Aber ja, das war der reine Stumpfsinn! Du zähltest die Tage runter, vom ersten an. Da wollten alle gleich weg, wie vorher von der Schule. Und doch habe ich die Bundeswehrzeit nicht so erlebt, wie Leute sie erzählen, die selber aber nicht dort waren.
Weil es bei uns in der Basler Ecke keinerlei deutsches Militär gab, außer ein bisschen Luftwaffe, wo später mein Bruder hingekommen ist, aber Luftwaffe ist selten, ist elitär, dafür langte es bei mir nicht, hatte man mich weitab nach Pfullendorf verschoben, dort allerdings, da ich Abitur gemacht hatte, zur edlen Stabsbatterie. Pfullendorf ist eine ehemals badische Kleinstadt im Linzgau. Das ist in der Nähe von Sigmaringen, wo Winfried Kretschmann geboren wurde. Und wenn ihr sie sprechen hören könntet, würdet ihr sie für Schwaben halten, obwohl es badische Katholiken von nördlich vom Bodensee sind. Eine Batterie ist dasselbe wie eine Kompanie, nur eben bei der Artillerie, also denen mit den sehr langen Rohren. Seinerzeit lagerten auch Atomsprengköpfe der amerikanischen Freunde irgendwo draußen im Wald. Wir sahen sie nie. Wir sahen unsere Artillerie auch einmal feuern, aber das waren keine Atomsprengköpfe.
Ich war zwar in der Stabsbatterie, aber nicht wirklich in den Büros der Offiziere, sondern beim Funktrupp des Stabs, den dieser allerdings nur im Krieg benötigt hätte. Wenn überhaupt, denn außer uns Sprechfunkern, Bravo, Charlie, Delta, Echo, besaß der Stab auch noch Schreibfunker, verschlüsselt und unverschlüsselt. Und Telefone samt Kabeltrommelaffen. Weil ich bei oliv gestrichenen Funkmaschinen saß, die in Unimogs herumgefahren wurden, war mir beim Einrücken die Erlangung einer ins Zivile überschreibbaren Fahrerlaubnis in Aussicht gestellt worden. Jedoch blieb es ein ganzes und ein weiteres Vierteljahr immer nur bei dieser Aussicht. Aber ich war der Verantwortliche über zwei Wehrpflichtigen, weswegen ich am Ende zwei Pommes frites auf der oliven Schulterklappe hatte, sie nur einen.
Im Krieg hätten wir unter einem eingepflockten Tarnnetz gestanden und Nachrichten gefunkt. Mit dem Manöver kam auch mal dieses Netz und das Funken, aber wirkliche Nachrichten verschickten wir kein einziges Mal in der ganzen Zeit. Wir fuhren aus der Halle oder sogar hinaus aus der Kaserne und warfen das stinkende Stromaggregat an, kratzten mal wieder die Rostflecken unter den Blasen in der Tarnfarbe hervor und erfanden fantasiesprachige Sprüche, die niemand auffing.
In der Kantine gab es kurz nach 17 Uhr, Tageszeiten sind das wie im Altersheim, Schweinskopfsülze mit Bratkartoffeln sowie Pfefferminztee. Das Licht in den Stuben wurde um 22 Uhr ausgeschaltet. Sehr viele wohnten aber gleich um die Ecke, hinter Ostrach in Oberschwaben. Die konnten um 17 Uhr noch essen gehen oder gleich heim pesen. Die Heimschläfer.
In den Stuben gab es acht bis zehn Betten, wobei meist nicht alle vergeben waren, Stockwerkbetten, teils sogar drei übereinander. Zu jedem Bett einen verkratzen braunen Holzspind mit Vorhängeschloss, darüber hinaus einen Tisch, an welchem zwei Menschen Platz nehmen konnten, und ein oder zwei Blumentöpfe. Während der Freizeit hielt sich in diesen Stuben fast nie einer auf. Vielmehr erledigte man nach dem Abendessen noch dies und das, um sich schließlich, wie jeden Abend, unter dem Fernseher in der Kantine zu sammeln, wo es Bier gab und jede Sportübertragung eingeschaltet wurde.
Ich dagegen war abends oft draußen auf dem Feld und ging alleine spazieren. Die Kaserne lag abgetrennt von der Kleinstadt, an sich auf der Höhe, man musste vom Ort her aufwärts gehen, doch nur mit ihren technischen Bereich und Parkplatz der Zivilautos der Mannschaft sowie dem benachbarten Übungsplatz ganz auf der Hochebene, ansonsten in einen hinauf führenden Einschnitt versunken. Da man sie nur durchs Haupttor verlassen durfte, mussten wir vom hoch liegenden Stab erst hinab, dann um den eingezäunten Bereich herum wieder hinauf, um Freiland zu erreichen. Im tieferen Bereich war ein wenig Wald, doch oben kamen nur noch Felder und der Übungsplatz. Allein schon diese Topografie sorgte dafür, dass von den Soldaten fast nie einer ins Grüne oder auch ins Reichsstädtchen hinunter ging.
Ich hatte mir im Sommer eine Wolldecke aus BW-Beständen mitgenommen und meinen Kassettenrecorder, das war in einer Zeit vor Walkman, mich lang gelegt und hörte vielleicht Supertramp: „Even In The Quietest Moments I wish I knew what I had to do.“
Als der ganz normale hochschulreife Heterosexuelle hatte ich damals wohl so viele ebenso normale Jungensfreunde wie noch nie vorher und danach auch nie wieder. Dieses als Hinweis, warum es keine schlimme, sondern eine schöne Zeit war. In so einer Kaserne geht es gar nicht lange, bis man seinen festen Platz gefunden hat. Man weiß auf Monate hinaus exakt, wie alles geht und läuft. Ab da kann man sowohl Länderspiele gucken wie Anton Tschechow lesen, es gibt und nimmt sich nicht viel.
Eingesperrt und ihres strotzenden Lebens beraubt sind an solchem Ort ja alle und mit diesen anderen Leuten zusammen will auch keiner wirklich sein, aber so ist das eben und das eint einen. Später im Leben musste ich mir immer Vorwürfe machen für all die wertvolle Zeit, die immer nur ich verschwendete.
Einmal in der Woche war Staatsbürgerlicher Unterricht beim Batteriechef. Das war ein erzreaktionärer Macho. Er stauchte die jungen Männer mit Löwenstimme zusammen, pickte sich die Empfindlicheren heraus und demütigte sie vor der Menge. Soweit ich noch weiß, bin ich kein einziges Mal dran gewesen. Ich bin damals nicht aufgefallen. Offenbar hielt unser Herr sich höheren gesellschaftlichen Standes für würdig, hätte inmitten von Wesen stehen müssen, von denen er nur in der FAZ lesen konnte. Studieren hatte er nicht können, während dies doch die Stabsbatterie war. Viele von denen, denen er seins und, fairerweise sei es gesagt, auch das west-östliche Weltbild der FAZ eintrichterte, würden in Kürze genau das sein, junge Studenten in der Universitätsstadt, gefördert durch Mittel der sozialistischen SPD-Regierung.
In zornentflammter Wechselrede mit dem Schweigen seiner Abiturienten-Wehrpflichtigen lief er zur Hochform auf. Die Nicht-Abiturienten waren ihm hämisch lachendes, aber eigentlich unbedeutendes Publikum im Rachefeldzug seines Lebens. Du wusstest, dass dies immer nur zwei Stunden deiner Woche waren. Ansonsten spielte der Chef keine Rolle. Die Glücklicheren von den Abiturienten saßen droben in den Büros der Stabsoffiziere. Und wir vom Fernmeldezug schwangen die Rostbürsten weit hinten zwischen den Garagenhallen oder auf dem Standortübungsplatz.
Zwei Mal pro Kalenderjahr war dann auch Truppenübungsplatz Grafenwöhr, also einmal im Winter. Grafenwöhr ist in der Oberpfalz, wo es gegen die tschechische Grenze zu geht. Der Platz unterstand unseren amerikanischen Freunden. Erstmalig im Leben des jungen Erwachsenen Einkaufen im PX-Store, originale US-Ware. Die Mikrowelle, für mich eine Sensation, in welcher du den vollständig vorbereiteten Burger in zwei Minuten fertig machtest. Dazu kaltes Schlitz in der Dose und American Ice Cream aus der Faltschachtel gelöffelt. Als Artilleristen mussten die Pfullendorfer hin, weil sie irgendwo und irgendwann doch scharf schießen sollten. Mit Spannung von uns Wehrpflichtigen erwartet: Schießen mit einer Panzerfaust, der Bazooka. Es fiel dann leider aus wie mein Führerschein.
In den Schießstand neben dem Standortübungsplatz in Pfullendorf führte uns der Major jeden Freitag vormittag. Am Nachmittag, nach dem Putzappell, folgte die berühmte Nato-Rallye. Bei uns führte sie durch den Kanton Schaffhausen, daher durften wir niemals im Grünzeug fahren. Schießen mit der Uzi oder der Pistole fiel mir leicht. Auch mit scharfer Munition auf die Pappkameraden, worüber ich mir keine ethischen Bedenken wachsen ließ. Ich haute sie prima weg, sodass es irgendwann seitens des Batteriechefs einen Tag Sonderurlaub für mich gab.
In Sport und 20-Kilometer-Marsch mit Gepäck war ich natürlich nie gut. Während der sechs Wochen Grundausbildung in Lebach hatte ein Zeitsoldat-Unteroffizier seinen persönlichen Bimbo, den Gefreiten Jordan, dessen Namen mir als einziger im Gedächtnis geblieben ist, weil er sich mit großem Stoizismus darein schickte, vom halbwüchsigen Vorgesetzten vor Mannschaftsdienstgraden ein ums andere Mal zum Bimbo abgestempelt zu werden, dazu abgeordnet, mir mein G3-Sturmgewehr über die zweite Hälfte der Strecke zu tragen.
Obwohl ich von schwul nichts wusste beim Bund und nichts wissen wollte, wusste ich sehr genau, wer schön war. Unter den Unteroffizieren war einer mit diesen dunklen Augen und fast schwarzen Haaren, dem schütteren Jungenbärtchen über dem Mund und so einem knochigen Leib, mit einer Zusammenstellung also, die mir noch öfter zu schaffen machen sollte. Dieses schmale Katzengesicht vergisst sich nicht.
Es gibt so mythische Anekdoten, wie sie in ausschließlich männlichen Gesellschaften ewig und drei Tage überliefert werden. Wir hatten den Fernmeldezug-Oberleutnant, der von einer vor Jahren aus der Spur gelaufenen Soldatenfeier erzählte, schmatzend erzählte. Ein bis dorthin manierlich und unauffällig scheinender Soldat hätte sich als Striptease-Girl produziert, unter großen Gejohle sich bis aufs rosa Spitzenhöschen entblättert. Keine Frage, zu unserer Zeit passierte das nie. Wie auch nicht jenes klassische Seifenbücken unter der Dusche. Aber wieder und wieder wurde das erwähnt und dann gelacht. Wie in der Strafanstalt wahrscheinlich. Meine Schwierigkeit dabei war, dass ich das Gefühl hatte, ich würde die skandalöse Geschichte nicht voll verstehen, könnte aber nie fragen, weil es offenkundig mit Sex und zwar mit schwulem zu tun hatte.
Wir duschten nackt in der Gruppe, wobei ich mich durchaus wohl befand und die Ausstattungen der Kameraden mir auch anschaute. Wir hatten keine Seifenstücke. Jedenfalls, hätte man ein Seifenstück und würde man in der Kaserne oder im Knast duschen, dieses Stück auf den Boden fallen und man sich danach bücken, dann? Ja, ich war mir eben nicht sicher. Wenn es darum ging, einen Schwächeren festzuhalten und in den Hintern zu ficken, dann könnte die Männergruppe das eigentlich doch jederzeit tun, müsste nicht warten, bis die Seife fiel. Wenn das Seifenstück so wichtig war, dann vielleicht, weil es dem Opfer beim Akt in den Anus praktiziert wurde. Das blieb mysteriös.
Ein mausiger, blonder, pummeliger Bube, so ein sanfter, sich duckender Provinzler, wie sie sich seither noch oft in mich verguckt haben, offenbar weil ich selbst so ähnlich wirke, aber mir ist das zu spannungsarm, überrumpelte mich knapp vor Schluss durch die Gewitztheit, mit welcher er ein Abschiedsbesäufnis auszunützen versuchte. Keiner war nüchtern, als die Gruppe, von - natürlich - ausschließlich Abiturienten, die lange Kasernenstraße hinauf wanderte. Dort taumelte und stolperte er, suchte Halt und Lenkung von mir und beteuerte, er wäre so stark alkoholisiert, dass er nicht wisse, was er tue oder was mit ihm geschehe. Mir war das ein wenig peinlich unter den Kameraden. Oben in der Batterie hängte er sich mir vollends um den Hals, weder fände er alleine ins Bett, noch könnte er sich ausziehen. „Klaus, bitte hilf mir doch!“ Ich ging kurz mit in in die benachbarte Stube, verpackte ihn in Schlafanzug und Bett, wobei ich die Unterwäsche dran ließ. Wie man sich denken kann, lagen einzelne Schläfer, die nicht zur Clique gehört hatten, achtlos um uns herum. Die meisten allerdings waren sowieso nicht da, weil eben oberschwäbische Heimschläfer.
In jener Nacht wusste ich sehr genau, was es alles sollte. Ich dachte, wenn er mir wenigstens gefallen würde, würde ich ein bisschen rumspielen. Einige Wochen noch ging das mir nach, dass irgendwas an mir dran sein könnte, was einen wie ihn veranlasst hatte, sich aufdringlich und peinlich aufzuführen.
In diesem Zusammenhang sei noch ein unschöner Dicker aus in etwa derselben alemannischen Ecke wie ich erwähnt, welcher es längere Zeit vorher einige Male drauf gehabt hatte, in meiner Gegenwart mit dem dicken Arsch zu wackeln und „Olivia“ zu flöten. Dieses Olivia hatte ein schrilles, langes i und wendete sich mit jeder weiteren Wiederholung herausfordernder an meine Person, sodass Leute mich deswegen befragten. Etwa zwei Mal saß der lästige Spötter mitten unter uns, als wir zu viert oder fünft in der Sonntagnacht dem gut über hundert Kilometer entfernt gelegenen Pfullendorf zu pendelten. Er unterließ sein Olivia-Geblöke auch im Auto nicht. Wiederum konnte ich kein Wort sagen, denn irgendwas hatte das mit Homosex zu tun. Mir selbst wollte scheinen, er bezog sich auf den damals noch ziemlich bekannten Gesangsstar Olivia Newton-John und also auch auf John Travolta und dessen Schmiere im Haar und diesen weißen Anzug und die Bee Gees und alles Unmännliche, was seinerzeit fast modern noch war.
Damit hatte ich nichts zu schaffen. Sondern mit Supertramp und Manfred Mann und Anton Tschechow. Und ich blieb jungfräulich, während ich kurz Student war in Köln, länger in Freiburg. Erst mit 23 Jahren kam das Coming-out. Ein besonderer Anlass lässt sich auch in der Rückschau nicht feststellen, doch ging es, als die Erkenntnis eingetroffen war, weder bis zum ersten Sex noch zum ersten Freund sonderlich lange. Ich hatte nach Fotos von männlichen Models in Zeitschriften gesucht, hatte sie ausgeschnippelt, um sie für eine Collage zu verarbeiten, die ich meiner frauenbewegten Schwester schenken wollte. Nun saß ich auf dem Boden meiner Studentenbude und klebte halbnackte Jünglinge übereinander. Mir ging auf, dass mir die Ansichten meiner Schwester vergleichsweise egal waren, mehr jedenfalls als die Geilheit, die von diesen Körpern ausging. Als Student wusste ich, dass es in Freiburg für alles ein Buch gibt, also ging ich und kaufte „Schwul - na und?“
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.10.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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