Vor langer Zeit in einem fernen Land, wo die grenzenlos weite Landschaft im Winter für viele Monate noch mit einer dicken, weiß glitzernden Schneedecke überzogen war, da lebte einmal eine alte Frau namens Elfiejenne in einer weit abseits gelegenen Gegend einsam und allein in einer einfachen Holzhütte.
Ihr einziger treuer Begleiter war ein Schäferhund, den ihr mal ein zufällig vorbeiziehender Reitersmann vor vielen, vielen Jahre geschenkt hatte, als er in ihrer Hütte wegen eines heftigen Schneesturmes vorübergehend verweilen musste.
Nachdem sich der Schneesturm wieder gelegte hatte, zog er weiter und ließ den damals noch jungen Welpen bei ihr einfach zurück. Da sie nicht wusste, wie er hieß, gab sie ihm den Namen Akron und zog ihn mit viel Liebe und Hingabe auf.
Als Akron schließlich groß und stark geworden war, nahm sie ihn oft mit auf ihre langen Wanderungen durch die schöne Landschaft, welche durchzogen war von dichten Wäldern, grünen Wiesen und weiten, fruchtbaren Feldern. Es gab auch einige sehr fischreiche Seen, die im Winter mit einer dicken Eisschicht zugefroren waren, sodass man sie von einem Ufer bis ans andere leicht überqueren konnte. Akron war auch immer dabei, wenn Frauchen ein Loch ins Eis schlug um Fische zu fangen, von denen er stets welche abbekam, weil sie so gut schmeckten.
So gingen die Jahre wie im Flug dahin und eines Tages dann war Elfiejenne eine alte Frau geworden, die achtzig Sonnenumläufe hinter sich hatte und langsam merkte, dass sie nicht mehr lange leben würde.
Eines Abends, als sie wieder einmal in ihrer kleinen Hütte vor dem Kaminfeuer saß , merkte sie, wie ihr Hund Akron plötzlich unruhig wurde. Er rannte aufgeregt zur geschlossenen Tür, lief vor ihr hin und her und bellte dabei laut. Trotz ihrer Zurufe konnte die alte Frau den Hund nicht beruhigen, der wohl etwas gewittert haben musste.
Elfiejenne erhob sich schließlich aus ihrem gemütlichen Sessel, zog eine warme Jacke an und ging mit Akron vor die Tür. Kaum war der Schäferhund draußen, sprang er in den tiefen Schnee und lief los. Elfiejenne nahm ihren alten Krückstock und folgte ihm langsam so gut es ging.
Es war eine ruhige, eiskalte Nacht. Der Mond war nur eine dünne Sichel und am klaren Nachthimmel blitzten und glitzerten unendlich viele Sterne, sodass die alte Frau trotz der Dunkelheit noch etwas sehen konnte.
Als sie so durch den schweren Schnee stapfte, sah Elfiejenne am fernen Horizont plötzlich eine Sternschnuppe herabfallen, die mit rasender Geschwindigkeit direkt auf sie zukam und alsbald am Rande eines nah gelegenen Wäldchens laut zischend im Schnee versank.
Akron hatte alles mitbekommen und lief jetzt wie wild geworden zu der Stelle hin, wo die Sternschnuppe niedergegangen war. Die alte Frau hörte ihn in der Ferne bellen und so wusste sie auch, wo sich ihr Hund genau befand.
Bedächtigen Schrittes erreichte sie endlich jenen Ort, wo die Sternschnuppe zischend und dampfend in den hohen Schnee gefallen war. Dann beruhigte sie ihren Rüden erst einmal, der immer noch ohne Unterlass bellte und damit nicht aufhören wollte. Endlich hatte sie ihn soweit gebracht, dass er ruhig neben ihr Platz nahm. Dennoch beobachtete der Schäferhund konzentriert jenen Punkt im Schnee, wo schon die ganze Zeit ein kleines blaues Licht flackerte, das von einem weiß dunstigen Nebel umgeben war.
Vorsichtig näherte sich die alte Frau dem flackernden Licht, das die Umgebung des nahen Waldrandes ein wenig ausleuchtete. Die ganze Situation sah irgendwie gespenstisch aus. Aber Elfiejenne kannte in ihrem Alter keine Angst mehr, nahm ihren Hund an die Leine und ging einfach weiter auf die bläuliche Lichterscheinung zu.
Als sie schließlich die Stelle am Waldrand erreicht hatte, sah sie plötzlich eine Gestalt aus dem blauen Licht hervor treten, das der Erscheinung gleichmäßig folgte. Dann traute Elfiejenne ihren Augen nicht. Sie glaubte zu träumen, als sie das kleine Mädchen erblickte, das barfuß und nur mit einem dünnen Hemdchen bekleidet vor ihr im kalten Schnee stand. Die alte Frau schaute genauer hin und bemerkte, dass das kleine Mädchen gar nicht mit ihren zarten Füßen den Boden berührte, sondern nur wenige Zentimeter darüber hinweg schwebte. Obwohl ihr die Erscheinung doch sehr seltsam und sonderbar vorkam, blieb sie dennoch ruhig und gefasst. Was, so fragte sie sich in Gedanken, könnte ihr schon geschehen auf ihre alten Tage.
Elfiejenne hatte auf einmal Mitleid mit dem zarten Geschöpf, das so leicht bekleidet hier draußen in der eiskalten Nacht sicherlich erbärmlich frieren musste. Sie winkte das Mädchen deshalb zu sich und gab ihr die warme Jacke, die sie sich beim Rausgehen in die kalte Nacht übergezogen hatte. Dann reichte sie dem Kind ihre rechte Hand und führte es zu ihrer bescheidenen Hütte.
Drinnen loderte das Feuer im Kamin. Das kleine Zimmer war wohlig warm geworden und Akron legte sich auf seinen angestammten Platz gleich neben dem knisternden Feuer auf ein warmes Fell. Er war mittlerweile ganz ruhig geworden und bellte jetzt überhaupt nicht mehr, ließ aber das wundersame Mädchen nicht aus den Augen.
Elfiejenne kümmerte sich jetzt rührend um ihren kleinen Gast und bot dem Mädchen sogar etwas zu essen und zu trinken an, das jedoch ohne ein Wort zu erwidern das ihr Dargebotene freundlich in der Art und Weise ablehnte, indem es mehrmals den Kopf verneinend langsam hin und her bewegte. Nach einer Weile setzte sich das Mädchen plötzlich schweigend vor den Kamin und starrte die ganze Zeit in die auf und ab flackernden Flammen, die um die glühenden Holzscheite züngelten. Die ganze Nacht blieb es dort sitzen und tat nichts anderes. Die alte Frau gab sich damit zufrieden, setzte sich in ihren bequemen Sessel und schlief bald ein.
Als es draußen schon wieder langsam hell wurde, saß die alte Frau immer noch an ihrem Platz, schlief aber nicht mehr, weil sie sich krank fühlte. Sie hustete die ganze Zeit und bekam hohes Fieber. Das kleine Mädchen hatte mittlerweile den warmen Platz am Kamin verlassen und stand jetzt neben dem alten Mütterchen, das durch den schweren Husten kaum noch Luft bekam. Dann verspürte Elfiejenne plötzlich einen starken Schmerz in der Brust und verlor kurz darauf das Bewusstsein.
Als sie endlich wieder die Auge aufschlug, fühlte sie sich so, als hätte sie sehr lange geschlafen. Der Husten war wie weggeblasen, sie hatte auch sonst keine Schmerzen mehr in der Brust und fühlte sich wie frisch geboren. Aber irgendwie kam ihr alles so still und friedlich vor, was eigentlich sehr ungewöhnlich war um diese Zeit, dachte sie so für sich. Dann rief sie nach ihrem Hund Akron, um ihn endlich einmal wieder etwas zu kraulen. Obwohl dieser nicht weit weg von ihr träge auf dem Fell vor dem Kaminfeuer lag, schien er sie nicht zu hören, was ihr mehr als eigenartig vorkam. Sie ahnte instinktiv, dass hier etwas nicht stimmte.
Sie sah nach dem kleinen Mädchen und schaute es fragend an, das jetzt wieder leicht zu schimmern begann. Immer stärker wurde das weiß blaue Licht, das sie bald wie ein riesiger Lichtkranz von Kopf bis Fuß umhüllte. Schließlich sah Elfiejenne an sich herab und bemerkte, dass auch sie von einem schimmernden Lichtkranz umhüllt war.
Sie schaute vorsichtig in ihrem kleinen Zimmer herum und erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr eigener Körper noch immer im Sessel saß, obwohl sie bereits aufgestanden war.
Sie erschrak etwas und während sie sich selbst anstarrte, kam das kleine Mädchen auf sie zu und reichte ihr die Hände. Die alte Frau nickte auf einmal bedächtig mit dem Kopf, weil sie plötzlich verstand, was mit ihr geschehen war. Sie war für immer eingeschlafen.
Das kleine Mädchen und Elfiejenne verließen darauf hin die einsam da liegende Holzhütte, um in den Himmel aufzusteigen. Noch ein letztes Mal hielt Elfiejenne inne, um zu fragen, was denn aus ihrem Hund Akron würde, den sie allein zurücklassen musste.
Das Mädchen aber deutete mit dem ausgestreckten rechten Arm auf einen Mann vor der Hütte, der gerade ein Pferd bestieg und davon ritt. Es war der gleiche Reiter, der damals vor langer Zeit während eines heftigen Schneesturmes bei ihr in der Holzhütte Schutz gesucht hatte.
"Er hat dich in den vielen zurück liegenden Jahren stets wachsam beschützt hier draußen in der abgelegenen Einöde. Es trieben sich immer wieder böse Räuber in der Gegend herum, die er aber stets von deiner kleinen Hütte fernhielt, indem er sie durch seine Magie einfach unsichtbar machte. Niemand konnte sie danach sehen. Jetzt reitet er weiter, um nach einem neuen Zuhause da draußen in der weiten Welt zu suchen, ein Zuhause, wo er wieder einen einsamen, lieben Menschen beschützen kann. Akron ist in Wahrheit ein Zauberer, der schon seit einer Ewigkeit unter den Menschen weilt, um sie vor den bösen Mächten zu schützen. Er kann die Gestalt eines Hundes annehmen und sucht auf seinen langen Reisen nach einem friedlichen Zuhause. Wenn er einen guten Menschen gefunden hat, der ihn zu sich nimmt und fürsorglich behandelt, bleibt er sein ganzes Leben bei ihm und hält alles Böse von ihm fern. Stirbt die Person, so ruft er nach mir, und ich nehme die unsterbliche Seele des verstorbenen Menschen mit zu den Sternen, wo neue, fantastische Welten auf sie wartet.“
Nach diesen erklärenden Worten stiegen das kleine Mädchen und Elfiejenne als leuchtende Lichtpunkte hinauf in den unendlich weiten Sternenhimmel, wo sie bald nicht mehr zu sehen waren.
ENDE
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
"Vielleicht ist das, was wir Leben nennen, ein Traum und das, was wir Traum nennen, das Leben."
(Platon)
***
Früher hatte ich diese Träume nicht. Ein Ereignis kündigte sich an. Ob es am drückend schwülem Wetter des Hochsommers lag, dass ich oft so unruhig schlief?
Nun, ich hatte eine nette Frau, eine kleine Familie, ein Haus, kurzum ein Heim mit allem, was man sich nur wünschen konnte. Mein Konto bei der Bank war gut gefüllt und würde mich in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren bestimmt nicht arm werden lassen. Eine reiche Erbschaft stand zudem in Aussicht. Ich war eigentlich ein zufriedener Mensch. Die soziale Absicherung stand wie ein Fels. Ich würde alles, wirklich alles dafür geben, damit es auch so blieb, das schwor ich mir jeden Tag.
Warum hatte ich also diese seltsam anmutenden Träume, in denen ich immer wieder auf Zeitreisen ging?
***
Elisabeth regte sich im Bett, öffnete die Augen ein wenig und murmelte: „Wo bist du gewesen?“
„Das weißt du doch“, antwortete ich ihr und fuhr fort: „In der Arbeit, mein Schatz.“
Als ich diesen Abend heimgekommen war, hatte meine Frau schon geschlafen. Sie drehte sich auf die andere Seite, wobei ihr die Bettdecke wegrutschte. Elisabeth hatte es nicht bemerkt. Ich blickte zu ihr runter. Ich liebte es, die sanften Rundungen ihres nackten Körpers zu betrachten, das lange schwarze Haar, die schlanken Glieder, ihr hervorquellendes Geschlecht, das meine sexuelle Fantasie anregte.
Elisabeth rollte sich auf den Rücken, als ich zu ihr ins Bett stieg. Stille erfüllte das alte Haus, das wir uns vor ein paar Jahren günstig gekauft hatten. Draußen war der Mond eine leuchtende Scheibe und hing am hellen Nachthimmel über der weiten Landschaft wie eine große Laterne.
Da lag ich neben ihr im Ehebett, und mir fiel nichts anderes ein, als sie zu betrachten. Ich streckte langsam meine Hand nach ihr aus, und als ich ihre einladenden Schenkel berühren wollte, wusste ich im selben Augenblick, dass sie mich nicht wollte. Noch nicht…
„Es ist spät“, sagte sie plötzlich.
Es ist erst kurz nach Mitternacht, Schatz.“
„Also, ich bin wie gerädert. Bist du überhaupt nicht müde?“
„Doch, eigentlich schon. Schließlich bin ich seit heute sechs Uhr in der Früh schon unterwegs“, antwortete ich ihr.
„Dann verstehe ich nicht, warum du nicht schläfst, Ronald.“
Elisabeth griff nach der verrutschten Bettdecke und zog sie bis zum Kopf hoch, bis nur noch die Haare zu sehen waren. Dann schlief sie wieder ein.
Ich knipste das Kommodenlicht aus und schloss meine Augen.
Der Traum kam wieder. Vor mir lagen plötzlich die unendlichen Weiten des Universums.
***
Ja, ich beginne langsam zu verstehen. Eine unsichtbare Hand greift nach mir. Sie packt mich und zieht mich weg. Ich zittere am ganzen Leib und lese in diesem Brief, den ich vor ein paar Tagen im Briefkasten ohne Absenderangabe gefunden habe.
Ich blättere zur ersten Seite und beginne zu lesen.
„Fürchte Dich nicht! Du musst keine Angst haben! Niemand wird Dir was tun, aber es ist noch vieles zu erklären. Ich meine damit, dass Du noch einiges verstehen und von mir lernen musst, bevor ich wieder auftauche, damit du bald wieder durch die Zeit reisen kannst. Ich sehne mich nach dir.
Hast du schon erraten, dass Du eigentlich das letzte Mal in der Zukunft warst? Hast Du Deiner Frau gesagt, dass Du den ganzen Tag gearbeitet hast? – Ja? Gut so! Halte Deine Gefühle unter Kontrolle! Konzentriere dich auf mich! Die Kammer, die Du vorhin in der alten Scheune am einsamen Waldrand verlassen hast, ist ein Wunder des Universums. Sie wurde irgendwann einmal von einer längst untergegangenen, hochtechnisierten Raum fahrenden Rasse erbaut und dann aus irgendwelchen unbekannten Gründen zurückgelassen. Sie vagabundiert seitdem ziellos durch Raum und Zeit, taucht auf, wo sie will und wer sie betritt, der wird ihr Herr und Meister bis zu seinem Tod sein, wenn er dann noch sterben kann. Du bist übrigens soeben aus der Welt des Jahres 2506 zurückgekommen, meine Schatz.“
***
„Da bin ich Liebling. Draußen tobt ein furchtbares Gewitter und es regnet in Strömen.“
Elisabeth streckte die Hand aus und berührte mich. Sie fühlte sich kalt an.
„Was ist passiert? Du bist ja ganz nass.“
„Ich wollte die Taschenlampe holen“, antwortete ich. „Wir haben keinen Strom. Der Sturm muss irgendwo die Leitung beschädigt haben.“
„Bist du sicher?“
Ein greller Blitz flammte auf und beleuchtete ihr blasses Gesicht.
„Warum bist du ins Freie gegangen?“
„Bin ich gar nicht. Ich kam nur bis zur Tür und wurde draußen auf der Treppe vom Regen überrascht.“
„Du lügst schon wieder. Ich hasse es, wenn man mich anlügt, Ronald. Das weißt du doch.“
Elisabeths Stimme bekam jetzt einen schrillen Unterton.
„Bei Gewittern geht man nicht nach draußen! Das tut kein normaler Mensch.“
Wieder ein ohrenbetäubender Donner, der alles erbeben ließ. Es klang nach Weltuntergang. Ein Feuerwerk von verästelten Blitzen fuhr vom Wolken verhangenen Nachthimmel. Der Regen peitschte wie eine wild gewordene Furie gegen die getönte Glasscheibe der Haustüre, die ich erst vor wenigen Minuten geschlossen hatte.
Der Lärm, den der Sturm verursachte, jagte mir einen Schauder über den Rücken. Die flackernden Blitze ließen Schatten von Ungeheuern auf den Wohnzimmerwänden wachsen. Sie sahen aus wie grauenvolle, riesenhafte Köpfe, die sich aus dem Dunkeln der Nacht emporhoben.
„Ach Ronald!“ stöhnte Elisabeth. „Das geht nun schon seit Wochen so. Ich spüre ganz deutlich, dass du etwas vor mir verbirgst.“
„Nicht, Elisabeth! Hör doch endlich auf damit! Es ist nichts, rein gar nichts!“
„Du bist hinausgegangen! Du bist hinausgegangen! Eines Tages wirst du nicht mehr wiederkommen!“ wiederholte sie in einem fort, drehte sich plötzlich wie von Sinnen herum und verschwand schluchzend im Schlafzimmer.
Arme Elisabeth. Sie tut mir wirklich leid.
Aber ich hatte mich schon längst entschieden, schon bald ein völlig anderes Leben zu beginnen.
***
„Mein innigster Geliebter! Du möchtest wissen, was alles so in den Jahren nach deinem Verschwinden geschehen ist? Ich sage es Dir!
Dein Vater starb mit 84 Jahren, deine Mutter hat ihn um drei Jahre überlebt. Elisabeth, deine verlassene Frau starb im Alter von 86 Jahren geistig verwirrt in einem Altersheim. Daran warst du Schuld! Oder vielleicht sogar ich? Ich trage wohl die größere Schuld an der ganzen Sache. Na ja, das ist jetzt auch wohl irgendwie egal. Du hättest, ehrlich gesagt, nicht mehr zu ihr gehen dürfen. Ich habe Dir mehrmals davon abgeraten, jedoch wolltest du Elisabeth noch einmal ganz für Dich haben. Sie hat deine Gegenwart nicht verkraften können. Wie ein Geist hat sie Dich angesehen und ist am Ende dabei verrückt geworden. Sie konnte es nicht glauben, dass du plötzlich wieder da warst.“
***
Die unglaubliche Zeitmaschine erlaubte mir nicht nur in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen, nein, sie hat mir darüber hinaus die Segnungen und Laster der Unsterblichkeit geschenkt, was ich am Anfang so nicht bemerkt hatte. Nunmehr bin ich schon seit mehr als fünfhundert Jahren unterwegs in den unendlichen Weiten des Alls. Aber es gibt kein Zurück mehr für mich, seit ich zum ersten Mal 1968 auf dieses Ding in der alten, halb verfallenen Waldscheune durch Zufall gestoßen bin. Ich war gerade beim Pilze sammeln als die Zeitmaschine plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und ihre Pforte für mich öffnete, hinter der sich eine hell erleuchtete Kammer befand. Sie schien auf mich zu warten, denn ich bin vor lauter Angst davon gelaufen bin. Erst später schlich ich mich wieder zurück um nachzusehen, ob sie noch da war. Ich empfand plötzlich den unwiderstehlichen Drang, ihr Inneres zu erforschen. Gleich nach dem Betreten der kleinen hell ausgeleuchteten Kammer wurde ich in eine Art schmiegsame Liege gepresst, der Raum wurde dunkel und hermetisch verschlossen. Seltsamerweise hatte ich überhaupt keine Angst. Dann wachte ich erst wieder auf, als die Zeitmaschine in der Welt des Jahres 2506 in einer abgelegenen Wüstenhöhle materialisierte. Irgendetwas war mit mir jedoch geschehen. Ich konnte dieses seltsame Ding auf einmal mit meinen Gedanken steuern. Auch konnten wir auf geheimnisvolle Weise ohne Worte miteinander reden. Es war schon ein sehr seltsames Gefühl, per Gedankenkraft mit einer Maschine zu reden, wenn sie denn überhaupt eine war.
Die Wüste war eine heiße Hölle und so beschloss ich, gleich wieder in das Jahr 1968 zurückzukehren. Punktgenau und nur ein paar Stunden später erschien ich wieder in der alten Waldscheune und ließ die Zeitmaschine verschwinden, denn ich konnte sie mit meinen Gedanken zurückholen, wann immer ich es wollte.
***
„ Elisabeth, was du da mir da erzählt hast, das ist der nackte Wahnsinn!“
„Nein Marie Ann, ist es nicht. Glaub’ mir. Ronald hat ein Geheimnis. Er benimmt sich so seltsam in der letzten Zeit. Ich bin ihm einmal heimlich gefolgt, bis zu dieser einsamen Scheune am Waldrand. Er ist dort hineingegangen und kam nicht wieder heraus. Als ich hineinschaute, war nichts von ihm zu sehen. Die Scheune war völlig leer. Ronald muss sich in Luft aufgelöst haben. Wo war er nur hin? Irgendwie wurde auf einmal der Ort für mich unheimlich. Dann bin ich so schnell ich konnte wieder nach Hause gelaufen. Ronald kam erst gegen Mitternacht zurück und behauptete, in der Arbeit gewesen zu sein. Er hat mich bestimmt angelogen. Was geht hier bloß vor, Marie Ann?“
„Wenn ich das wüsste, Elisabeth! Die ganze Sache erscheint auch mir jetzt äußerst seltsam. An deiner Stelle ginge ich so schnell wie möglich zur Polizei. Das sage ich als beste Freundin zu dir. Vielleicht tut dein Mann etwas illegales, das er vor dir verheimlichen möchte.“
***
Ich denke nach. Ich lese die letzten Zeilen des Briefes und leg’ ihn weg. Ich denke an Elisabeth und daran, dass ich mit ihr viele Jahre meines Lebens verbracht habe. Sie ist nun schon weit über 45 Jahre tot, aber vor wenigen Minuten habe ich noch neben ihr im Bett gelegen. Ich bin zu ihr in die Vergangenheit gereist und habe sie einfach besucht.
Jetzt stehe ich wieder einmal hier draußen vor unserem verfallenen Haus mit dem total verwilderten Garten. Die Scheune ist vom Wald überwuchert worden und extrem einsturzgefährdet. Ich habe deshalb die Zeitmaschine in den nah gelegenen Bergen verstecken müssen.
Die Gedanken schmerzen. Aber wenn auch meine Gedanken noch so bitter sind, weiß ich dennoch, dass ich mich damals richtig entschieden habe. Die Zeitmaschine ist nämlich in Wahrheit ein lebendiges Wesen. Sie lebt in Symbiose mit mir. Ab und zu schreibt sie mir sogar Briefe und tut alles, um mich zufrieden zu stellen, auch sexuell. Sie ist einfach eine fantastische Liebhaberin, genau wie Elisabeth es war.
***
„ Mein Liebster, du musst sie vergessen! Deine alte Elisabeth gibt es nicht mehr. Vergiss am besten alles, was einst mit deinem alten Leben zu tun hatte. Stell dir vor, dass es einfach nur ein schrecklicher Traum gewesen war, der dich wie ein böses Gespenst in unruhigen Nächsten besucht hat“, sagte Elisabeth mit ihrer sanften Stimme zu mir. Meine Finger umschlossen die ihren. Was in mir vorging, ließ sich nicht in Worte fassen. Es war einfach unfassbar.
Wir schlenderten zum Fluss hinunter. Die Landschaft schlief noch, und der stille Morgen verhieß einen heißen Tag. Wir wussten nicht genau, wohin wir wollten und genossen es einfach, beisammen zu sein…, ich und mein wandelbares Wesen Zeitmaschine, die in der menschlichen Gestalt von Elisabeth neben mir herging und mich plötzlich küsste.
Ende
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
Der ganz normale Horror
Der 82jährige Pensionär Mr. Harry Brixon machte eine längere Pause, sog die ganze Zeit an der dicken Zigarre herum und sagte dann zu seinem Fox Terrier „Murphy“ resigniert: „Als Frauchen noch lebte, Gott sei ihrer armen Seele gnädig, ging es mir ehrlich gesagt besser. Jetzt muss ich leider alles selbst machen. Nun, was soll’s. - Tja, schade, dass sie eines gewaltsamen Todes sterben musste. Aber eigentlich hat sie das Schicksal doch selbst heraus gefordert – oder? Was meinst du Murphy?“
Der glatthaarige Hund mit dem Rasse bedingten hoch aufgerichteten Schwanz, der ihn immer angriffslustig erschienen ließ, und dem braun weiß gescheckten Fell, stand seitlich neben Mr. Brixon, drehte seinen schlanken Kopf herum, betrachtete sein ziemlich moralisch deprimiertes Herrchen aus intelligent drein blickenden Augen und bellte zweimal kurz: „Wau, wau!“
„Jaaa, ist schon gut mein Bester. Ich weiß, ich weiß. Du bist völlig unschuldig an der ganzen Sache. Frauchen hat dich meistens schlecht behandelt und oft grundlos verprügelt, weil sie dich gehasst hat. Glaubst du vielleicht, mir wäre das nicht aufgefallen? Hab’ ich dich denn nicht jedes Mal rechtzeitig von ihr weggenommen, dich gleich nach ihren brutalen Schlägen liebevoll gestreichelt und, damit du dich beruhigen konntest, sofort Gassi geführt – Murphy?“ redete Mr. Brixon auf seinen Hund ein und tat so, als ob dieser ihn verstünde.
Der wachsame Fox Terrier knurrte plötzlich böse und kratzte aufgeregt mit den Vorderpfoten im weichen Wiesenboden herum, sodass der Dreck nur so nach hinten wegspritzte. Murphy beruhigte sich erst wieder, als Herrchen mit der rechten Hand energisch auf eine freie Stelle der hölzernen Parkbank klopfte und ihn mit knappen Worten befahl: „Hoch mit dir, Murphy, leg’ dich hier hin und sei brav! Glaub’ mir, alles wird wieder gut.“
Der Fox Terrier gehorchte sofort, sprang mit einem einzigen Satz neben sein Herrchen auf die Bank, nahm Platz, streckte die Vorderpfoten weit von sich, um schließlich den schlanken Kopf mit dem kräftigen Scherengebiss in bequemer Stellung darauf abzulegen. Als Herrchen ihn streichelte, war Murphy bald in einen tiefen Hundeschlaf gefallen.
Ein Jahr vorher.
Mrs. Agathe Brixon war zwei Jahre älter als ihr Mann Harry gewesen und von fettschwammiger, untersetzter Körperstatur. Sie war ungewöhnlich hässlich. Und wenn sie überhaupt mal mit anderen Menschen aus der Umgebung in Kontakt kam, machten diese in der Regel einen weiten Bogen um sie herum, weil Mrs. Brixon eine zänkisch-bösartige Natur besaß, die niemand auf Dauer ertragen konnte. Und weil das so war, wollte mir ihr niemand etwas zu tun haben.
Auch ihr Ehemann Mr. Brixon, und ganz besonders der Fox Terrier Murphy, waren Tag für Tag den aggressiven Launen der alten Gewitterziege wehrlos ausgesetzt. Manchmal schlug sie sogar mit einem harten Teppichklopfer auf das Tier ein, wenn Murphy aus Versehen irgendwas Dummes angestellt hatte und Herrchen sich gerade mal nicht im Haus aufhielt. Der Fox Terrier war nun mal ein temperamentvoller Hund und hatte einen ziemlich stark ausgeprägten Bewegungstrieb.
Mr. Brixon war eigentlich schon immer ein sehr geduldiger und gutmütiger Mensch gewesen. Aber eines Tages rastete er total aus, als Mrs. Brixon den armen Hund wegen einer unbedeutenden Sache wieder einmal so heftig schlug, dass dieser vor Schmerzen laut zu jaulen anfing und vor lauter Schreck unter die breite Wohnzimmercouch kroch, um sich dort zu verstecken. Das machte die alte Frau nur noch rasender vor Wut. Sie wollte den völlig verängstigten Hund unbedingt da rausholen, schob mit laut schimpfender Stimme das schwere Möbelstück zur Seite und trat mit den Füßen nach dem zitternden Tier, das sich nur noch weiter in die Ecke verkroch.
Schon die ganze Zeit beobachtete Mr. Brixon mit einer gewissen Fassungslosigkeit von der Küche aus das schlimme Getue seiner zänkischen Alten, die jetzt wie eine wild gewordene Furie den armen Hund fortwährend traktierte. Er war davon überzeugt, dass jeder Schlag und jeder Fußtritt auch ihm galt, weil er den Fox Terrier damals aus dem Tierheim geholt und sich seit der Zeit liebevoll um ihn gekümmert hatte.
„Ich muss endlich was unternehmen, jetzt reicht es!“, murmelte Mr. Brixon drohend vor sich hin, „diesmal ist sie zu weit gegangen.“
Reflexartig nahm er wie in Trance das große, blitzende Brotmesser aus der Tischschublade, lief hinüber ins Wohnzimmer und stach wie von Sinnen auf Mrs. Brixon ein, die kurz darauf blutüberströmt zusammenbrach und am Boden regungslos liegen blieb. Die alte Frau röchelte noch ein paar Mal und sackte kurz darauf wie ein alter Blasebalg in sich zusammen. Dann war sie tot.
2 Tage später nach der Bluttat.
Das Haus der Brixons stand auf einem einsamen, gut eingezäunten Grundstück draußen vor der Stadt in der Nähe eines weitläufigen Parks. Hier ging der Rentner mit seinem Hund Murphy oft spazieren oder saß mitunter stundenlang auf einer der zahlreich vorhandenen Parkbänke und schaute dem Fox Terrier beim Spielen zu. Mr. Brixons Ehe war kinderlos geblieben. Er ging schon lange nirgendwo mehr hin und besaß auch sonst keine Freunde. Dafür liebte er seinen Hund über alles, der jetzt sein einziger Kamerad war.
Nach dem Mord an seiner eigenen Frau hatte er die Leiche in den Keller gebracht, sie in der großen Eistruhe ordentlich verstaut und die Wohnung peinlich gesäubert. „Niemand würde sie vermissen“, dachte sich der Rentner. Er verspürte nicht die geringste Reue über sein Verbrechen, sondern empfand zum ersten Mal in seinem Leben wieder so was wie innere Ruhe und Frieden. Wenn er den Keller verließ, schloss er jedes mal gewissenhaft die schwere Holztür hinter sich zu.
-.-
Draußen wurde es langsam dunkel. Die Nacht brach herein. Mr. Brixon war neben seinem Hund auf der Parkbank eingenickt. Sein Fox Terrier lag immer noch treu neben ihm, mittlerweile allerdings hellwach. Keinen Zentimeter war er von seinem Herrchen gewichen.
„Na, was ist mein Guter?“ fragte Mr. Brixon seinen Hund und fuhr fort: „Wir beide haben wohl ausgiebig geschlafen, nicht wahr? Jetzt wird’s aber Zeit, dass wir nach Hause gehen Murphy und dir etwas zu fressen geben! Du siehst ziemlich hungrig aus, mein Freundchen. Also, auf geht’s! Frauchen wartet schon auf dich, auch wenn von ihr nicht mehr viel übrig geblieben ist.“
Mit freudig wedelndem Schwanz sprang Murphy von der Holzbank, bellte mehrmals laut und kräftig an seinem Herrchen hoch, der sich jetzt mit bedächtigen Schritten auf den Heimweg machte und darüber nachdachte, wie lange Mrs. Brixon wohl noch als Hundefutter für Murphy reichen würde.
Ende
©Heinz-Walter Hoetter
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
Der Beitrag wurde von Heinz-Walter Hoetter auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.11.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Heinz-Walter Hoetter als Lieblingsautor markieren
Schnecken queren
von Stefan Nowicki
Es handelt sich um eine kleine Sammlung von Kurzgeschichten und Gedichten in denen der Autor sich im Wesentlichen mit den Schwächen von uns Menschen beschäftigt und versucht durch die gewählte Sichtweise aufzuzeigen, wie liebenswert diese kleinen Unzulänglichkeiten unsere Spezies doch machen.
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