***
Später, viel später...
„Hey aufwachen, McCorney!“
Im Schlafzimmer war es dunkel. Die Stimme kam von irgendwo her.
„Wer ist da? Wie spät ist es? Wo bin ich überhaupt?
McCorney versuchte verzweifelt herauszufinden, wo er sich eigentlich befand. Er war vom Schlaf verwirrt. Er wähnte sich immer noch in seinem Schlafzimmer.
„Wer ruft da?“ fragte er schließlich.
„Ich, McCorney! - Siehst du mich nicht? - Hier bin ich!“
McCorney saß jetzt in seinem Bett und starrte ängstlich in die Dunkelheit hinein. Seine Gedanken wirbelten im Kreis herum.
„Wo?“
Plötzlich sah McCorney einen kleinen Lichtpunkt am anderen Ende des Zimmers. Er kam näher und näher. Dann wurden die Umrisse einer schattenhaften Gestalt sichtbar. Das Licht schwenkte rauf und runter, als würde jemand schnell auf ihn zu gehen.
„McCorney?“
„Ja, hier! Ich sitze in meinem Bett.“
Der helle Lichtkegel fingerte unruhig über den kalten Fußboden. Dann leuchtete McCorney jemand direkt in die Augen.
„Ach hier steckst du!“
„Ja! – Ich kann nichts sehen. Bitte halte deine Taschenlampe nicht in mein Gesicht! Mir tun die Augen weh.“
„Oh, entschuldige McCorney! Ich wusste nicht, wie empfindlich du geworden bist. - Rücksichtslosigkeit liegt mir eigentlich nicht!“
McCorney konnte auf einmal die Gestalt deutlich ausmachen. Sie stand direkt vor ihm, eingehüllt in einen langen, wallenden Umhang. Sie war schlank, sehr groß und hatte ein seltsam weißes Gesicht.
McCorney bekam es mit der Angst zu tun. Er wollte nach seiner Frau Mary rufen, aber seine Stimme versagte.
Dann krächzte er: „Wer bist du? Was willst du von mir?“
„Ja, ja, der alte Haudegen McCorney. Früher warst du cooler. Dachte ich’s mir doch! – Liegt hier in seinem warmen Bett und schläft sich gemütlich ins Vergessen.“
Die Gestalt kam noch näher. Eiskalt war der Hauch ihres Atem.
„Kannst du dich denn wirklich nicht mehr an mich erinnern? Ich war doch schon öfters bei dir.“
McCorney wollte aus seinem Bett springen und aus dem Zimmer rennen, doch seine Beine waren wie gelähmt.
„Tu mir nichts, bitte!“ schienen seine weit aufgerissenen Augen zu schreien.
Dann packte ihn die Gestalt, griff mit ihren langen, knöchernen Fingern nach seinem Hals und wollte ihn brutal zu sich heranziehen.
„Hilfe! So helft mir doch!“ schrie McCorney wie wahnsinnig.
Er schlug plötzlich wild um sich, traf mit seinen zusammengeballten Fäusten das fahlweiße Knochengesicht der modrig stinkenden Gestalt und trat es mit den blanken Füßen. Dann rammte er, ohne es überhaupt richtig zu bemerken, seinen rechten Ellbogen in den holen Magen des Unbekannten, umklammerte dabei instinktiv mit der linken Hand die hölzerne Bettkante und hielt sich mit aller Kraft daran fest.
Die Gestalt in dem langen Gewand zerrte weiter an ihm herum, aber McCorney ließ die Bettkante nicht mehr los.
„Aah..., helft mir doch! Bitte...!“
„Sieh mich an, McCorney! Ich bin’s doch nur, Gevatter TOD! Mich schicken deine Napalmopfer zu dir, die du mit deinen schrecklichen Brandbomben im Krieg so grausam verstümmelt hast. Sie lassen mir einfach keine Ruhe und drängeln mich unablässig dazu, dich zu holen.“
McCorney ließ sich nach hinten zurückfallen, griff plötzlich zum Kissen und presste es vor sein schweißnasses Gesicht. Tränen liefen über seine faltigen Wangen. Bald schüttelte er sich vor hilflosen Weinkrämpfen.
Wieder dieser schreckliche Albtraum, dachte er voller Entsetzen.
Dann ging auf einmal das Licht im Schlafzimmer an. Seine Frau Mary stand in der Tür. Ihr weites Nachthemd wehte wie eine weiße Fahne im Durchzug leicht hin und her.
„Was ist denn mit dir los, Steve? Mein Gott, du bist ja kreidebleich im Gesicht. Hattest du wieder einen deiner schlimmen Albträume?“
McCorney hatte jetzt das Kopfkissen ganz fallen gelassen. Er blickte verstört zu seiner Frau rüber und nickte mit dem Kopf.
„Mary, der Traum, ich hatte einen schrecklichen Traum..., einfach fürchterlich! ER war hier..., der TOD..., hier in meinem Schlafzimmer.“
Seine Frau Mary kam jetzt zu ihm herüber, setzte sich auf die harte Bettkante und streichelte ihren Mann über die nass geschwitzten Haare. Dann küsste sie ihn zärtlich auf die Stirn und umarmte ihn dabei.
„Es tut mir leid Steve, aber es ist kein Traum...“ sagte sie auf einmal mit seltsam flüsternder Stimme, während sie sich langsam in die modrige Gestalt des kalt hauchenden Todes verwandelte.
Steve McCorney zuckte wie von einem Donnerschlag getroffen zusammen. Sein trockener Mund öffnete sich zu einem lautlosen, verzweifelten Schrei, dann sackte er wortlos in sich zusammen.
Sterbend röchelte McCorney nach Luft. Sein Körper verkrampfte sich wie zu einem zuckenden Fragezeichen. Noch einmal riss er die Augen weit auf, dann schloss er sie für immer.
Die vielen grässlich verbrannten Männer, Frauen und Kinder, die sich unterdessen an seinem Totenbett versammelt hatten und gierig nach seiner von Schuld beladenen Seele griffen, bemerkte er nicht mehr.
Ende
©Heinz-Walter Hoetter
Das ist eine fiktive Kurzgeschichte
Der nasskalte Morgen in Berlin begann mit einem heftigen Regenschauer.
Mittlerweile war es Ende Februar geworden, und der Winter befand sich immer mehr auf dem Rückzug. Dagegen verdeckten graue Regenwolken die meiste Zeit den den trüben Himmel über dieser deutschen Metropole und die allgemeinen Temperaturen waren eigentlich zu warm für diese Jahreszeit.
Die Menschen regten sich allerorten über das schlechte Wetter auf. Nichtsdestotrotz mussten sie es hinnehmen wie es war und sich damit zufrieden geben, was die Natur für sie an Klimakapriolen bereit hielt.
Wegen des miesen Morgenwetters hasteten die Stadtbewohner mit hochgezogenen Schultern und eng anliegenden Mantelkragen durch den stickigen Dschungel aus Straßen und Gebäuden. Niemand hatte auch nur einen Blick für den anderen. Deshalb bemerkte auch keiner die Gestalt, die aus einem altmodisch aussehenden Auto stieg und wie beiläufig in der regennassen Umgebung aufmerksam herumschaute.
Ein paar Sekunden später ging die Person ans Ende des geparkten Fahrzeuges, öffnete den Kofferraumdeckel und holte eine länglich aussehende, schwarze Tasche heraus. Die ominöse Gestalt, ein etwa fünfunddreißig Jahre alter Mann, schulterte das Gepäckstück und steuerte schließlich direkt auf den Eingang eines ziemlich herunter gekommenen Hotels zu, das in einer dunklen, nur diffus beleuchteten Seitenstraße lag.
Vor dem überdachten Eingang des schäbigen Hotels stand ein fettleibiger Portier, der den heran nahenden Mann aus wässerigen Augen aufmerksam beobachtete. Kaum stand der Gast vor ihm sagte er zu ihm: "Hier wird im Voraus bezahlt! Eintragung in die Gästeliste nur auf Wunsch. Kostet allerdings etwas mehr. Ist das klar? Außerdem dulden wir keine Weiber auf dem Zimmer! Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, dürfen Sie sich gleich wieder umdrehen und Leine ziehen, mein Herr!"
"Ich akzeptiere natürlich. Ich werde ihnen deshalb auch keine Unannehmlichkeiten bereiten."
"In Ordnung, dann gehen Sie bitte zur Kasse rüber! Die liegt genau in dieser Richtung, gleich gegenüber von unserem Standort. Die Dame an der Rezeption wird Sie dort in Empfang nehmen", sagte der Portier und ließ den Mann mit der umgehängten Langtasche passieren.
Als der neue Gast vor der sich reserviert benehmenden schon etwas älteren Frau stand, forderte sie von ihm mit herrischer Stimme sofort die übliche Kreditkarte an. Der unbekannte Mann griff in seine rechte Brusttasche, zog eine goldfarbene Bankkarte daraus hervor und legte sie demonstrativ auf die Theke. Aufmerksam beobachtete er die Reaktion der grauhaarigen Hotelrezeptionistin.
Gierig fingerte diese nach der Geldkarte, steckte sie geübt in den Schlitz eines Computers und wartete ab was passieren würde.
Einen Moment später weiteten sich ihre Augen und ihr Verhalten wurde schlagartig freundlicher. Offenbar befand sich auf der Kreditkarte eine ziemlich hohe Summe an Guthaben. Dann sagte sie mit höflich gespielter Stimme: "Sir, wenn Sie es wünschen, gebe ich Ihnen unser bestes Zimmer oben im fünften Stockwerk. Von da aus haben Sie einen fantastischen Blick über die ganze Stadt, da unser Hotel zudem noch auf einer kleinen Anhöhe steht und somit alle anderen Gebäude weit genug überragt. Ich sehe gerade, dass in der fünften Etage noch ein sehr komfortables Zimmer frei ist."
Der Gast nickte zustimmend mit dem Kopf und nahm die Codekarte für das besagte Hotelzimmer wortlos entgegen. Die alte Dame zog den Rechnungsbetrag vom Guthaben ab und reichte die Geldkarte an seinen Besitzer zurück und deutete auf den Aufzug gleich neben der Rezeption.
Der Mann setzte sich in Bewegung und steuerte direkt auf den Fahrstuhl zu. Im fünften Stock stieg er aus und marschierte zielstrebig den langen Korridor entlang. Irgendwie roch es hier oben nach abgestandener Luft. Aber das störte ihn nicht weiter. Endlich erreichte er die Tür mit der Nummer 510, zog die Codekarte durch das elektronische Schloss und stand nur wenige Sekunden später im tadellos hergerichteten Zimmer.
Der neue Hotelgast stellte seine Langtasche behutsam auf dem Boden ab und trat ans Fenster. Die alte Empfangsdame hatte recht gehabt. Der Blick über die Stadt war perfekt. Fast jede Straße und jede Kreuzung konnte er ohne Schwierigkeiten einsehen. Zufrieden ließ er sich auf das weiche Bett fallen, das in der rechten Ecke gleich neben dem Fenster stand.
Nach einer Weile stand er wieder auf, öffnete die lange Tasche und breitete den Inhalt vor sich auf dem Bett aus. Dann begann er vorsichtig damit, die einzelnen Teile einer Waffe zusammenzubauen, die sich bald als ein hochmodernes Scharfschützengewehr entpuppte. Nachdem alles zusammengesetzt war, kontrollierte der Mann ein letztes Mal seine Spezialwaffe mit Schalldämpfer, steckte das geladene Magazin in den Magazinschacht und lud durch. Danach ging er zum Fenster, öffnete es behutsam und blickte angestrengt in die Tiefe.
In Gedanken ging er immer wieder den Plan durch, schätzte die ungefähre Entfernung zum Ziel ab und stellte sich den Fluchtweg vor, den er sich zurecht gelegt hatte, um unerkannt verschwinden zu können.
Plötzlich summte sein Smartphone. Sekunden später baute sich ein Bild auf. Das schöne Gesicht einer jungen Frau erschien. Dann fing sie an zu sprechen.
"Hier spricht Madame Butterfly. MX, hören Sie mich?"
"Ja, laut und deutlich. Das Bild ist erstklassig. Die Übertragung steht. Wie ist die Lage, Madame Butterfly?"
"Das Ziel fährt in einen schwarzen Mercedes. Zwei Begleitfahrzeuge fahren hinterher. Die drei Fahrzeuge nähern sich jetzt der Kreuzung direkt vor ihrem Hotel. Sie sind jetzt noch zwei Häuserblocks weit entfernt. Machen Sie sich bereit, MX!"
"Alles klar! Ich bin bereit, Madame Butterfly“.
Hören Sie genau zu, MX! Ich befinde mich in einem unauffälligen, weißen Lieferwagen gleich neben der Kreuzung. Also passen Sie auf, wohin Sie schießen. Der erste Schuss muss sitzen. Ich bin nur dazu da, um den Abschuss zu bestätigen, damit unser Kunde sicher sein kann, dass alles wunschgemäß erledigt worden ist. Nach erfolgreicher Liquidierung der Zielperson wird das Geld sofort auf das von Ihnen angegebene Konto überwiesen. Gehen sie jetzt an die Arbeit MX!"
"Keine Angst, ich bin einer der besten Scharfschützen und habe bis jetzt noch kein Ziel verfehlt. Ich beende das Gespräch. Das Zielobjekt nähert sich der Kreuzung. Ab jetzt Sendepause, Madame Butterfly."
Der Mann stellte sich in aller Ruhe ans geöffnete Fenster, zog die Vorhänge zu und positionierte das Scharfschützengewehr am Holzrahmen. Dann suchte er durch das Zielfernrohr nach seinem Opfer. Bald hatte er den schwarzen Mercedes gefunden und zoomte die ahnungslose Zielperson heran.
Die saß still im Fond der Limousine und hatte irgendein Blatt Papier in der Hand, das sie konzentriert durchlas.
Der heimliche Schütze drückte das Gewehr mit dem lange Zielfernrohr fester an die Schulter. Sein Zeigefinger krümmte sich langsam um den Abzug. Die Ampel an der Kreuzung sprang plötzlich auf Rot und der schwarze Mercedes-Benz kam augenblicklich zum Stehen. In diesem günstigen Augenblick drückte der Mann am Fenster ab.
Lautlos verließ das Geschoss den schallgedämpften Lauf des Scharfschützengewehres, durchschlug mühelos das gepanzerte Seitenfenster des Mercedes und traf die deutsche Bundeskanzlerin voll in den Kopf, der wie eine reife Melone zerplatzte. Gehirnmasse, Knochensplitter und ein riesiger Schwall Blut verteilte sich im Wageninnern. Im nächsten Moment fiel der Oberkörper des Opfers seitlich auf den Leder bezogenen Rücksitz, wo sich eine große Blutlache bildete. Im nächsten Augenblick raste die Staatskarosse auch schon mit hoher Geschwindigkeit über die belebte Kreuzung, bog mit quietschenden Reifen in eine enge Seitenstraße und verschwand darin mit den zwei anderen Begleitfahrzeugen, die mit heulenden Sirenen und Blaulicht hinterher rasten. Überall sprangen Passanten kreischend auseinander oder brachten sich in den umliegenden Hauseingängen und hinter geparkten Fahrzeugen in Sicherheit.
Nach dem treffsicher abgegebenen Schuss zerlegte der Schütze sein Gewehr seelenruhig in seine Einzelteile, verstaute alles akkurat wieder in der schwarzen Langtasche, warf noch einmal einen prüfenden Blick aus dem Fenster, schloss es vorsichtig, zog die Vorhänge zu und verließ gut gelaunt das Hotelzimmer.
Am Ende des Korridors öffnete er leise und behutsam die Balkontür, stieg über die Feuerleiter runter in den Innenhof und verließ auf diese Weise den inneren Bereich des Hotels. Bald hatte er sein in der Nähe abgestelltes Fahrzeug erreicht, verstaute sein eingepacktes Scharfschützengewehr unter einer dicken Decke im Kofferraum und nahm wenige Augenblicke später hinter dem Lenkrad seine Autos Platz. Dann startete er den Motor und das altmodisch aussehende Fahrzeug setzte sich mit wachsender Geschwindigkeit in Bewegung.
Keine fünf Minuten später summte abermals sein Smartphone. Ein Bild baute sich auf. Kurz danach krächzte eine künstliche Stimme.
"Hallo MX! Sie haben wirklich gute Arbeit geleistet. Die deutsche Bundeskanzlerin ist tot. Die Nachricht von dem Attentat geht gerade um die ganze Welt. Die Menschen sind überall geschockt, aber das ist uns egal. Unser Auftragsdienst hat das Finanzielle bereits veranlasst. Danke für die perfekte Zusammenarbeit! Wenn wir Sie wieder in Anspruch nehmen müssen, melden wir uns. Bis dahin wünschen wir Ihnen alles Gute! Ende der Durchsage!“
Der Mann hinter dem Lenkrad grinste ein wenig.
"Na klar. Solange die Kohle stimmt, übernehme ich jeden Auftrag. Davon lebe ich ja schließlich. Ich hoffe daher, dass wir schon bald wieder ins Geschäft kommen werden."
In diesem Moment wurde die Nachricht durch ein leises Piepsen unterbrochen. Das Bild auf dem Smartphone verschwand und der Attentäter konzentrierte sich jetzt auf das Einbiegen in die Fahrspur der Autobahn, die ihn weit ins Hinterland von Berlin bringen würde.
Während der Fahrt dachte der Auftragskiller darüber nach, wie viel Geld wohl jetzt auf seinem Geheimkonto lag. Das hing in der Regel vom Wert des Opfers ab, das zu beseitigen war, fiel ihm dazu ein und loggte sich mit einem bestimmten Kennwort in sein Konto bei einer Bank in der Schweiz ein. Eine Summe von weit über 1 Million Euro war erst vor wenigen Minuten eingegangen.
„Die deutsche Bundeskanzlerin war eben ein hohes Tier, und ich habe sie mit einem gezielten Schuss erledigt“, murmelte er mit halblauter Stimme zu sich selbst, grinste wieder so komisch, gab noch mehr Gas und raste über die breite Autobahn in Richtung Süden.
ENDE
(c)Heinz-Walter Hoetter
„Lasst die Toten gehen, wo sie hingehen müssen. Beten solltet ihr für sie, ihnen eure Liebe zukommen lassen und dabei helfen, dass sie sich freimachen können, damit sie sich immer höher zum göttlichen Licht hinaufschwingen können. Denn, wenn ihr sie wirklich liebt, werdet ihr eines Tages bei ihnen sein.“
***
Draußen dämmerte der Morgen heran.
Der junge Adam York wurde jäh aus seinem Schlaf gerissen. Er spürte seinen eigenen Herzschlag wild pochend bis zum Hals. Die ganze Nacht hatte er mehr oder weniger ruhig geschlafen, aber anscheinend war es jetzt wieder soweit. Ein schrecklicher Anfall kündigte sich an. Er konnte nichts dagegen tun.
Die Welt um ihn herum, die ihm so vertraut und fest erschien, zerfiel nach und nach in ein heilloses Chaos. Niemand konnte die Zerstörung aufhalten.
Auch Adam bekam jetzt die entsetzliche Wucht der Veränderung zu spüren, die vorübergehend seine Sinne lähmte und seine geröteten Augen aus den Augenhöhlen treten ließ.
Der junge Mann zitterte am ganzen Körper. Er betete mit leiser, kaum hörbarer Stimme vor sich hin und flehte, es möge bald alles vorbei sein. Aber nichts dergleichen stellte sich ein. Seine innere Welt wurde erbarmungslos in Stücke gerissen.
So schlimm wie jetzt, dachte er, so schlimm war es noch nie gewesen.
Er hatte das schreckliche Gefühl, als würde nur noch ein finsteres, heilloses Durcheinander um ihn herum existieren, eine Wirrnis, die sich wie eine fürchterliche Seuche unaufhaltsam nach allen Seiten gleichmäßig ausbreitete.
Adam York schrie wie von Sinnen, aber er hörte sein eigenes Schreien nicht, weil seine Ohren anscheinend taub geworden waren. Der junge Mann geriet in Panik. Er strampelte mit den Füßen und schlug mit seinen Händen wild um sich, als wolle er sich von etwas befreien.
Der gewaltige Ansturm einer tiefen Sinnlosigkeit raubte ihm beinahe den Atem und brachte ihn fast um. Er konnte einfach nichts dagegen tun. Er war dieser zersetzenden Macht in seinem Gehirn hilflos ausgeliefert, ähnlich eines gekenterten Ruderbootes, das von der wilden Strömung eines Flusses einfach mitgerissen wird.
Für ein paar Sekunden schaute sich Adam verzweifelt nach allen Seiten um. Dann hielt er plötzlich inne und starrte gebannt nach vorne, obwohl er eigentlich nichts genaues sehen konnte. Hatte sich da weit vor ihm nicht etwas bewegt? Er empfand eine unterschwellige Bedrohung, die ihm eine schreckliche Furcht einflößte.
Trübe, wie durch einen verschwommenen Nebelschleier, war ihm die kaum wahrnehmbare Bewegung eines verborgenen Ungeheuers aufgefallen, das sich anscheinend auf ihn zu bewegte.
Da! Schon wieder eine schattenhafte Bewegung.
Etwas zerrte plötzlich mit brutaler Gewalt an seinem hilflosen Körper. Adam York spürte das Wogen und Reißen einer unsichtbaren Kraft, als wolle sie ihn von dem Ort des höllischen Geschehens mit aller Macht wegzerren. War alles nur ein schrecklicher Fiebertraum? Er konnte es nicht sagen, denn Traum und Wirklichkeit waren für Adam im Augenblick ein und dasselbe.
Doch die Gegenwart des Monsters wurde jetzt klar erkennbar. Es drehte sich auf einmal brüllend zu Adam herum und näherte sich ihm mit erschreckender Leichtigkeit, obwohl es riesenhaft zu sein schien.
Der Junge bekam einen fürchterlichen Schrecken und zog sich sogleich instinktiv zurück. Zumindest glaubte er zu tun, was er tat. Er wähnte sich jetzt in der Situation eines wehrlosen Kaninchens, das sich der tödlichen Gegenwart einer Riesenschlange ausgesetzt sah.
Adam versuchte verzweifelt, sowohl dem Chaos, als auch dem Ungeheuer zu entkommen. Doch, wie er sich auch immer bemühte, die Wirren um ihn herum behielten ihn fest im Griff.
Wieder wollte er sich von der unheimlichen Kraft los reißen und vor ihr fliehen. Aber es half nichts. Er trat auf der Stelle. Das Entsetzten in ihm blähte sich zu einem riesigen Ballon auf, der jeden Moment platzen konnte.
Das Ungeheuer kam näher und näher. Es fauchte und stampfte wie eine alte Lokomotive, die direkt auf ihn zu donnerte.
Er war dieser schrecklichen Kreatur wehrlos ausgeliefert. Ihm wurde übel. Der junge Mann erbrach sich.
Doch dann.
Adam hatte das seltsame Gefühl, als durchbräche er auf einmal eine brodelnde Wasseroberfläche. Er spürte im gleichen Augenblick, wie das Chaos nach ließ, und die Welt um ihn herum sich Stück für Stück wieder ordnete. Alles begab sich an seinen angestammten Platz zurück, als würden unsichtbare Geister dabei helfen.
Der total verschwitzte junge Mann riss die Bettdecke mit einem Ruck von seinem zitternden Körper weg und setzte sich aufrecht hin. Sein Herz pochte immer noch wie wild. Sein Atem ging in schweren Stößen. Ängstlich schaute er im Schlafzimmer herum. Alles erschien ihm irgendwie auf seltsame Art und Weise verändert. Blut rann aus seiner Nase und sammelte sich auf den bebenden Lippen.
Das Fenster auf der gegenüber liegenden Zimmerseite stand weit offen. Die Stille und die kühle Morgenluft ließen ihn bald ruhiger werden. Mit einem Seufzer legte sich Adam York kurz darauf wieder hin und schaute nach draußen.
Am dämmernden Himmel zogen Wolkenfetzen dahin. In der Nacht hatte es geregnet. Es waren die Nachwehen eines Unwetters gewesen, welches am Vortage gewütet hatte. Daran konnte er sich noch vage erinnern. Mittlerweile hatten sich Sturm und Regen aber wieder gelegt, doch der Geruch nach Regenwasser lag immer noch in der Luft. Weit hinten am Horizont schien blass der Mond durch die dahinziehenden Morgenwolken.
Eine ziemlich lange Zeit verstrich. In der Stille, die in dem Raum herrschte, hörte Adam York seinen ruhigen Puls in den Ohren klopfen. Erst jetzt fiel ihm das seltsame Pfeifen am geöffneten Fenster auf, das er vorher nicht bemerkt hatte.
Er verließ das warme Bett und schlürfte langsam mit trägen Schritten zum offenen Schlafzimmerfenster hinüber. Ein seltsames Schwindelgefühl übermannte ihn.
Er beugte sich vorsichtig aus dem Fenster, um frische Luft zu schnappen. Im gleichen Augenblick standen ihm vor Schreck die Haare zu Berge. Adam begriff überhaupt nichts mehr und schon gar nicht, wieso das Zimmer zwischen Himmel und Erde dahinschwebte.
Unter ihm befand sich ein seltsam ruhiges Meer, das silbrig im Widerschein einer sich auftürmenden Wolkenbank blinkte. Und irgendwie hatte er den Eindruck, dass diese Wolken den fernen Horizont wie zwei mächtige Riesenarme umschlossen, so dass Land und Meer unter einer gewaltigen umgedrehten Wolkenschüssel zu liegen schienen.
„Was für ein wunderschönes Land“, dachte der junge Mann laut vor sich hin.
Nur der Wind heulte leise am offenen Fenster vorbei. Ansonsten war ringsherum Totenstille, die ungebrochen anhielt. Adam York schluckte benommen. Eine Träne lief ihm über seine blassen Wangen. Träumte er das alles nur, obwohl er wach war?
Er wusste einfach nicht, was er von alledem halten sollte. Seine Sinne spielten offenbar verrückt.
„Ich werde wahnsinnig“, waren seine letzten Worte, als er sich mit einem lauten Aufschrei des Entsetzens aus dem offenen Fenster ins Bodenlose fallen ließ.
Adam spürte den heftigen Wind in seinen wehenden Haaren. Er fühlte sich plötzlich frei wie ein Adler im brausenden Sturm, der sich trotz allem majestätisch und ohne Angst hoch in die wirbelnden Lüfte schwang.
Irgendwann schlug sein Körper hart und dumpf auf. Er spürte noch, wie seine Energie dahinschwand und dass er seinen zerschundenen Körper nicht mehr bewegen konnte. Überall war Blut. Schließlich verlor er das Bewusstsein. Es wurde schwarz um ihn herum.
***
Ein junger Mann lag mit zerschmetterten Körper mitten auf der Straße vor einem großen Wohnhochhaus irgendwo am Rande einer Millionenstadt. Es regnete leicht. Einige Schaulustige standen herum und tuschelten miteinander.
Der herbeigerufene Notarzt schüttelte den Kopf und winkte, nachdem er den leblosen Körper vorher eingehend untersucht hatte, den Fahrer eines Leichenwagens herbei. Zusammen mit einem weiteren Helfer wurde der entsetzlich zugerichtete Tote in eine Bergungswanne gelegt und anschließend durch das geöffnete Heck der schweren Bestattungslimousine geschoben. Nach und nach wurden leise alle Fahrzeugtüren geschlossen. Dann ging die Fahrt zum Friedhof, wo die Leiche hinterstellt werden sollte.
Die da stehenden Gaffer schauten dem schwarzen Leichenwagen hinterher, der langsam an ihnen vorbei fuhr.
Einer von ihnen räusperte sich und sagte schließlich: „Das war doch der junge Adam aus dem Wohnhochhaus direkt vor uns. Ich glaube, der war drogensüchtig oder so was. Vielleicht ist er im Drogenrausch aus dem Fenster gesprungen. Ein Sprung aus dem 14. Stockwerk kann niemand überleben. Na, wenigsten hat er von seinem Tod nichts mehr mitgekriegt.“
Einige der Umstehenden murmelten unverständliche Worte vor sich hin. Andere nickten zustimmend. Kurz darauf löste sich die kleine Menschenmenge vor dem Wohnhochhaus wieder auf.
Der morgendliche Regen hatte nachgelassen und die ersten frühen Sonnenstrahlen huschten hier und da durch die aufreißende Wolkendecke.
***
Am gegenüberliegenden Straßenrand stand Adam York und beobachtete stumm und regungslos das hektische Treiben vor dem Hochhaus, in dem er mal gewohnt hatte. Ein Engel mit großen weißen Flügeln stand an seiner Seite und hielt ihn sanft an der Hand. Nachdem der Leichenwagen nicht mehr zu sehen war, löste sich der Engel mit Adam zusammen auf und beide verschwanden im Nichts eines neuen Tages.
ENDE
©Heinz-Walter Hoetter
Das Krankenzimmer lag recht weit hinten, schon fast am Ende des Ganges, wo an der Querwand so etwas wie eine Notbeleuchtung brannte. Alle Zimmertüren waren geschlossen, bis auf eine, die man wohl einfach nur vergessen hatte ordentlich zu schließen.
Hinter dieser spaltbreit offenen Tür lag Amelia Jones, die jetzt ruhig schlief und erst vor wenigen Stunden wegen extremer Angst- und Panikattacken hier in dieses Krankenhaus eingeliefert worden ist. Es ging ihr wirklich sehr schlecht und deshalb hatte man sie vorsorglich in einem komfortablen Einzelbettzimmer untergebracht. Gut möglich, dass sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in eine psychiatrische Klinik verlegt werden musste, falls sich ihr ernster Zustand nicht alsbald zum Guten hin bessern würde.
***
Ich schob die Tür behutsam weiter auf und ging wie auf Zehenspitzen leise ins Zimmer. Als Stationsarzt hatte ich meiner jungen Patientin eine starke Beruhigungsspritze gegeben und wollte mich jetzt selbst davon überzeugen, ob es ihr den Umständen entsprechend gut ging. Scheinbar war alles in Ordnung. Von draußen drang allerdings kühle Luft durch das offene Fenster ins Krankenzimmer, was mich dazu bewog, das Fenster zu schließen. Schließlich nahm ich den Stuhl aus der Ecke neben dem Esstisch und stellte ihn direkt ans Krankenbett. Als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte, beobachtete ich die junge Frau ein Weile aufmerksam. Ihr Atem ging ruhig. Sie machte insgesamt einen entspannten Eindruck auf mich.
Sie lag auf dem Rücken. Die diensthabende Stationsschwester hatte die weiße Bettdecke bis zu den Schultern nach oben gezogen. Nur der Kopf lag noch frei. Die Stirn war verbunden, der Verbandsstoff leuchtete hell weiß. Die junge Frau sah friedlich wie ein Engel aus, was allerdings wohl nur ein subjektiver Eindruck meinerseits war.
Plötzlich passierte es.
Die ganze Zeit hatte Amelia Jones ruhig in ihrem Bett gelegen. Wie es aussah, war das jetzt ganz plötzlich vorbei, denn ihre Hände zuckten auf einmal wild hin und her, als wollten sie etwas abwehren, das sie bedrohte. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich zu einer hässlichen Fratze.
Vielleicht wird sie wach, dachte ich und rutschte mit dem Stuhl ein wenig nach hinten vom Bett zurück, denn die Bewegungen ihrer Hände und Arme wurden jetzt immer heftiger.
Doch dann war von einer Sekunde auf die andere alles wieder vorbei. Ihr Körper entspannte sich und die Patientin schlief ruhig weiter.
Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und wartete gespannt darauf, dass es sich möglicherweise wieder verändern würde. Aber da war nichts zu sehen, kein Zeichen irgendwelcher neuerlichen Erregung. Ich sah kein Zucken der Lider oder irgendwelchen Schweiß auf der Stirn. Auch ihre Hände waren mittlerweile ganz zur Ruhe gekommen. Die Augen blieben geschlossen. Nur der Schlaf schien nicht mehr so tief zu sein.
Durch die abrupten Bewegungen ihre Arme und Hände war die Bettdecke etwas nach unten gerutscht. Ich zog sie vorsorglich wieder bis zur Schulter nach oben und streifte sie ein wenig glatt. Dann wendete ich mich von Amelia Jones ab und drehte mich zur Tür um. Ich hatte die Absicht, das Krankenzimmer zu verlassen.
Gerade in dem Augenblick, als ich die Türklinke niederdrücken wollte, geriet sie wieder in Unruhe. Ich ging zurück an ihr Bett. Jetzt zuckten auf einmal nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper wurde von ekstatisch anmutenden Bewegungen erfasst. Etwas stimmte jetzt ganz und gar nicht mehr mit ihr.
Ich wartete etwas ab, es blieb mir im Augenblick auch nichts anderes übrig. Ich fragte mich, ob ich meiner Patientin möglicherweise eine weitere Beruhigungsspritze verabreichen sollte, sah aber vorläufig davon ab, weil die Zuckungen nicht heftiger wurden.
Plötzlich schlug Amelia Jones die Augen auf und blickte mich trübe an. Sie musste mich sehen können, deshalb war ich gespannt, wie sie reagieren würde.
Zuerst passierte überhaupt nichts. Dann blickte die Frau im Krankenzimmer herum, bis sich unsere Blicke abermals trafen. Sie bewegte schwach ihre Lippen, als wollte sie etwas sagen.
Im nächsten Augenblick deutete sie mit der rechten Hand auf den fahrbaren Nachttisch hin, wo ein leeres Glas neben einer Wasserflasche stand. Zwar wusste ich nicht genau, was sie sagte, aber ich reagierte trotzdem und griff nach der Flasche. Ich schraubte den Verschluss runter, nahm das Glas in die linke Hand und goss etwas Wasser ein.
"Sie haben Durst, nicht wahr?" sagte ich zu ihr und hielt das Glas Wasser an ihre geöffneten Lippen. Es sah wirklich so aus, dass sie großen Durst hatte, denn sie leerte es bis zum aller letzten Tropfen. Ihre Lebensgeister schienen mit jedem Schluck zurück zu kommen.
Ich stellte das Glas behutsam auf den fahrbaren Nachttisch zurück. Dann blickte ich der jungen Frau in die Augen und fragte sie: "Wie geht es denn meiner Patientin so?"
Amelia Jones antwortete nicht sofort. Sie schien nachzudenken und sagte schließlich: "Wie schön, ich lebe noch. Liege ich in einem Krankenhaus?"
"So ist es", antwortete ich ihr.
"Gut. Sie sind wohl der Stationsarzt, wie ich annehme."
"Ja, der bin ich. Ich habe mich die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie wurden mit großen Angst- und Panikattacken eingeliefert. Sagen sie mir einfach, was passiert ist. Hatten sie schon öfters solche lebensbedrohlichen Angstzustände?"
"Nein. Jedenfalls nicht so intensiv wie diesmal. Aber ich wurde offenbar von einem verdammten Killer verfolgt. Er wollte mich erschießen."
"Haben sie ihn denn sehen können, ich meine den Killer?"
"Sorry, das weiß ich nicht mehr. Ich konnte eigentlich gar nichts erkennen. Er hat offenbar hinter einer grauen Wand gestanden und von dort auf mich geschossen. Einfach so. Ich bekam fürchterliche Angst, geriet in Panik und schrie mit aller Kraft um Hilfe. Dann spürte ich einen fürchterlichen Schmerz an meiner Stirn und wurde kurz darauf ohnmächtig."
"Ja, der Schütze hat sie erwischt. Aber sie haben verdammtes Glück gehabt. Es war nur ein harmloser Streifschuss."
Die Patientin drehte ihren Kopf zur Seite, schloss die Augen und sagte: "Er wird wiederkommen. Ganz bestimmt. Er wird keine Ruhe geben, bis er mich umgebracht hat."
"Vom wem reden sie eigentlich, Miss Jones?" fragte ich sie neugierig.
Ohne mich anzusehen antwortete sie: "Ich kann seit einiger Zeit offenbar nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Auf jeden Fall war jemand hinter mir her, etwas Fremdes, etwas, das auf mich schon die ganze Zeit lauert. Ich kann es einfach beim besten Willen nicht erklären. Es ist wie ein grauer Schatten, der mich packen und töten will. Seit ich das weiß, bekomme ich Angstzustände und Panikattacken."
"Sie bleiben vorerst in diesem Krankenhaus. Unser Chefarzt, Dr. Murphy, wird sie morgen besuchen kommen und sich mit ihre Geschichte einmal näher befassen, damit wir weitere Maßnahmen beschließen zu können. Sie sollten jetzt aber erst einmal in aller Ruhe weiterschlafen. Ich werde ihnen noch eine Beruhigungsspritze verabreichen, falls sie es wünschen, Miss Jones."
"Ja, das wäre mir recht, Herr Doktor. Ich denke, dass ich von selber nicht einschlafen kann." sagte die junge Frau und legte sich einen Augenblick später flach auf den Rücken.
Ich gab der Patientin eine weitere Beruhigungsspritze. Allerdings nur eine abgeschwächte Dosis. Trotzdem würde sie danach gut schlafen können. Ich hatte zwar kein gutes Gewissen dabei, aber als Stationsarzt blieb mir keine andere Wahl. Ich musste die Frau auf jeden Fall unter Kontrolle halten, wenigstens bis zum nächsten Tag, wenn der Chefarzt die Sache übernehmen würde.
Kurz darauf verließ ich das Krankenzimmer und zog die Tür hinter mir behutsam und leise zu.
***
Amelia Jones blieb allein zurück. Das Licht auf ihrem Zimmer reichte mit seiner Stärke gerade mal aus, um auch die Tür zu sehen, die jetzt geschlossen war.
Die Beruhigungsspritze begann zwar langsam zu wirken, aber trotzdem wurde sie nicht schläfrig. Im Gegenteil.
Plötzlich erlebte die junge Frau wieder das andere, das sich in ihrer Umgebung zusammenzog, von dem sie wusste, dass es ihre Angst- und Panikgefühle erneut anfachen würde, trotz der verabreichten Beruhigungsspritze.
Sie bewegte nur ihre Augen. Sie spürte auf einmal sehr genau, dass etwas in ihrem Zimmer war und auf sie zukam. Aber sie konnte es nicht sehen.
Das war eben das Wahnsinnige, das Unerklärbare und Schreckliche an dieser Situation. Etwas hatte sich von irgendwas gelöst und bewegte sich unablässig auf sie zu. Es gab einfach nichts, das es hätte stoppen können. Seltsamerweise stieg diesmal keine Angst in ihr auf, von der sie sonst immer in solch einer schlimmen Lage heimgesucht worden ist.
Das Unerklärliche erreichte das Bett und nahm sie jetzt gewaltsam in Besitz.
Amelia Jones konnte nichts dagegen tun. Sie konnte die Veränderung nicht beschreiben, die sie dabei erlebte. Sie musste alles über sich ergehen lassen und hatte auf einmal das Gefühl, im Nichts zu liegen. Etwas Fremdes hatte sie gepackt, das über unglaublich magische Kräfte verfügen musste. Die junge Frau lag einfach nur so da in ihrem Bett. Sie wusste instinktiv, dass es nicht gut war, wenn sie sich jetzt bewegen würde. Trotzdem wagte sie es, denn sie wollte sehen und erkennen, was um sie herum vorging.
Sie schaute zuerst nach links vorsichtig über den Rand ihres Krankenbettes hinunter zum Boden. Unwillkürlich riss sie den Mund auf. Dann schnappte sie nach Luft. Sie fasste es einfach nicht, was sie sah. Zuerst glaubte sie an einen Irrtum. Der Boden unter ihrem Bett hatte sich entfernt und war tiefer gesunken, und zwar rundherum auf allen Seiten. Er sank immer weiter, bis er nicht mehr zu sehen war.
Die junge Frau schwebte plötzlich im Nichts!
Amelia Jones hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Sie kroch zurück vom Rand in die Mitte des Bettes und legte ihren Kopf zurück auf das flache Kissen, weil sie zur Decke hoch schauen wollte, um zu erklären, wo sie sich befand. Sie erschrak abermals. Auch hier war nichts. Ihre weit geöffneten Augen blickten in einen unendlichen Himmel hinein oder ins Nichts, das kein Ende zu haben schien.
Anstatt jetzt in Angst und Panik zu verfallen, wie sonst immer, wollte es die junge Frau auf einmal genauer wissen, wo sie war. Sie riss sich zusammen und dachte darüber nach, wo sie sich befand.
Das Bett stand offenbar noch immer am gleichen Platz, nur die Umgebung hatte sich verändert. Da sie keine Fixpunkte hatte, musste sie davon ausgehen, irgendwo in einer anderen Dimension zu sein. Möglicherweise war alles auch nur eine üble Täuschung, eine Fata Morgana sozusagen.
Abermals schaute Amelia Jones über den Rand des Bettes. Diesmal auf der gegenüber liegenden Seite. Auch hier war es nicht anders. Sie versuchte mit einer Hand den Boden zu ertasten, griff aber ins Nichts. In diesem Moment erblickte sie einen grauen Schatten, der von der rechten Seite auf sie zukam und sich ihr schnell näherte.
Er kam näher und näher, bis der graue Schatten direkt vor ihrem Bett stand. Unheimlich und drohend schwebte er da auf und ab.
Im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen der jungen Frau vor lauter Entsetzen. Der graue Schatten teilte sich und ein gespreiztes Händepaar fingerte daraus hervor.
Es waren große, hässliche Klauen, die dazu bereit waren, sie zu erwürgen. Sie kamen näher und näher. Amelia Jones hätte sie greifen können, aber ihr ganzer Körper war wie paralysiert. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Langsam schwebten die Hände des unsichtbaren Killers über ihren zitternden Leib hinauf zum Hals. Die junge Frau wollte schreien, brachte aber keinen Ton über ihre erstarrten Lippen. In diesem Moment spürte Amelia Jones auch schon, wie ihr schlanker Hals erbarmungslos zugedrückt wurde. Röchelnd nach Luft versuchte die Frau noch dem Würgegriff zu entkommen und fing heftig mit ihren Beinen an zu strampeln. Aber es half nichts. Die schrecklichen Hände würgten sie solange, bis ihr gesamter Körper schlaff in sich zusammensackte und keinen Mucks mehr von sich gab. Ihr Gesicht war jetzt blau angelaufen und zu einer von Angst und Furcht entstellten, hässlich aussehenden Fratze erstarrt. Dann war wieder alles wie zuvor, als hätte es diesen schrecklichen Spuk nie gegeben.
Draußen im Gang war nur Stille. Niemand war zu sehen. Nur ein grauer Schatten huschte auf einmal durch ein geöffnetes Flurfenster des Krankenhauses nach draußen hinaus in die Dunkelheit, wo er zwischen den trübe erleuchteten Gassen irgendwo in der Nacht wie ein Geist verschwand.
***
Nachdem ich das Krankenzimmer von Amelia Jones verlassen hatte, machte ich mir große Vorwürfe. Sie musste sich wohl in der Nacht irgendwann mit dem Laken an der eisernen Bettkante aufgehängt haben. Ich konnte nur noch ihren Tod feststellen. Es war nicht gut von mir gewesen, dass ich sie allein in ihrem Zimmer zurück gelassen habe. Nun, andererseits war sie ja auch kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen konnte und es in letzter Konsequenz ja auch getan hatte. Niemand kann in einen Menschen hineinschauen, auch ein Arzt nicht.
Eine bekannte Männerstimme riss mich aus meinen grübelnden Gedanken. Es war einer meiner langjährigen Stationsmitarbeiter.
"Herr Doktor, die Leiche von Frau Amelia Jones soll heute noch in die Pathologie. Ist die Todesbescheinigung schon fertig? Die Leute vom Bestattungsinstitut sind bereits unterwegs. Sie werden bald hier sein und warten nicht so gerne."
"Es ist alles fertig bearbeitet. Frau Jones ist eines unnatürlichen Todes gestorben und muss obduziert werden. Sie können die Verstorbene wie besprochen abholen lassen."
Ich wies meinen Stationshelfer kurz ein und machte mich auf den Weg in mein Büro. Ich hatte unterwegs plötzlich das seltsame Gefühl, von jemand oder etwas beobachtet zu werden. Ich drehte mich daher ein paar Mal schnell herum und schaute nach hinten, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Mir fiel allerdings auf, dass ganz hinten am Ende des Ganges das Fenster weit offen stand und ein eiskalter Wind an mir vorbeizog. Ich wies eine zufällig vorbei kommende Schwester an, das Flurfenster zu schließen und fuhr dann mit dem Aufzug nach oben, wo sich in der letzten Etage das Büro von mir befand.
ENDE
(c)Heinz-Walter Hoetter
Der Morgen war erwacht. Es roch nach sauerstoffreicher Luft und über der ganzen Landschaft lag ein leichter taufrischer Dunstschleier.
Der stabile Metallrahmen eines kleinen Panzerglasfensters bildete in der nachlassenden Dunkelheit ein schwach leuchtendes Viereck. Dahinter, hoch droben in einem kleinen trübe ausgeleuchteten Raum des letzten Stockwerkes eines etwas abseits gelegenen monumentalen Regierungsgebäudes, stand der Soldat Tibben Leckaas und war wütend, weil er noch immer nicht über die Beleidigungen hinweggekommen war, die er aufgrund der Ereignisse über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie hatten ihn schließlich dazu motiviert Dinge zu tun, die er unter normalen Voraussetzungen nie getan hätte. Trotzdem bereute er nichts.
„Das werde ich euch heimzahlen“, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme leise vor sich hin, obwohl er wusste, dass er eigentlich im Moment nicht viel ausrichten konnte. Noch nicht..., doch das würde sich bald ändern, wie er hoffte.
Seine augenblickliche Machtlosigkeit ließ ihn deshalb in süßen und gewalttätigen Träumen schwelgen, an deren Ende stets der gleiche Gedanke hervortrat, nämlich der, dass er schon etwas finden würde, um an dem verhassten Regime endlich Rache üben zu können. Er wollte dieser abstrusen Scheindemokratie größtmöglichen Schaden zufügen, woran er gerade intensiv arbeitete.
***
Tibben Leckaas hatte sich erst vor weniger als einem halben Jahr dazu entschlossen, freiwillig in die Regierungsarmee einzutreten, um es jenen zu zeigen, die ihn für ängstlich und schwächlich hielten. Doch, was niemand bis dahin für möglich hielt, trat unerwarteter Weise ein: Der Krieg gegen die ROODS war bald vorüber und der junge Leckaas war plötzlich nur noch Soldat und kein Held mehr oder ein gefeierter Sieger.
Der Soldat Leckaas hasste die ROODS über alle Maßen, wie so viele Bürger und Bürgerinnen seines Volkes, den MINSOREN vom Planeten NAPUR. Woher dieser Hass auf die ROODS kam, konnte allerdings niemand so richtig erklären. Er war Fakt.
Als der Krieg entschieden war, hatte man ihn einfach nach Hause geschickt, ohne irgendeinen Dank oder den geringsten Anerkennungsbeweis für seinen aufopferungsvollen Einsatz im Kampf gegen den angeblichen Feind, der von der eigenen Regierung plötzlich wie ein enger Freund behandelt wurde, nachdem man ihn besiegt hatte. Alles schien offenbar wie ein ganz großes, raffiniert eingefädeltes Spiel abgelaufen zu sein. So empfand es jedenfalls Tibben Leckaas, der sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, an einem grausigen Theater teilgenommen zu haben, das für viele seiner Kameraden allerdings ein tödliches Ende genommen hatte.
Kurz nach dem aufwändig dargestellten Friedensschluss mit den ROODS, der von allen Medien auf dem Planeten NAPUR bis ins letzte Detail ausgiebig übertragen wurde, hatte sich der Soldat Leckaas noch patriotisch, stark und mächtig gefühlt. Er wähnte das Volk der MINSOREN endlich auf dem richtigen Weg. Doch schon bald stellte sich heraus, dass das nicht stimmte.
Ein schlimmer Machtkampf brach unter den einzelnen Clans auf NAPUR aus, nachdem sich einige Familien bei der Aufteilung der Kriegsbeute benachteiligt fühlten. Ein grausamer Bürgerkrieg begann, der bald viele Opfer forderte, bis sich endlich die oberste Staatsführung aus heiterem Himmel dazu entschloss, hart und kompromisslos einzugreifen.
Eine Verhaftungswelle nach der anderen folgte, die auch auf die ehemaligen Offiziere der siegreichen Armee übergriff. Man steckte sie entweder einfach ins Gefängnis oder schickte sie in die Verbannung. Manche wurden sogar von aufgestachelten Fanatikern ermordet. Wieder gab es viele unschuldige Opfer.
Der Staat der MINSOREN verwandelte sich nach diesen brutalen Vorfällen zusehends in eine hässliche Diktatur, die man politisch von Seiten der amtierenden Regierung nach außen hin allerdings als eine hervorragend funktionierende Demokratie darzustellen versuchte.
Viele Offiziere und Soldaten der ehemals so siegreichen minsorensischen Armee waren wegen dieser schrecklichen Vorkommnisse bald in den Untergrund gegangen und hatten von dort aus den Kampf gegen das undemokratische Regime aufgenommen. Auch der junge Soldat Tibben Leckaas gehörte dem Widerstand an.
***
Trotz des frühen Morgens lastete die Hitze der aufsteigenden Sonne auf der Landschaft wie eine gesandte Plage der Götter. Das einzige Fenster dieses kleinen stickigen Raumes befand sich direkt unterhalb der Zimmerdecke, wo auch ein kleiner Luftschacht endete, der den Raum nur dürftig mit frischer Luft versorgte.
Auf dem Fußboden befanden sich zahlreiche Löcher, aus denen noch einige abgeklemmte Kabel herausschauten. Tatsächlich aber standen in diesem Zimmer früher einmal ein paar periphere Computer des gewaltigen Rechenzentrums des Innenministeriums der Regierung. Die gekappten Leitungen hatten von hier aus bis in eine Tiefe von mehreren hundert Metern geführt und waren direkt mit dem einzigen Hauptrechenzentrum des Planeten verbunden.
Tibben Leckaas wurde langsam unruhig. Sein Herz pochte wie eine kleine Maschine in seiner Brust und nur allzu deutlich spürte er auf einmal den kühlen Kunststoff der Tastatur unter seinen Fingern. Er hatte sich nämlich von hier aus heimlich und unbemerkt in das Computersystem des brutalen Regimes eingeklinkt. Das geheime Passwort dazu hatte er von einem älteren Mitglied des Widerstandes erhalten, einem Mann namens Bratan Lockier, der im Rechenzentrum der Diktatur als Administrator arbeitete und dort eine führende Position bekleidete. Anscheinend genoss er das Vertrauen der derzeitigen Machthaber.
Tibben Leckaas wählte das Symbol des Innenministeriums an und begann sofort damit, die zahlreich vorhandenen Datenbanken zu durchsuchen. Er stöberte in jeder Datei herum und wurde schließlich unter dem Begriff „Sonderserien“ fündig.
Am Ende des Textes wählte er ein Untermenü an. Als er es anklickte, erschien endlich eine lange Liste mit Kleinseriengeräten. Neben zahlreichen Gerätenamen und deren Modellabbildungen fanden sich keine weiteren Neuigkeiten. Lediglich ein kleiner, unscheinbarer Stern hinter einigen seltsam aussehenden Maschinen zeigte an, dass weder technische Daten noch sonstige Informationen abzurufen waren, da sie der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlagen.
Leckaas fluchte leise vor sich hin. Er hatte sich dem Ziel so nah gefühlt. Seine innere Anspannung nahm zu.
Bestimmt hatte er irgendeine Kleinigkeit übersehen. Nochmals ging er die dargestellten Geräteabbildungen durch. Dann erkannte er etwas, was er zuvor anscheinend übersehen hatte. Die Sonderseriengeräte besaßen eine etwas andere Gehäuseform als die standardisierten Modelle, die für den öffentlichen Verkauf zugelassen waren.
Hatte er sich nur getäuscht?
Der junge Mann lehnte sich zurück und starrte für einen Moment lang wie abwesend an die weiß gestrichene Betondecke des Raumes. Es war nahezu unnatürlich still um ihn herum. Sogar auf dem schmalen Gang draußen war absolut nichts zu hören. Tibben Leckaas war darüber nicht unglücklich, weil er sich sicher war, dass er nur so seine Arbeit in Ruhe ungestört fortführen konnte.
Dann beugte er sich wieder nach vorne über den kleinen Bildschirm und betrachtete noch einmal jede Abbildung der dort aufgeführten Sondermodelle sorgfältig einzeln nach einander. Es war einfach schwer zu glauben, dass eine so hochtechnisierte Wundermaschine in ein vollkommen normal aussehendes Gehäuse gesteckt worden war. Verblüffend, wie er dazu bemerken musste. Sie waren sicherlich auch nicht für den Verkauf bestimmt. Diese Dinger gehörten augenscheinlich zu einem hoch geheimen Projekt, wie er jetzt wusste. Ihre Darstellung hier war nur eine infame Täuschung.
Leckaas klickte zwischen den einzelnen Abbildungen hin und her, die mit einem Stern gekennzeichnet waren. Es dauerte ihm aber alles zu lange. Er rief deshalb den Dateimanager auf, der ihm die Abbildungen samt dazugehörigen Texten noch einmal präsentierte. Ein weiteres Fenster öffnete sich plötzlich, in dessen Textbereich er den gesuchten Begriff eingeben sollte.
Aus irgendeinem Grunde vergaß Tibben die Eingabe des Textes und bestätigte unbewusst das Feld des leer gebliebenen Suchkommandos. Der Bildschirm wurde für einige Sekunden schwarz, als urplötzlich am unteren rechten Ende eine Liste aller Abbildungen samt Texte der mit Sternchen gekennzeichneten Geräteabbildungen auftauchte und den dunklen Bildschirm mit sich stetig vermehrenden weißen Schriftzügen ausfüllte, die kein Ende nehmen wollten.
Leckaas hatte einen Fehler im System gefunden, ohne es gewollt zu haben. Die Innenflächen seiner Hände fingen an zu schwitzen und wurden feucht. Ihm bot sich jetzt die einmalige Gelegenheit, an hochbrisante Geheiminformationen des Innenministeriums zu gelangen. Mit zitternden Fingern tippte er auf der Tastatur herum und ging die jeweiligen Texte durch. Auffällig erschien ihm, dass einige dieser Texte zweimal vorkamen, einmal mit und einmal ohne voranstehendem Stern.
Als er die Texte mit dem Sternchensymbol anklickte, bekam er plötzlich Zugriff auf alle Dateien, die mit diesem Zeichen gekennzeichnet waren und somit auch auf alle Sondermodelle. Es war einfach unfassbar für den jungen Mann, was sich hier vor seinen Augen abspielte. Durch diesen winzigen Fehler im System hatte er Zugriff auf alle geheimen Dateien des Innenministeriums erhalten. Vor Staunen schüttelte er ungläubig den Kopf. Ein Gefühl des Triumphes überkam ihn auf einmal.
Diese unscheinbar aussehenden Wunderdinger in der Größe eines ganz normalen Reisekoffers waren dazu in der Lage, jede x-beliebige Person nachzubilden, wenn man erst einmal die von ihr gespeicherten Daten wie DNS, Blutgruppe, Haarfarbe, Größe, Aussehen, Denkmuster oder sonstige persönliche Merkmale besaß. Sie konnten aus unbelebter Materie organische Substanzen erzeugen und zu einem identischen Klon zusammenfügen, der alle Eigenschaften seines Originals besaß.
Schlagartig begriff Leckaas die Tragweite dieser geheim gehaltenen Erfindung. Durch sie konnte man ganz gezielt darüber hinaus auf einfachste Art und Weise allen betroffenen Personen ihre sämtlichen Erinnerungen, Geheimnisse und Intimitäten entlocken, wenn sie erst einmal geklont worden waren.
Unbewusst fuhr sich Tibben Leckaas mit der rechten Hand zum Hals. Er spürte eine unglaubliche Beklemmung, als er darüber nachdachte, dass es diese unheimlichen Maschinen offenbar schon mehr als zwei Generationen lang auf NAPUR gab. Das jedenfalls ergaben die eindeutigen Hinweise auf deren Herstellungsdaten und die angegebenen Produktionsorte, die überall auf den jeweiligen Modellen deutlich lesbar eingraviert worden waren.
Je länger Tibben darüber nachdachte, desto größer wurde der Druck in seinem Magen. Theoretisch war die Möglichkeit gegeben, dass bereits große Teile der Bevölkerung von NAPUR, einschließlich ihrer Feinde, den ROODS, die auf dem dritten Kontinent des Planeten lebten, zum größten Teil nur aus Duplikaten bestanden. Man musste diesen Tatbestand jedenfalls ernsthaft in Betracht ziehen. Tibben wurde bei diesem Gedanken übel.
Hastig legte er jetzt einen der Quantenspeicherwürfel in die dafür vorgesehene Öffnung seines speziellen Datenaufnahmegerätes und übertrug die gesamte Information in Sekundenschnelle aus dem Zentralrechner des Innenministeriums in sein mitgebrachtes molekulares Speichermedium. Draußen würde das Gerät diese gewonnenen Informationen sofort automatisch an die Zentrale des Widerstandes senden, die sich in der versteckten Unterstadt befand. Das geheime Passwort verhinderte außerdem sicher, dass der enorme Datentransfer bemerkt werden konnte. Die angezapften Daten wurden nur kopiert, nicht entfernt. Als er damit fertig war, trennte er die Kabelverbindungen seines Minicomputers, verstaute alles sorgfältig in einem stabilen Rucksack und verließ fluchtartig den Raum.
Während er so unauffällig wie möglich den langen Flur des abgelegenen Gebäudes durchschritt, dachte er über seine Entdeckung nach. Sie schien ihm so unglaublich, so überwältigend und einfach schier unfassbar zu sein, dass ihm nur allein bei dem Gedanken daran schwindlig wurde. Es konnte und durfte einfach nicht wahr sein, und doch ahnte er gleichzeitig, dass er und viele andere mit ihm, ohne es zu wissen, zu einem integrierten Teil einer gigantischen Manipulationsmaschinerie geworden waren, die sie zu Spielbällen der mächtigen Regierung werden ließen. Die Herrschenden taten offenbar mit der Bevölkerung, was sie wollten.
Als Tibben Leckaas sich umschaute, sah er einen Aufzug am Ende des Ganges. Er zog seine gefälschte ID-Karte durch den Schlitz des Terminals und schon nach wenigen Sekunden kam der Fahrstuhl angerauscht. Die metallenen Doppeltüren glitten geräuschlos zur Seite und Tibben trat sofort in das Innere der geräumigen Fahrkabine, die ihn zügig nach unten ins Erdgeschoss brachte.
Unten angekommen verließ er das Gebäude durch einen kleinen Nebeneingang auf der weit abseits gelegenen Rückseite. Auch hier half ihm die gefälschte ID-Karte problemlos dabei, dass sich die elektrisch betriebene Tür ohne Schwierigkeiten leise surrend öffnen und anschließend ebenso unauffällig wieder schließen ließ. Dann schlug er sich in die angrenzenden Büsche eines nah gelegenen Wäldchens, wo er sich versteckte und über sein klappbares Funkgerät die codierte Verbindung mit seinem aktiven Führungsoffizier des Untergrundes herstellte. Einen Moment später sah er das Gesicht von Mo Dhumas auf dem kleinen LCD-Bildschirm.
In aufgelöster Hast überschüttete er Dhumas mit den Fakten, die er herausgefunden und auf seinen Quantenspeicherwürfel heruntergeladen hatte. Seine Worte überschlugen sich fast vor innerer Aufregung.
Der Führungsoffizier versuchte Leckaas zu beruhigen, weil er nur die Hälfte verstand und animierte ihn dazu, langsamer zu sprechen. Tibben wiederholte seine Sätze und gab abermals seine Vermutung zum Ausdruck, dass das Innenministerium der diktatorisch gewordenen Regierung möglicherweise schon seit langer Zeit einen großen Teil der Bevölkerung von NAPUR nicht nur heimlich aushorchen, sondern wahrscheinlich bereits über Generationen hinweg sukzessive durch willfährige Klone ersetzte, die sich besser manipulieren ließen als die natürlich gebliebene Gesellschaft.
Nach seinen Worten schwieg der Offizier Mo Dhumas eine zeitlang. Eigentlich war das alles zu fantastisch, um glaubwürdig zu klingen. Aber mit was war er in den letzten Jahren nicht schon alles konfrontiert worden?
„Hör zu Soldat! Deine Information klingen unglaublich. Aber wenn sie stimmen, schwebst du in großer Lebensgefahr. Ich schicke vorsorglich ein paar Leute von mir los, die dich abholen und in Sicherheit bringen werden. Schalt’ deinen Peilsender ein, damit sie dich schneller finden können. Sie werden mit einem Tarnfahrzeug zu dir kommen. Erschrecke also nicht, wenn es plötzlich direkt vor deinen Augen sichtbar wird. Verhalte dich ruhig und bleib in deinem Versteck. Meine Männer werden dich dann zu mir ins Hauptquartier in die Unterstadt bringen! Ach ja, ich habe noch eine Überraschung für dich. Sie wird dein Leben retten. Aber das werde ich dir später erzählen, wie ich das angestellt habe. Wir sehen uns Soldat. – Ende der Mitteilung.“
Tibben Leckaas Funkgerät knackte ein paar Mal geräuschvoll, dann wurde die Verbindung abrupt unterbrochen. Auf dem langsam dunkel werdenden LCD-Schirm schimmerte bald nur noch das schwarze Hintergrundbild. Er ließ das Gerät in seiner rechten Brusttasche verschwinden und spähte hinüber zur Gras bewachsenen Lichtung, wo sich vermutlich das Fahrzeug enttarnen würde, wie er annahm. Schließlich setzte sich der junge Untergrundkämpfer in ein dichtes Gebüsch und wartete geduldig darauf, dass man ihn abholen würde.
***
„Woher haben Sie diese Informationen?“ fragte der bärtige Mann in dem Militärjeep, der Tibben Leckaas gegenüber saß und eine schwarze Uniform trug. Auf der linken Brusttasche prangte in goldener Schrift sein Name: Leutnant B. Kahnaan.
Gemütlich zündete der Offizier sich eine Zigarette an. Nach einer kurzen Pause redete er weiter. Seine Stimme wurde noch sanfter und entgegenkommender.
„Sie wissen doch sicherlich selbst, dass überall Falschinformationen verbreitet werden, die die abwegigsten Ziele haben. Zum Beispiel versucht man von ganz bestimmter Seite, dieses Staatsgefüge auseinanderbrechen zu lassen“, sagte er in Anspielung auf die verfemte antidemokratische Opposition, die sich überwiegend im Untergrund aufhielt und massiv gegen die Regierung kämpfte.
Doch Tibben durchschaute den rhetorischen Trick.
„Lassen Sie die Spielchen. Was sind das überhaupt für Informationen, die ich angeblich gefunden haben soll?“ fragte er den Mann in der schwarzen Uniform.
„Wie können Sie nur so einen Schwachsinn daher reden? Sie wissen doch ganz genau, was ich meine. Aber wir wollen das trotzdem in aller Ruhe erledigen. Geben Sie mir den Quantenspeicherwürfel und die Sache hat sich für Sie erledigt. Wo haben Sie ihn versteckt?“ Die Frage des Vernehmungsoffiziers war plötzlich von einer erbarmungslosen Härte und Kälte.
Der Bärtige sah den Gefangenen mit stechendem Blick an und dachte darüber nach, dass der junge Mann zuviel wusste, als dass man ihn einfach wieder so laufen lassen durfte. Er würde ihn früher oder später liquidieren müssen. Sein Vorgesetzter, Mo Dhumas, hatte ihm das ausdrücklich nahegelegt. Es war eigentlich so gesehen ein ganz klarer Tötungsbefehl.
„Kommen Sie, Leckaas, die Zahl der gelösten Fälle hat in meiner Abteilung zugenommen. Und das in erheblichem Umfange. Ich hoffe, das sie das zur Kenntnis nehmen werden, um ihr Leben zu retten. Nun sagen Sie schon, wo Sie das Speichermedium versteckt haben.“
„Ich kann Ihnen darüber nichts sagen, weil ich nicht weiß, was Sie eigentlich von mir wollen. Ich habe kein Speichermedium versteckt und gehöre auch nicht dem Widerstand an. Wovon reden Sie eigentlich?“
Tibben Leckaas schwieg wieder und schaute aus dem verdunkelten Fenster des breiten Militärjeeps in die vorbeihuschende Landschaft. Er glaubte sich im falschen Film, nur konnte er nichts dagegen tun.
„Ich halte Sie für einen Lügner und Feigling, Leckaas. Das ist alles, was ich noch zu sagen habe. Mir reicht es jetzt“, platzte es unvermutet aus dem bärtigen Leutnant heraus. Er gab seinem Fahrer den Befehl, den Wagen hinter der nächsten Kurve anzuhalten. Als das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, ließ der Offizier Leckaas aussteigen. Er überzeugte sich davon, dass niemand in der Nähe war. Dann zog er seine Strahlenwaffe und zielte damit eiskalt durchs offene Wagenfenster auf den wehrlos dastehenden jungen Mann. Sekunden später war Tibben Leckaas tot und sein pulverisierter Körper nur noch ein Häufchen verbrannte Asche, die am Gras bewachsenen Straßenrand dunstig vor sich hin qualmte. Dann raste der Wagen mit quietschenden Reifen davon.
***
„Es tut mir wirklich leid, dass diese Schweine vom Regierungsgeheimdienst dich einfach so erschossen haben, mein lieber Tibben. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste dein Duplikat opfern, sonst wäre unser Plan womöglich noch aufgedeckt worden. Wir können aber jetzt mit den gleichen Kartentricks wie das Innenministerium spielen“, sagte Dhumas über Funk zu Leckaas.
Eine kleine Pause trat ein. Dann sprach der Führungsoffizier weiter.
„Ach so, du kannst das Versteck jetzt verlassen. Wir stehen mit unserem Tarnfahrzeug genau auf der Lichtung. Du müsstest uns eigentlich schon sehen können. Das Täuschungsmanöver hat geklappt. Der Geheimdienst des Innenministeriums ist auf den von mir ausgelegten Klon-Köder hereingefallen. Ich hatte mir schon so was ähnliches gedacht“, sagte Mo Dhumas zum wartenden Untergrundkämpfer, der immer noch versteckt im dicht bewachsenen Unterholz saß und sein kleines Funkgerät krampfhaft an sein rechtes Ohr hielt.
Es ging ihm schon viel besser, als er Dhumas persönlich sehen konnte, der jetzt das enttarnte Fahrzeug verließ und mit weit ausholenden Schritten direkt auf das Dickicht zulief, das Leckaas gerade hinter sich gelassen hatte. Dann standen sich die beiden Männer gegenüber und umarmten sich wie zwei Brüder.
„Es ist zum Verrücktwerden mit Dir, mein lieber Tibben. Ich konnte es in der Unterstadt einfach nicht mehr aushalten und bin gleich selbst mitgekommen. Du bist mein bester Mann. Diese Nummer war einfach irre. Durch die von dir übertragenen Geheiminformationen konnten wir die erbeuteten Duplikatorenmaschinen umgehend in Betrieb nehmen. Den ersten Klon, den wir herstellten, warst du selbst. Von dir hatten wir alle persönlichen und genetisch-biologischen Merkmale vorliegen. Nachdem dein Duplikat fertig war, brachte ich deinen Doppelgänger umgehend zu dieser Lichtung und schickte gleich darauf eine fingierte Nachricht an den Regierungsgeheimdienst los, die tatsächlich auf meinen Cup hereinfielen und bald zur Stelle waren. Dein Duplikat wurde sofort festgenommen und in ihrem Militärjeep abtransportiert. Während wir die Operation aus unserem getarnten Fahrzeug heraus beobachteten und alles akribisch überwachten, erfuhr ich über unsere Lauscheinrichtungen, dass es von mir ebenfalls schon einen Klon gibt, der als Offizier für den Geheimdienst der Diktatur arbeitet und den Auftrag dazu gab, deinen Klon von einem seiner Männer nach dem Verhör erschießen zu lassen. Fürchterlich, wozu mein Duplikat fähig ist. Sie glauben allerdings jetzt, du wärst tot. Wir werden die Physiognomie deines Gesichtes wohl chirurgisch etwas verändern müssen, zu deiner eigenen Sicherheit wohlgemerkt, und schon kannst du dich in der offiziellen Bevölkerung von NAPUR gefahrlos bewegen. Man wird dich nicht mehr wiedererkennen. Übrigens knüpfen wir gerade einige Verbindungen zu unserem Brudervolk den ROODS, die ebenfalls über eine starke und schlagkräftige Untergrundbewegung verfügen. Wenn wir es richtig anstellen, wird es eines Tages zwischen unseren Völkern wieder Frieden geben, so wie es früher einmal war. Die Zusammenarbeit mit ihnen klappt bereits schon ganz gut. Sie haben für uns einen noch geheim gehaltenen Scanner entwickelt, mit dem man Duplikate einwandfrei identifizieren kann. Ich habe dieses Ding gleich mitgebracht und an uns heimlich ausprobiert. Unter uns gibt es nicht einen einzigen Klon. Der Widerstand scheint etwas ganz natürliches zu sein, zu dem die Duplikate anscheinend nicht fähig sind. Diesen Vorteil nutzen wir natürlich aus. So gesehen werden wir sie jagen können und eines Tages alle ausgemerzt haben. Vor uns liegt eine große Zukunft, die von Eintracht und Frieden zwischen den ROODS und uns MINSOREN erfüllt sein wird. Dafür lohnt es sich doch zu kämpfen, nicht wahr Tibben?“
Die junge Untergrundkämpfer hatte sich die langen Ausführungen seines Führungsoffiziers mit einiger Faszination angehört. Dann nickte er nur wortlos mit dem Kopf und sagte mit fester Stimme: „Ja..., mein lieber Dhumas, für diese Zukunft unserer Völker lohnt es sich wirklich zu kämpfen. Komm, lass’ uns gehen! Wir haben noch viel zu tun...“
Beide Männer umarmten sich wieder, drehten sich schließlich gemeinsam herum, gingen auf das wartende Fahrzeug zu und nahmen darin auf den weichen Rücksitzen Platz. Nachdem sich die Türen sanft geschlossen hatten, schaltete sich die Tarnvorrichtung ein und machte das geräumige Vehikel praktisch unsichtbar. Dann setzte es sich mit einem leichten Ruck in Bewegung und verschwand von einer Sekunde auf die andere in eine nicht mehr feststellbare Richtung, die aber auf jeden Fall in die versteckte Unterstadt führen würde, die das Zentrum und die Heimat für alle Untergrundkämpfer auf dem Planeten NAPUR war, sowohl der männlichen als auch der weiblichen.
ENDE
(c)Heinz-Walter Hoetter
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.11.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Infinity: Zeitgenössische, zärtliche Lyrik aus Wien - Hietzing
von Heinrich Soucha
Mit dem Schreiben und Dichten, ist das so eine Sache.So war ich oft der Meinung, nur lyrisch Schreiben zu können, falls ich mich in einem annähernd, seelischen Gleichgewicht befände, erkannte aber bald die Unrichtigkeit dieser Hypothese.Wichtig allein, war der Mut des Eintauchens.Das Eins werden mit dem kollektiven Fluss des Ganzen. Meine Gedanken, zärtlich zu Papier gebrachten Gefühle,schöpfte ich stets aus diesem Fluss.
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