Marc Fischels

Der Weihnachtsbaumverkäufer

 
Auch dieses Jahr war ich als Christbaumverkäufer tätig. Verkauft wurden die Tannen auf dem Parkplatz eines großen Supermarkts. Die Verkaufszeiten richten sich nach den Öffnungszeiten des Einkaufszentrums, die im Dezember auch sonntags geöffnet sind. Das heißt, ich war täglich im Einsatz, irgendwie logisch, schließlich gibt es nur dieses kleine Zeitfenster, wo man Weihnachtstannen verkaufen kann. In einer durch Absperrungen gesicherten Verkaufsfläche wurden Tannen in verschiedenen Größen angeboten, von Minitannen mit 50 cm bis zu den größten Weihnachtsbäumen mit 3 m Höhe. Neben den unterschiedlichen Maßeinheiten gibt es auch Qualitätsunterschiede, also Tannenbäume erster und zweiter Wahl.
 
Es werden nur Nordmanntannen angeboten. Vor allem ältere Kunden beschweren sich, dass die heimischen Tannen nicht mehr erhältlich sind, sie vermissen den herrlichen Duft, den sie im Wohnzimmer verbreiten. Ich stimme dem zu, aber die Nordmanntanne, ursprünglich aus dem westlichen Kaukasus stammend, hat lokale Nadelbäume als beliebtesten Weihnachtsbaum abgelöst. Die Gründe sind vor allem die Robustheit und das gleichmäßige Wachstum des Baumes, und sie sind nicht so dornig. Dazu kommt eine tief dunkelgrüne Farbe, die deutlich kräftiger ist als die anderer Nadelbäume.
 
Dieses Jahr war ich an einem neuen Verkaufsstandort und wurde immer wieder nach meinem Vorgänger gefragt. Jedes Mal gab ich die gleiche Antwort, dass ich ihn nicht persönlich kenne und dass er diesen Job aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. 

Der Verkauf folgt immer dem gleichen Muster. Hat sich der Kunde für einen Baum entschieden, schiebe ich den Christbaum mit dem Stumpf voran durch die trichterförmige Verpackungsvorrichtung, auch Netzmaschine genannt. Dies schützt den Weihnachtsbaum vor Beschädigungen und erleichtert den Transport. Diese Verpackungsmaschine ist eine großartige Erfindung und viele Kunden sind immer wieder von ihrer Effizienz beeindruckt. Ich hoffe, der Erfinder dieser Maschine hat sich seine Idee patentieren lassen, kommentierte ein Mann mit einem Augenzwinkern. Das sehe ich genauso, dachte ich und nickte dem Kunden wohlmeinend zu.

Dies ist mein  drittes Jahr als Christbaumverkäufer, und ich habe bereits einige Erfahrungen gesammelt. Damen mögen mir verzeihen, aber im Allgemeinen bevorzuge ich männliche Kunden. Sie sind weniger anspruchsvoll und entscheiden in wenigen Sekunden. Es kann aber auch sein, dass Frauen sich mehr Gedanken machen und methodisch vorgehen. Sich Fragen stellen, ob ausreichend Platz vorhanden ist, der Baum nicht zu groß oder zu breit ist. Auch hier bestätigt die Regel die Ausnahme. Mein schwierigster Kunde, ein Mann mittleren Alters, brauchte fast eine halbe Stunde, um eine Entscheidung zu treffen, und änderte immer wieder seine Meinung. Erst als ich ihm zu verstehen gab, dass bald Feierabend wäre, konnte er sich zu einer Entscheidung durchringen. 
 
Vormittags kommen vorwiegend ältere Kunden, vor allem Rentner, während die jüngeren am späten Nachmittag nach der Arbeit vorbeischauen. Frühnachmittags in der Woche war vor allem gähnende Langeweile angesagt. Um die Zeit totzuschlagen, spazierte ich durch den Eingangsbereich des Supermarktes, genoss die wohlige Wärme, hatte aber dank der großen Fenster meinen Arbeitsbereich stets im Blick. Da ich sonst nichts zu tun hatte, beobachtete ich die Leute. Dabei stellte ich fest, dass einige von ihnen regelmäßig fast täglich vorbeikamen. Ein junger Mann, sehr fettleibig, trug immer die gleiche Kleidung, ein kurzärmeliges T-Shirt und knielange Shorts. Das Shirt, eng anliegend, reichte nur bis zum Nabel, seine Wampe quoll über den Hosenrand. Er blieb vor dem Eingangsbereich stehen und rauchte trotz Temperaturen um den Gefrierpunkt genüsslich eine Zigarette. Ein anderer Supermarktkunde parkte seinen Pkw immer an derselben Stelle, stieg aus und verriegelte die Tür per Zentralverriegelung. Anschließend überprüfte er alle vier Türen einzeln, um sicherzustellen, dass sie tatsächlich geschlossen waren. Dann holte er seinen Einkaufswagen, kam zu seinem Auto zurück und inspizierte noch einmal alle vier Türen. Dieser Vorgang wiederholte sich jedes Mal auf die gleiche Art und Weise.
 
Und da wäre noch diese Frau von kleiner Statur, schlank und stets schwarz gekleidet. Jeden Tag ging sie zügig über den Parkplatz und zog einen Rollkoffer hinter sich her. Im Eingang des Einkaufszentrums erweckte sie den Eindruck, als betrete sie eine Bahnhofshalle oder einen Flughafenterminal. Zuerst dachte ich, sie würde ihre Einkäufe in ihren Koffer verstauen. Das war nicht der Fall. Sie kam täglich und verpackte ihre wenigen Sachen in eine Plastiktüte.
 
Samstags kann von Langeweile keine Rede sein, von morgens bis abends war ständig viel los. Oftmals waren mehrere Kunden gleichzeitig anwesend, sodass nicht viel Zeit für Beratungen und Plaudereien blieb.

So unterschiedlich die Menschen sind, genauso abweichend sind auch die Wünsche einzelner Klienten. Immer wieder brachten  vor allem ältere Kunden ihren eigenen Christbaumständer mit. Nachdem sie sich für eine Tanne entschieden hatten, baten sie mich, die mitgebrachte Stütze am  Baumstumpf zu befestigen. Vor allem die dunkelgrün lackierten Gusseisenständer aus längst vergangenen Zeiten weckten bei mir Erinnerungen an meine Kindheit. Es gab auch Leute, die versuchten zu verhandeln, um den Preis niedrig zu halten. Ich habe dann jedes Mal erklärt, dass ich nicht der Eigentümer, sondern nur der Verkäufer bin und diesem Wunsch daher nicht nachkommen kann. Nicht immer stieß das bei jedem auf Verständnis. Die ein oder andere unangenehme Auseinandersetzung blieb nicht aus. Gott sei Dank war das eher die Ausnahme.
 
An einem Nachmittag nach Schulschluss kam eine Frau in Begleitung ihrer Tochter und begutachtete einen Christbaum. Sie fragte mich um Rat, während ihr Kind einen viel größeren Baum im Blick hatte. „Mama“ rief das Mädchen, „ich will diesen Baum, der gefällt mir sehr“. „Mäuschen, der ist zu teuer“, antwortete die Mutter. Als ich den enttäuschten Blick ihrer Tochter sah, erklärte mir die Dame leicht beschämt und verlegen, dass dieser Preis ihr Budget übersteigen würde. Also nahm ich den großen Baum und schob ihn in die Netzmaschine. „Ich verkaufe Ihnen diesen Weihnachtsbaum zum Preis der Tanne, die sie ausgewählt haben“, sagte ich der Mutter. Ein  freudiges „Ja“ fuhr dem Mädchen über die Lippen. Ungläubig fragte mich die Mutter, wieso ich das tun würde. „Einfach so“, antwortete ich, „um ihrer Tochter eine Freude zu bereiten“. Heute habe ich soviel Trinkgeld bekommen, da kann ich dies locker verschmerzen ging es mir durch den Sinn. Außerdem nehme ich mir ab und zu, die Freiheit zu entscheiden, wem ich einen Rabatt geben möchte. 
Auffällig war auch, je näher Weihnachten rückte, umso höher fiel das Trinkgeld aus. Ob das mit der Jahresgratifikation oder der besinnlichen Weihnachtsatmosphäre zusammenhängt, kann ich nicht beurteilen.
 
Zu Beginn der letzten Verkaufswoche kam eine gut gekleidete ältere Dame auf mich zu und fragte nach einem kleinen Weihnachtsbaum. „Am Nachmittag erhalte ich eine neue Lieferung, da sind auch kleine Tannen dabei“, antwortete ich. „Wunderbar morgen früh komme ich wieder“, entgegnete die Dame. Am nächsten Tag wurde die Frau erneut vorstellig und fand schnell, was sie suchte, indem sie den kleinsten Weihnachtsbaum auswählte. „Ich werde diesen Baum schmücken und stelle ihn auf das Grab meines Sohnes. 42 Jahre sind seit seinem Tod vergangen“, erklärte sie. „Oh mein Gott“ widerfuhr es mir. „Gott existiert nicht“, antwortete die Dame. „Wenn es Gott gäbe, hätte er nie zugelassen, dass ein Kind mit 12 Jahren so leidet und stirbt“. Ich antwortete nicht, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. „Das Schmücken des Baumes hat ihm jedes Mal viel Freude bereitet. Aus diesem Grund stelle ich jedes Jahr zu Weihnachten einen dekorierten Christbaum auf sein Grab“ gab sie mir zu verstehen. Die Ware gut im Netz verpackt, begleitete ich die Dame zu ihrem Wagen und legte den Christbaum in ihren Kofferraum und wünschte Ihr ein gesegnetes Weihnachtsfest. „Vielen Dank auch“ - antwortete die Dame und „vielleicht bis nächstes Jahr“. „Wer weiß“, entgegnete ich, „wenn Gott - Pardon, wenn das Schicksal es will“.
 
Ich war gerade dabei, den Boden zu säubern, fegte die vielen Tannennadeln zu einem Haufen zusammen, als ich eine Frauenstimme vernahm. Ich drehte mich um, es war die Frau mit dem Rollkoffer. Sie sagte mir, dass sie mich mehrmals beobachtet hätte und die Leute würden erzählen, ich wäre nicht aus der Gegend, ich hätte einen sonderbaren Akzent. Während ich ihr antwortete, dass ich erst seit drei Jahren in der Region lebe, fiel mir auf, dass sie einen gepflegten Eindruck machte. Mein Anfangsverdacht, dass sie womöglich wegen des Rollkoffers obdachlos wäre, verwarf ich sofort. Ihr Gesicht wies ausgeprägte Proportionen auf. Hohe Stirn, markante Wangenknochen, dunkelbraune Augen unter schwarzen Augenbrauen, leicht geschwungene Nase, volle Lippen, umgeben von langen, gelockten dunklen Haaren, südlicher Typ, wahrscheinlich Anfang vierzig. An ihren Händen konnte man erkennen, dass körperliche Arbeit ihr nicht fremd war, ihre Finger waren kurz und kräftig. Auffällig waren ihre schwarzen Springerstiefel mit hohen Absätzen, die sie wohl aufgrund ihrer geringen Körpergröße trug. „Ich komme auch nicht ursprünglich aus der Region“, antwortete sie. Ich lebe zwar seit mehreren Jahren hier, aber es fällt mir schwer, die Mentalität der Einheimischen zu akzeptieren. Ich mag sie nicht besonders, sie sind gefühlskalt, überheblich und provinziell“.
 
Ich wollte gerade nach ihrer Herkunft fragen, als plötzlich ein Mann unser Gespräch laut unterbrach. „Hallo, ich werde dieses Jahr ihr bester Kunde sein  und möchte zwölf Tannen zweiter Wahl“. „Moment komme sofort“, antwortete ich. Wandte mich wieder der Dame zu, um mich zu verabschieden, da hatte sie sich schon einige Meter entfernt, wie immer in zügigem Tempo. Ich sah sie noch einige Male über den Parkplatz gehen, aber zu einem Gespräch kam es nicht mehr. „Zwölf Tannen“ wiederholte ich „für einen Verein oder für eine Firma? “„Nein“, sie sind alle für mich entgegnete er und fuhr weiter fort. „Letztes Jahr hatte ich sechs Tannen gekauft und dieses Weihnachten möchte ich die Anzahl verdoppeln. Mit Kunstschnee besprüht und Lichterketten dekoriert werden sie den Außenbereich meines Hauses schmücken.“ Stolz zeigte er mir auf seinem iPhone, Dekorationsfotos und Videos vom letzten Jahr. Ach, du meine Güte, dachte ich, ein sogenannter  Weihnachtsenthusiast, der mit üppiger Dekoration nicht nur andere, – sondern auch immer wieder sich selbst zu übertreffen versucht. Wahnsinn pur, – grelles Gewimmel aus Lichterketten und Figuren, buntes Dauerblinken von Sternen und Rentierschlitten, umrundet von dekorierten Weihnachtstannen. „Das wird aber keine billige Stromrechnung“, bemerkte ich amüsiert. „Stimmt“ antwortete er im oberen dreistelligen Bereich“. „Also fast tausend Euro“, entgegnete ich verdutzt. „Ja, das Ganze ist es mir wert“, meinte mein selbst ernannter bester Kunde. Warum nicht, dachte ich, mein Ding ist das zwar nicht, aber wenn es ihn erfreut, seinen Stromanbieter wird es auch freuen. Mit grossem Eifer half er mir, die zwölf Tannen zu verpacken und auf seinem Lieferwagen zu verladen. Eigentlich ein netter Kerl, nur eben ein bisschen durchgeknallt kam es mir in den Sinn, als wir uns mit gegenseitigen Weihnachtswünschen verabschiedeten. Das sind die Auswüchse einer enthemmten Konsumgesellschaft, dachte ich, als mir einfiel, dass ich als Christbaumverkäufer diesbezüglich auch kräftig mitmischen würde.
 
Vom Umsatz her war dies ein gutes Jahr, habe mehr Tannen verkauft als letztes Jahr. Allerdings gibt es in meiner Wohnung keinen Weihnachtsbaum.  Ich wohne im ersten Stock eines alten Fachwerkhauses in der Altstadt, mitten im Zentrum des örtlichen Weihnachtsmarktes. Bin von derart viel Weihnachtstrubel umgeben, dass bei mir lediglich ein paar Tannenzweige als schlichte Dekoration dienen. Abends nach Feierabend genieße ich die Ruhe und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Vielleicht wird es wieder ein Fest der Besinnlichkeit, geht es mir durch den Kopf. Bei dem Platz bleibt auf das zu blicken, was uns Weihnachten beschert hat: Ein friedliches Kindlein im Stall - angekündigt als Heiland und Erlöser, Gottes Sohn eben. Und da war sie wieder, die Sinnfrage nach der Existenz Gottes.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.12.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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