig war verließ er den Raum, wünschte dem jungen Mann aber vorher noch eine gute Genesung.

 

Plötzlich ging die Tür wieder auf. Ein junges Mädchen steckte ihren schwarz behaarten Kopf durch den sich langsam öffnenden Türspalt.

 

Shirley!“ krächzte Daiton aufgeregt. Sein Gesicht hellte sich urplötzlich auf.

 

Als das Mädchen näher kam, konnte man es ihr deutlich ansehen, welche Angst sie um ihren Freund ausgestanden haben musste. Ihre Gesichtszüge waren etwas eingefallen, ihre Augen gerötet. Sie war sichtlich erleichtert, dass es ihm gut ging und er noch lebte. Daiton Vennedey dagegen war froh, sie endlich wieder zu sehen. Er liebte seine bildhübsche Freundin über alles, die jetzt mit großen Schritten auf ihn zueilte und ihn freudig begrüßte.

 

Dann ergriff Shirley seine Hand, setzte sich auf die Bettkante und erklärte ihrem Freund, dass er bald wieder gesund werden würde. Doch irgendwie hörte Daiton nicht hin, was sie zu ihm sagte. Er freute sich über ihre Gegenwart, denn er hatte sie die ganze Zeit sehr vermisst.

 

Dann unterbrach er ihren Redefluss. Sie hatte sich nämlich gerade darüber beklagt, dass er viel zu dünn für seine Größe sei und besser essen solle. Aber junge Männer in seinem Alter seien wohl einfach zu faul, etwas Vernünftiges zu sich zu nehmen.

 

Daiton musste tief Luft holen. Seine Stimme klang ehr wie ein altes Reibeisen. Das junge Mädchen war mittlerweile verstummt und wartete auf seine Frage.

 

Shirley, welches Jahr haben wir?“

 

Welches Jahr? Warum fragst du mich das ausgerechnet jetzt? Spielt das überhaupt im Moment eine Rolle? Du hast vielleicht Nerven.“

 

Das junge Mädchen kicherte nervös.

 

Nun sag’ es schon, Shirley!“ bat der junge Mann mit gepresster Stimme.

 

Den 26. August 2008.“

 

Sie blickte dabei auf ihre Uhr und sah dann zu Daiton hinüber. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter.

 

Wir waren fast zwei Jahre ohne großen Zeitverlust unterwegs, haben eine ganze Menge Planeten im Universum besucht und sind dabei kaum gealtert. Hättest du das letzte Mal nicht den falschen magischen Zauberspruch vorgelesen, wärst du auch nicht hier im Krankenhaus gelandet. Die scharfkantigen Felsen des zuletzt besuchten Planeten haben dich fast umgebracht. Der Trägerstrahl nimmt keine Rücksicht auf dich, wenn du zu weit weg bist. Stell’ dich also in Zukunft bitte immer direkt vor eines dieser magischen Sternentore, ganz egal auf welchem Planeten du bist. Das ist ganz wichtig, Daiton! Außerdem hast du mich in einen schwarzen Adler verwandelt. Das nächste Mal werde ich den magischen Spruch selbst vorlesen. Ich will sicher gehen, dass unsere weitere Reise ohne Zwischenfälle verläuft.“

 

Daiton runzelte verlegen die Stirn, hob seinen Kopf etwas an und blickte suchend im Krankenzimmer herum.

 

Wo sind unsere Sachen geblieben?“ fragte er das junge Mädchen mit den schwarzen Haaren.

 

Wenn du das magische Zauberbuch meinst, dann kann ich dich beruhigen, mein Liebster. Ich habe es natürlich mitgebracht.“

 

Erleichtert atmete Daiton auf.

 

Noch während Shirley mit ihm redete, deutete sie mit der rechten Hand auf eine große Stofftasche hin, die neben ihr auf dem Holztisch lag. Mit flinken Griffen holte sie das uralte magische Buch mit dem brüchigen Leder daraus hervor, legte es behutsam aufs Bett und blätterte solange darin herum, bis sie die Seite mit einem ganz bestimmten Zauberspruch gefunden hatte. Mit leiser, aber deutlicher Stimme wiederholte sie jedes magische Zeichen, das dort geschrieben stand.

 

Es war ein Zauber der Heilung und der schnellen Genesung.

 

Kurze Zeit später verschwanden die tiefen Fleischwunden eine nach der anderen an Daitons Körper auf wundersame Weise, bis er zum Schluss wieder dazu in der Lage war, aus dem Bett aufzustehen. Er holte seine Kleidung aus dem Schrank und zog sich in aller Ruhe an. Er spürte dabei, wie er von Sekunde zu Sekunde kräftiger wurde. Auch die Haut fing zu prickeln an. Das Leben kehrte in ihm zurück und bald hatte der magische Zauber seine Gesundheit wieder völlig hergestellt.

 

Shirley beobachtete Daiton zufrieden. Dann blickte sie ihn tief in die Augen.

 

Gerade, als sie was sagen wollte, legte Daiton den Zeigefinger seiner rechten Hand auf ihren Mund und wies auf die Tür.

 

Beeilen wir uns, bevor jemand vom Krankenhauspersonal kommt. Ich will nicht, dass man uns dabei ertappt, dass wir ein magisches Zauberbuch bei uns haben. Allerdings würde ich gerne etwas essen und trinken wollen, bevor wir den nächsten Planeten besuchen. Wir müssen übrigens diesmal nach Stonehenge, dem magischen Steinkreis in England. Da fällt mir etwas ein. Was hältst du davon, wenn wir mal wieder ein gutes Speiserestaurant besuchen würden, sagen wir mal im alten London um 1800 oder so, Shirley?“

 

Das junge Mädchen schaute ihren Freund verblüfft an.

 

Kannst du Gedanken lesen? Ehrlich gesagt ist mir auch nach Essen und Trinken zumute. Ich werde gleich nach der Zauberformel suchen.“

 

Shirley blätterte zügig in dem uralten magischen Buch herum. Es schien ihr diesmal dabei zu helfen, die richtige Seite zu finden. Schon nach kurzer Zeit stieß sie auf einen Text, der sich mit Reisen in die Vergangenheit befasste und dazu auch gleich den entsprechenden Zauberspruch dafür bereit hielt. Man musste nur den jeweiligen Ort und das gewünschte Datum hinzufügen.

 

Wie wäre es mit London des Jahres 1875? Sicherlich gab es auch damals schon vorzügliche Restaurants, in denen man gut speisen konnte. Die passende Kleidung dafür werden wir uns mit einem Kleiderzauber besorgen. Einverstanden damit, Daiton? Vielleicht treffen wir bei dieser Gelegenheit auf Vincent van Gogh, der damals in London gewohnt hat. Du weist doch, dass ich seine Bilder liebe und ein großer Fan von ihm bin.“

 

Deine Ideen sind wie immer einfach umwerfend, Shirley. Lies den Zauberspruch am besten gleich vor. Ich glaube Schritte draußen auf dem Flur gehört zu haben.“

 

Das hübsche Mädchen las die Zauberformel laut und deutlich vor. Wenige Augenblicke später verschwanden die beiden jungen Leute von der Bildfläche, als hätte sie der Boden verschluckt.

 

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Ein Arzt und eine Krankenschwester betraten gemeinsam den Raum und sahen sich verwundert nach allen Seiten um. Das Krankenbett war leer, ihr Patient war nicht mehr auf seinem Zimmer.

 

Ich schwöre, dass dieser Mr. Vennedey vorhin noch da war. Der Krankenpfleger kann das bestätigen, Herr Stationsarzt. Er muss mit diesem Mädchen ausgebüchst sein. Wir müssen die beiden finden, bevor sie das Krankenhaus verlassen können.“

 

Dann informieren sie sofort das Sicherheitspersonal. Sie sollen überall nach ihnen suchen und alle Ein- und Ausgänge sofort sperren lassen.“

 

Ich werde alles in die Wege leiten, Herr Doktor. Ich bin mir ganz sicher, dass wir unseren Patienten bald wiederfinden werden.“

 

Wortlos nickte der Doktor und verließ verärgert das Zimmer.

 

Daiton Vennedey und Shirley Sutherland befanden sich zu dieser Zeit aber schon längst im London des Jahres 1875 und waren trotz des regnerischen Wetters gut gelaunt auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant. Schnell wurden sie fündig.

 

Unter dem weiten Regenmantel, in einer Wasser geschützten Tasche des jungen Mannes, befand sich das uralte magische Buch. Es sollte die beiden noch am gleichen Tag nach Stonehenge bringen, dem magischen Steinkreis in der Nähe von Amesbury in Wiltshire, der in Wirklichkeit ein altes Sternentor war.

 

Natürlich mit einem entsprechenden Zauberspruch, und nur im Schutze der Nacht, versteht sich.

 

Und wer weiß. Vielleicht werden die beiden auf ihrer Reise durch Raum und Zeit sogar auf den keltischen Druiden und Magier Ruairidh treffen, denn der hatte Stonehenge im Mittelalter auch schon als Tor zu den Sternen benutzt, das uralte magische Zauberbuch aber auf der Erde zurück gelassen.

 


ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter


 

 

 

7. Denn sie wollen nicht allein sein


 

Eine gewaltige Armee schlängelte sich durch das grüne Tal; die farblich unterschiedlich bemalten Fahnen an der Spitze des Heerzuges wehten in der warmen Sommerbrise, Männer mit umgehängten Trommeln schlugen den Takt für die Soldaten, die hinter ihnen marschierten. Die meisten von ihnen trugen schwere Bronze Kürassen und hohe Stiefel. Bewaffnet waren sie entweder mit vier Meter langen Speeren oder einem Wehrgehänge mit einer Streitaxt, einem Schwert und einen quadratischen Schild. Nur die begleitenden Offiziere ritten auf Pferden, die alle einen fein gearbeiteten, leichten Panzer trugen. Das Sonnenlicht wurde von den mit Gold und Emaille besetzten Ledersättel sporadisch reflektiert.


Es war Krieg.


DER UNBEKANNTE stand bewegungslos im Schatten einer alten Eiche, die hoch droben auf einem grünen Hügel stand und blickte auf die vorüberziehende Kolonne.


Es hatten in der Tat große Veränderungen stattgefunden, dachte er für sich und trat einen Schritt zurück, um nicht entdeckt zu werden.


Während DER UNBEKANNTE den zielstrebigen Marsch der Armee beobachtete, die letzten Trosswagen, von trägen Mulis gezogen, holpernd auf dem ausgefahrenen Weg weit unter ihm vorbeizogen und die dumpfen Schläge der Trommeln echoartig erstarben, wie der ferne Pulsschlag eines sterbenden Riesen, sann er über die Menschheit nach, deren Schicksal seine Rasse nicht aufhalten konnte. Sie waren nur dazu imstande, die Geschichte der Menschheit auf dem Planeten Erde wie interessierte Zuschauer zu beobachten.


Ein direktes Eingreifen war ihnen wegen ihrer besonderen mental Energie förmigen Struktur nicht möglich, was sie allerdings auch gar nicht beabsichtigten. Sie wollten nur unbemerkt in der Nachbarschaft von körperlichen Wesen leben. Mehr nicht.


Gleichmütig ging DER UNBEKANNTE auf einen erhöhten Felsen am Ende des Hügels zu und blieb auf ihm stehen. Von hier oben aus konnte er das gesamte Land bis zum weiten Horizont übersehen, wo überall schwarze Rauchfahnen den Himmel verdunkelten. Weit ab rechts von ihm befand sich ein fließendes Gewässer, dessen träge vorbei ziehendes Wasser ihn irgendwie daran erinnerte, dass der Fluss der Zeit in ähnlicher Weise fließt. Nur galt das nicht für seine Existenz.


Er dachte darüber nach, dass es für ihn, der so viele Äonen von Jahren gesehen hatte, eigentlich kein Maß für seine Lebensdauer gab, um sagen zu können: „Ich bin alt.“


Auch hatte DER UNBEKANNTE viele Namen und seine Natur war einzigartig. Er war keinem der bekannten Naturgesetze, ebenso irgendwelchen anderen einschränkenden Grenzen, wie denen von Raum und Zeit, unterworfen.


Als die Sonne hinter dem Horizont versank, ging DER UNBEKANNTE zurück auf den Hügel, wo der alte Eichenbaum stand und verschwand irgendwo dahinter im Nichts.


***

Eine gewaltige Armee schlängelte sich durch das grüne Tal; die schweren Panzerfahrzeuge waren olivgrün bemalt und an der Spitze des Heerzuges wehten in der warmen Sommerbrise einige kleine Fahnen, die an langen Antennen angebracht waren. Ihre rasselnden Stahlketten hallten durch die Umgebung.


Unzählige Mannschaftstransporter brachten schwerbewaffnete Soldaten an die Front, die sich irgendwo am fernen Horizont befand, wo immer wieder gewaltige, feuerrote Explosionsblitze aufleuchteten, gefolgt von krachenden Donnerschlägen.


Die meisten der Männer waren mit mattgrünen Stahlhelmen, ebenso mattgrünen Kampfanzügen und schusssicheren Panzerwesten ausgerüstet, die jeden Sonnenstrahl absorbierten. Über ihnen flogen ständig Gruppen von Hubschraubern, die ihre Raketen in die umliegende Gegend abfeuerten.


Es war schon wieder Krieg.


DER UNBEKANNTE stand abermals bewegungslos im Schatten der alten Eiche, die hoch droben auf dem grünen Hügel stand und blickte auf die vorüberziehende Militärkolonne.


Es hatten in der Tat schon wieder große Veränderungen stattgefunden, dachte er für sich und trat einen Schritt zurück, um nicht entdeckt zu werden.


Während DER UNBEKANNTE den zielstrebigen Marsch der Armee beobachtete, die letzten Panzer- und Mannschaftstransportfahrzeuge auf der gut ausgebauten Teerstraße weit unter ihm vorbeizogen und das hässliche Rasseln der metallenen Panzerketten langsam echoartig wie das Röcheln eines sterbenden Riesen verebbte, sann er darüber nach, wann er und seine Rasse diesen Ort wieder verlassen müssten.


Gleichmütig ging DER UNBEKANNTE auf einen erhöhten Felsen am Ende des Hügels zu und blieb auf ihm stehen. Von hier aus konnte er das gesamt Land bis zum weiten Horizont übersehen. Weit ab rechts von ihm befand sich immer noch das fließende Gewässer, dessen träge vorbei ziehendes Wasser ihn abermals an den unabänderlichen Lauf der Dinge in Raum und Zeit erinnerte.


Er dachte wieder darüber nach, dass es für ihn, der so viele Äonen von Jahren gesehen hatte, eigentlich kein Maß für seine Lebensdauer gab, um sagen zu können: „Ich bin alt.“


Auch hatte DER UNBEKANNTE viele Namen und seine Natur war einzigartig. Er war keinem der bekannten Naturgesetze, ebenso irgendwelchen anderen einschränkenden Grenzen, wie denen von Raum und Zeit, unterworfen.

 

Als die Sonne hinter dem Horizont versank, ging DER UNBEKANNTE zurück auf den Hügel, wo der mittlerweile uralte Eichenbaum noch immer stand und verschwand irgendwo dahinter im Nichts.


***

Was ist Zeit?


Wie viele Jahrhunderte, Jahrtausende waren schon vergangen?


Es war eine Welt des unheimlichen Schweigens. Es war ein blinde Welt. Es war eine kalte Welt.


DER UNBEKANNTE stand wieder am gleichen Ort, wo einmal die knorrigen Ästen der uralten Eiche in den Himmel ragten, die jetzt nicht mehr war. Zögernden Schrittes wagte er sich in diese neue Welt hinaus. Als er endlich den Hügel verlassen hatte und den Schnee bedeckten Felsen bestieg, musste er gegen eine aufkommende Panik ankämpfen, die ihn wie in wilden Energiewogen überrollte. Selbst jetzt bei Nacht, im Schein des Mondes, konnte er erkennen, dass sich die gesamte Umgebung bis zum fernen Horizont in eine gewaltige Eisfläche verwandelt hatte.


Die Menschheit muss wohl in einer langen Kette wütender Kriege den Planeten Erde endgültig zerstört haben. Der letzte aller Kriege aber war ein fürchterlicher Atomkrieg gewesen. Die Winter wurden plötzlich kälter. Bald gab es keinen Sommer mehr und das Eis staute sich Hunderte Meter hoch an. Eine neue Eiszeit war angebrochen, verursacht durch die Unvernunft des Menschen. Jetzt war es bereits zu spät für eine Umkehr.


Die Menschen begannen zu fliehen, als das vorrückende Eis seine unerbittlich kalte Hand nach ihnen ausstreckte. Es setzte eine wahre Massenwanderung in die wärmeren Gegenden der Erde ein. Jeder hoffte, er könne dem weißen Tod entkommen. Aber das Klima änderte sich nicht. Es wurde noch schlimmer. Die Macht des Eises überzog bald den ganzen Planeten, tödliches Schweigen nach sich ziehend.


Für immer.


DER UNBEKANNTE stand da und betrachtete mit traurig dreinblickenden Augen die tote Welt zu seinen Füssen, wo sich eine unendlich lange Kette von seltsam aussehenden Geschöpfen durch das eisige Tal schlängelte. Sie alle sahen aus wie er. Sie hatten keinen Körper, sondern bestanden nur aus einer milchig weißen Energiewolke, die von der Form und der Größe her die eines Menschen ähnelte.


Sie schwebten nur wenige Zentimeter dicht hinter einander über den mit Eis und Schnee bedeckten Frostboden, bis sie schließlich den weit entfernten Horizont erreichten, wo sie gemeinsam himmelwärts aufstiegen und schließlich in der Unendlichkeit eines Sternen übersäten Universums verschwanden.


Irgendwo da draußen würden sie einen neuen Planeten mit aufkeimendem Leben finden.


Dessen waren sie sich ganz sicher.


Denn sie wollen nicht allein sein...

 

Ende

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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