Steffen Herrmann

Marina

Irgendwann ging ihm das alles auf die Nerven. Der Staat störte ihn, an den er Steuern zahlen musste. Die Menschen störten ihn. Es waren zu viele und meistens waren sie nicht so beschaffen, wie er das wünschte. Die Strassen störten ihn mit ihren lauten Autos und sogar die Bäume nervten.

Dass er sich an Regeln halten musste, die er nicht selbst geschaffen hatte, war zwar zu einer Gewohnheit geworden. Aber es blieb eine Zumutung. Es war die Zumutung überhaupt!

 

Er beschloss, sich seinen eigenen Staat zu bauen. Eines Abends nahm er ein Blatt Papier und schrieb die ersten Paragraphen auf. Er war kein Jurist, aber das machte nichts. Es ging in der Hauptsache nur darum, wie ein Staat beschaffen sein musste, in dem er gern leben würde.

«1. Dies ist die Verfassung des Staates Marina.»

Gehörte das überhaupt in den Text als eigener Paragraph? Egal.

«2. Marina ist ein Königreich.»

Ted definierte eine absolute Monarchie mit sich selbst an der der Spitze (Wer denn sonst?).

Es wurde ein Königreich eher chinesischen Typs. Der König stützte sich auf eine Schicht von Beamten (Mandarine), die durch ein Qualifizierungsverfahren gelaufen waren oder von ihm ernannt wurden. Sie wurden wiederum durch eine Klasse von Inspekteuren kontrolliert, die allein an den König berichteten.

 

Nachdem die Idee ihm fast über Nacht gekommen war, setzte er sie, wie alles zuvor in seinem Leben, mit eiserner Konsequenz um.

Er rechnete gut, doch scherte sich wenig um die Kosten. Wozu hatte er denn all seine Milliarden?

Zunächst suchte er sich einen Ingenieur. Das dauerte ein paar Wochen, doch schliesslich fand er Thomas. Thomas war jung (kaum fünf Jahre Berufserfahrung), smart, effektiv und er liebte indiskrete Fragen.

Dann suchte er sich eine Frau. Ted reiste in ein armes Land, knüpfte Kontakte zur Bevölkerung und hielt nach einer Frau Ausschau, die ihm Kinder gebären würde und keine komplizierten Gedanken hatte. Schliesslich fand er Udé, die bereit war, mit ihm zu kommen. Sie nervte ihn nicht.

 

Die Basis von Marina war eine grosse Menge Kunststofffässer. Der Staat war kreisförmig und hatte eine Grösse von neun Quadratkilometern. Das sollte vorerst reichen.

Schliesslich legten sie ab. Als sie das internationale Gewässer erreichten, hissten sie ihre Fahne. Ted setzte sich und betrachtete lächelnd seinen Pass, den er selbst entworfen hatte. Mit der Nummer eins.

 

Die erste Zeit war famos. Ted hatte einige seiner engeren Kollegen mitgenommen (Freunde hatte er keine) und seine Frau, natürlich. Sie widmeten sich dem Fischfang und dem Aufbau der Gewächshäuser. Dort züchteten sie pflanzliche Nahrung auf Laborbasis. Es schmeckte wie Gemüse, Möhren, Radieschen, was auch immer, sah aber nicht so aus (Es war Granulat).

Häufig liefen sie die langen, leeren Wege der schwimmenden Plattform entlang und genossen die Leere. Die Sonnenuntergänge waren wunderbar.

 

Die diplomatischen Verhältnisse gestalteten sich etwas schwierig. Marina wurde von keinem einzigen der über zweihundert Staaten der Welt anerkannt. Nicht einmal Saudi-Arabien (immerhin die einzige andere absolute Monarchie) beantwortete ein entsprechendes Schreiben.

Ted gründete seine Firma neu unter dem Namen «Teds Robo-Software-Company» mit Sitz auf Marina.

 

Bald meldeten sich die ersten Gäste an. Ted liess Besucher-Visa drucken (Es musste alles seine Ordnung haben) und nahm die erste Delegation der Aussenwelt persönlich in Empfang (Sie war auf einer Yacht angereist, 120 Meter lang).

Nach einem Jahr hatte Marina etwas über tausend Einwohner. Viel mehr hatten sich beworben, doch die meisten schickte Ted nach einer Probezeit wieder nach Hause. Sein Urteil war gefürchtet, doch respektiert. Nicht immer waren die Gründe seiner Entscheidungen für die anderen verständlich.   

 

Die Mehrheit der Staatsbürger war Programmierer oder Linguisten. Frauen waren etwas in der Unterzahl, Kinder gab es kaum. Alte gab es gar nicht. Trotz der fehlenden Kinder war die Bevölkerung von Marina sehr jung.

Es kamen auch eine Menge von Robotern auf die Insel (mehr als Menschen), immerhin waren sie der Arbeitsgegenstand der Firma. «Teds Robo-Software» (TRS) hatte sich auf die sprachliche Schnittstelle von humanoiden Robotern der neuesten Generation spezialisiert.

Die kommunikativen Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz waren noch immer bescheiden, es ging nun darum, diese soweit aufzupeppen, dass sie «wie Menschen» reden und einen Turing-Test bestehen konnten.

 

Die wichtigsten Schlüsselpersonen von Teds alter Firma siedelten auf Marina an, der kleine Staat wurde zu einem Eldorado der kreativen technologischen Intelligenz. In dem es allerdings nur eine Firma gab.

Die Währung des Landes, der Marino erlebte einen kontinuierlichen Höhenflug. Er stieg und stieg und stieg und stieg.

«Na also», dachte Ted, «Endlich ein Staat ohne all die unfähigen Menschen.»

 

Natürlich blieb einem Land, das niemanden bedrohte und über eine sehr wohlhabende Bevölkerung verfügte (Es gab, auch wegen des Umtauschkurses, praktisch nur Dollar-Millionäre), die internationale Anerkennung nicht lange verwehrt.

Liechtenstein machte den Anfang, die Schweiz folgte wenige Tage später.

 

Eines Tages, Ted sass auf seinem Thron und schaute mit dem Fernglas auf Meer, da sah er sie. Eine schwimmende Plattform, weit entfernt, doch gut zu sehen. Eine andere schwimmende Insel, grösser noch als die seine.

«Was für ein Scheiss», dachte Ted.

 

 

  

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.10.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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