Klaus Mattes

Auch der Pretzlein war dann tot / 1677

Gestern fiel mir Herr Pretzlein wieder ein. Meine Eltern hatten doch kaum gesellschaftlichen Umgang, sozusagen keine Freunde. Mehr oder weniger waren sie jeden Abend ihres Lebens daheim und sahen fern. Pretzlein war jahrelang so ziemlich der einzige Freund, mit dem mein Vater mal um die Häuser zog. Früher, Jahre vor meiner Geburt und also auch seiner Heirat, hatte dieser Vater mehrere Freunde gehabt. Mit dem Motorrad waren sie über die Alpen gefahren. Man sah sie auf Schwarz-Weiß-Fotos im alten Album. Als am Beginn des 21. Jahrhunderts mein Vater schließlich verstorben war, sagte meine Mutter, was sollten ihr denn diese Männer, sie wisse nicht, wer die gewesen seien. Und sie warf sie in den Abfall.

Willi Pretzlein war ein paar Jahre jünger als mein Vater, nicht viele allerdings. Dass er von Nürnberg gekommen war, konnte man ihm ein Leben lang anhören. Dieser Herr Pretzlein war einigermaßen laut und er war lebenstüchtig. Jahrelang hatte er Lastwegen chauffiert, später arbeitete er bei der Basler Chemischen Industrie, deren Werk in Deutschland, das sie heute nicht mehr haben. Was immer er sich in seinen kantigen Kopf setzte, erreichte er am Ende auch. Dem gebraucht gekauften Auto folgte das nächste. Als Mercedes machte es in den späten sechziger Jahren was her. Im Sommer kamen Postkarten vom Gardasee. Erst hatte er einen Garten, dann entstand das Haus. Er arbeitete viel selber dran; manches ging schwarz, Kumpels und Kollegen unterstützten ihn.

Seine Kinder waren die erste Generation, die ins Gymnasium ging. Das war bei uns kaum anders, aber Pretzleins Sohn spielte neben dem Klavier auch noch die Kirchenorgel. Pretzlein kaufte dem Jungen ein nagelneues Klavier ins nagelneue Eigenheim hinein. Auf Grund einer Einliegerwohnung brachte dieses Objekt nicht nur Schulden, sondern auch Einkommen.

Wegen jener Arbeit als Lkw-Fahrer kannte mein Vater den etwas groben, ihm an Weltgewandtheit jedoch überlegenen Pretzlein. Mein Vater war bei der Güterabfertigung. In einer großen Baracke aus Holzlatten, die man längst zu Gunsten eines Billig-Schuh-Paradieses entfernt hat. Den ganzen Güterbahnhof gibt es heute nicht mehr. Zusammen gingen sie hin und wieder Forellen fischen, nicht am Schwarzwaldbach, sondern in einer Fischzucht.

Pretzlein war definitiv ein Polterer. Wie konnte der in Fahrt kommen und dann, nunmehr lispelnd, sich verschäumen! Er war vom Konservatismus und der Ordnungsliebe des süddeutschen Menschenschlags. In jungen Jahren hatte er es nicht leicht gehabt. Zum Einen war er, bei seinem Jahrgang, in die schwierige erste Nachkriegszeit hineingekommen. Darüber hinaus hatte er anfangs kein normales Elternhaus gekannt, um endlich von fremden Leuten, deren Namen er nun trug, als deren Kind erzogen zu werden. Es ging ihm inzwischen einigermaßen gut, aber er tobte sich aus, wie immerdar der kleine Mann allerorten beschissen würde.

In jenen Jahren gab dies Anlass, auf eines der Pretzlein'schen Lieblingsthemen zu schwenken. Nämlich regierten seit geraumer Zeit die Konservativen das Land nicht mehr, sondern die Sozial-Liberalen verrieten es an den Iwan und dessen Spießgesellen in Ost-Berlin, Warschau und Prag. Aber die Politik gehörte in meiner Familie zu der Handvoll Themen, die niemals in den Mund genommen wurden. Also wurde auch nie laut gesagt, dass man darüber nicht sprach. Aufmerksame Kinder lernen so etwas recht bald und wissen es genau. Nur der Pretzlein merkte es nicht oder wollte es nie anerkennen und brachte meine Eltern in unangenehme Zwänge, ihm unter den Ohren ihrer Kinder Antworten auf Fragen zu geben, die sie niemals geben wollten.

Meine Eltern waren wohl zu dem Schluss gelangt, man hätte bessere Tage, wenn man Begriffen wie EWG, NATO, Ostblock, Studenten, Juden oder Dritte Welt kein einziges Mal verwendete. Wohl wählten sie die SPD, was bei gewissen Triumphen Brandts und Schmidts, bei einigen Rückschlägen Barzels oder Kohls als zufriedenheitsgeschwängerte Atmosphäre fast zu greifen war, jedoch den Kindern verschwiegen wurde. Auch später dann. Mit der Begründung: Wahlgeheimnis. Wahrscheinlich hofften sie, dass Pretzlein von ihrem Linksdrall nie Wind bekommen würde. Sonst hätte er Stunden, ja Tage daran gesetzt, sie vom richtigen Glauben zu überzeugen. A propos Glauben, Herr Pretzlein war nicht religiös, dafür seine Gattin katholisch hoch zwei. Sowieso waren aber auch Gott und das Weiterleben nach dem Tod Sachen, über die man bei uns nie ein Wort verlor.

Denke ich zurück an Pretzlein, dann sind die meisten Worte wohl über Sport oder Schnitzel, so riesig, dass sie auf zwei Seiten vom Tellerrand hingen, verloren worden. „Wir haben es dann einpacken lassen.“ Pretzlein trieb eine Zeitlang den Sport auch aktiv im Verein, allerdings einen, von dem mein Vater nichts verstand. Pretzlein fuhr mit allerlei Leuten zu den Festen in der Gegend. Er hatte Freunde, er kannte die Leute. Er liebte es zu sprechen und dabei störte es ihn wenig, wenn sein Gegenüber nicht viel zu sagen hatte. Von uns damaligen Kindern her gesehen, ist Pretzlein ein die Arme schlenkernder Kraftprotz gewesen. Er kam in unsere Wohnung, oft einfach so, ungeladen, saß auch hin und wieder beim Mittagessen am Samstag nebendran. Oder es glückte ihm mal, meine Eltern zum gemeinsamen Essen in einem Lokal zu überreden. Von der Warte von uns Kindern betrachtet gab es solche Sachen sonst nie. Hätten wir Pretzleins Sicht einnehmen können, so wären meine Eltern nicht eben bedeutende Leute in dieser kleinen Stadt und in seinem Leben gewesen, die ganze Familie wäre es nicht gewesen.

Willi Pretzlein, der all die Jahre Zigaretten geraucht hatte, mein Vater nur einige Jahre in seiner Jugend, wurde in den letzten Jahren von Problemen der Durchblutung heimgesucht. Am Ende erblindete er allmählich. Seine Brillenglaser waren wie Glasbausteine. Man kaufte einen Wandschirm fürs Fernsehen, aber Pretzlein sah nur noch Grün, nicht mehr die rennenden Spieler. Und im Rollstuhl saß er auch. Pretzleins Frau, ein Leben lang war sie Hausfrau und Mutter gewesen, meine eigene übrigens auch, hatte Pretzleins häusliche Pflege zu managen.

Dass mein eigener Vater am Ende dann sterben würde, hätte mich auch dann nicht gewundert, wenn ich bei meinen gelegentlichen Heimfahrten nicht Zeuge geworden wäre, wie er körperlich und geistig über mehrere Jahre dahinschwand. Der war schon immer einer von der Sorte gewesen, die nichts entspannt wegstecken kann. Immer hatte er sich angestrengt, um alles richtig zu machen, aber weit gekommen war er damit nicht. Pretzlein war natürlich auch einige Jahre jünger gewesen, also überlebte er den Vater noch um gut zehn Jahre. Bloß war er dann genauso tot, weg und fort für immer. Man konnte es schwer glauben. Man konnte noch so oft in die Heimat reisen, alles war geblieben, aber Willi Pretzlein war weg, als hätte es den dort noch nie gegeben.

Wie konnte das zugehen? Ein Pretzlein geht nicht so eben mal weg.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.11.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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