Die schöne Science Fiction-Autorin Mercedes Lücère schlief tief und fest in ihrem wunderschönen Himmelbett und träumte wieder einmal diesen seltsamen Traum.
***
Das tropfenförmige Sternenschiff ONEIROS beschrieb zuerst einen weiten Bogen und steuerte dann geradewegs auf den kleinen Raumhafen FELT SENSE zu.
Noch im langsamen Sinkflug begriffen, fuhren gleichzeitig vier Landestützen an der glatten Unterseite des metallisch glänzenden Raumschiffes heraus. Wenig später landete es schließlich sanft auf einer riesigen, kreisrunden Plattform, die an der Peripherie rundherum mit gelb blinkenden Warnlichtern bestückt war. Nacheinander schalteten sich die mächtigen Antigravitationstriebwerke ab und eine mehr als drei Meter hohe, oval ausgeformte Ausstiegsluke am bauchigen Heck des Raumschiffes öffnete sich mit einem gleichmäßig surrenden Geräusch.
Draußen war es ungemütlich kalt.
Plötzlich, wie eine aus dem Nichts erscheinende geisterhafte Gestalt, löste sich aus dem dampfenden, milchig weißen Dunstschleier der gewaltigen Triebwerke eine gut gekleidete junge Frau mit wallendem Umhang. Sie hieß Mercedes Lücère, die eine außergewöhnlich schöne und extravagante Frau war und mit ihrem wohlgeformten Körper überall auffiel. Außerdem trug sie lange blonde Haare, die auf dem Planeten NORAPA sowieso eine Seltenheit waren. Die meisten Einheimischen hatten schwarze Haare. Jeder Mann, der ihr entgegenkam, schaute ihr deshalb bewundernd und begehrlich hinterher.
Um diese Zeit war auf dem Planeten NORAPA eigentlich noch Winter, der allerdings bisher so gut wie ausgeblieben war. Dafür regnete es leicht.
Zudem warf sich Mercedes ein böiger Wind entgegen, der ihren wärmenden Umhang weit aufblähte, als sie gerade die glasüberdachte Gangway verließ und über eine kurze, ungeschützte Fläche zum Ausgang des Raumflughafens hinüber ging. Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht. Schließlich stand sie draußen an der belebten Zubringerstraße, auf der jetzt um diese Zeit reger Verkehr herrschte.
Die zahllosen Gebäude links und rechts der ineinander verzweigten Verkehrswege sahen fast alle gleich aus. Nur einige von ihnen stachen durch ihre architektonischen Besonderheiten hervor, sowohl in Größe, als auch in ihrer Form.
Das Außergewöhnliche fällt eben immer auf, stellte die hübsche Blondine dazu in Gedanken fest und dachte dabei wohl mehr an ihre eigene Schönheit und Attraktivität und weniger an ihr schwaches berufliches Können, das sie zu einer minder begabten Science Fiction-Autorin deklassierte.
Mercedes Lücère schaute sich nach einem freien Taxi um, als sie draußen vor dem Ausgang unter einem regensicheren Glasdach stand.
Keine sieben oder acht Meter neben ihr parkten zwei radlose Personenbeförderungsgleiter, auf die jetzt die junge Frau zielstrebig zuging. Der Fahrer des vorderen Vehikels erwachte gerade aus seinem Halbschlaf, als Mercedes gegen die halbrund geformte Glaskuppel der separaten Steuerkabine klopfte. Der Mann zuckte unwillkürlich zusammen, stieg aber sofort aus, als er die schöne Passagierin sah, begrüßte sie freundlich und legte ihr Handgepäck auf den weich gepolsterten Rücksitz. Danach half er der jungen Frau beim Einsteigen ins Taxi.
„Zu Mr. Freud“ bat sie mit Bestimmtheit, als sie im Fond des schwebenden Superschlittens Platz genommen hatte. „Er wohnt in der Villa Luzid auf dem Hügel.“
„Kein Problem. Ich kenne die Herrschaften!“, sagte der Mann und warf Mercedes gleichzeitig einen merkwürdigen Blick zu. Schweigend setzte er sich auf den Fahrersitz seines Antigravitationsgleiters, nahm den klobigen Joystick in die rechte Hand, startete das Triebwerk und brauste mit rasant steigender Geschwindigkeit davon.
Nachdem sie den Raumhafen FALT SENSE und die Stadt SENOI hinter sich gelassen hatten, wurde das Gelände gebirgig. Serpentinenartig schlängelte sich die breite Straße zwischen schroffen Felsen, farnartigen Bäumen und riesenhaften Kakteen aufwärts. Die Flora und Faune des Planeten NORAPA waren eine einzigartige Wunderwelt an Vielfältigkeit.
Je höher sie kamen, desto stürmischer und eisiger wurde offenbar der Wind. Mercedes spürte, wie er an der Karosserie des Gleiters rüttelte und bemerkte dabei, dass sich auf den leicht abgedunkelten Scheiben des lautlos dahingleitenden Fahrzeuges kleine Eiskristalle bildeten. Manche sahen aus wie die Gesichter von Fabelwesen. Die junge Frau fröstelte etwas, obwohl es im Innern des Taxis angenehm warm war.
Sie schaute nach vorn. Plötzlich konnte man die vornehme Villa sehen, die durch immergrüne Büsche und Bäume hinter einer weißen Mauer durchschimmerte.
Einige der Bäume ähnelten den Zypressen auf der ERDE, die wie mahnende Zeigefinger gegen den mit grauen Wolken verhangenen Himmel ragten. Von hier oben aus konnte man die Stadt SENOI, mit ihrem Raumflughafen FALT SENSE und das stolze Sternenschiff ONEIROS sehen. Der Ausblick war imposant.
Endlich hielt der radlose Beförderungsgleiter mit leichten Schaukelbewegungen vor dem protzigen Eingang der Villa an.
Mercedes entlohnte den Fahrer großzügig, der sich bei ihr für das zusätzliche Trinkgeld artig bedankte. Sie verließ das Taxi und nachdem ihr der freundliche Mann das Handgepäck ausgehändigt hatte, trat er ziemlich rasch, ja schon fast fluchtartig, mit seinem schwebenden Vehikel den Rückweg an. Scheinbar waren ihm die Leute, aber auch die abgelegene Gegend hier oben nicht ganz geheuer, dachte sich die gut aussehende Blondine und blickte dem mit heulenden Triebwerken davonjagenden Taxi nachdenklich hinterher.
Mit ihrem Koffer in der Hand marschierte Mercedes schließlich auf die wuchtig aussehende Holztür der vor ihr liegenden Villa zu und drückte zaghaft auf die Klingel an der weißen Wand. Sie horchte angespannt. Alles blieb vorerst ruhig. Doch dann glaubte sie, drinnen schleichende Schritte zu hören. Nervös trat sie schnell einen Schritt zurück. Kalter Schweiß breitete sich in ihrem Nacken aus, als sich hinter der massiven Holztür rasselnd ein Schlüssel bewegte. Langsam öffnete sie sich, aber nur einen Spalt breit. Das faltige Gesicht eines alten, grau behaarten Mannes kam zum Vorschein.
„Haben Sie an der Tür geläutet? Was wünschen Sie, junge Frau?“
Der ältere Herr, anscheinend der Diener, starrte Mercedes durch den geöffneten Türspalt mürrisch an. Im gleichen Augenblick weiteten sich seine Augen mit einem Ausdruck panischen Entsetzens. Er wich zurück, als hätte er gerade ein schreckliches Ungeheuer gesehen. Die junge Frau drückte verwirrt die hölzerne Eingangstür noch weiter auf, sodass sie jetzt ungehindert in einen schwach ausgeleuchteten Flur schauen konnte.
Der alte Mann mit den grauen Haaren stand im Halbdunkel des Ganges da wie ein kleiner Schamane. Sein Atem ging schwer, schon fast keuchend. Dann drehte er sich plötzlich um, hetzte ins Innere des Hauses zurück und stieß dabei immer wieder gellende Schreie aus. Schließlich flüchtete er eine Treppe hinauf, die in den ersten Stock der Villa führte. Mercedes hörte noch, wie der Alte immer wieder ihren Namen rief.
„Großer Gott! Sie ist es, die junge Mercedes Lücère! Sie ist zurückgekommen!“ Doch ganz plötzlich endeten seine hysterischen Schreie, gerade so, als hätte ihm jemand den Mund zugehalten.
Mercedes war mittlerweile weiter ins Haus getreten. Sie schaute sich vorsichtig um und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, dass sich während ihrer Abwesenheit nicht viel verändert hatte. Kurz darauf polterten Schritte die Treppe hinab und ein ziemlich hochgewachsener Mann, nicht älter als sechzig Jahre vielleicht, trat in ihr Blickfeld. Er war mit einem offenen Seidenhemd und einer eng anliegenden Hose aus schwarzem Leder bekleidet. In seinem langen, kantigem Gesicht fielen die giftgrünen Augen auf, die einen lebhaften Kontrast zu seiner brauen Haut und seinen schwarzen Haaren bildeten.
Der schlanke Mann verließ die Haustreppe nicht, sondern blieb unten auf der letzten Stufe unentschlossen stehen. Seine rechte Hand umklammerte das hölzerne Treppengeländer so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Sein Gesichtsausdruck war von einer tiefen Fassungslosigkeit erfüllt. Der erstaunte Blick seiner Augen verfinsterte sich, als er auf Mercedes herabschaute, die jetzt wie angewurzelt im Gang stehen geblieben war.
„Nein, nein! Wie ist das möglich? Die junge Mercedes Lücère? Wir hielten dich alle für tot“, sagte der hagere Kerl auf der Treppe mit schleppender Stimme, während er noch immer wie betäubt auf die junge Frau mit den langen blonden Haaren herabstarrte. Er schnappte dabei nach Luft, als hätte er eine Kröte verschluckt. Aber er riss sich zusammen.
„Du hast meinem Diener Hypnos und mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, Mercedes. Man könnte fast glauben, nach all dem, was passiert ist, dass du von den Toten auferstanden bist.“
Das schöne Gesicht der jungen Frau nahm verächtliche Züge an sich.
„Aber wie du siehst, bin ich noch sehr lebendig. Ob es dir nun passt oder nicht“, sagte die Schönheit trotzig.
Leicht verwirrt von der unverhofften Gegenwart der jungen Frau bequemte sich der Hausherr, endlich runter in den Flur zu kommen. Als er direkt vor Mercedes stand, mustere er sie erneut skeptisch von unten bis oben. Seine Worte klangen jetzt ein wenig ruhiger und gefasster.
„Ja, du bist es wirklich, daran gibt es keinen Zweifel“, sagte er immer noch sehr erstaunt, nahm ihr einfach den Reisekoffer aus der Hand und ging schweigend die Treppe hinauf in den ersten Stock der Villa. Die Blondine folgte ihm.
Oben angekommen, stand Hypnos neben der Treppe. Er hatte offenbar die Unterhaltung der beiden heimlich belauscht. Die junge Frau setzte jetzt absichtlich ein freundliches Lächeln auf, als sie in sein verängstigtes Gesicht sah. Da sie gezwungenermaßen an ihm vorbei gehen musste, blieb sie für einen Moment auf seiner Höhe stehen, hielt ihm die rechte Hand hin und begrüßte ihn freundlich. Doch der alte Butler reagierte nicht darauf, sondern wandte sich nur wortlos von ihr ab und verschwand geräuschlos in einem der hinteren Räume am Ende des getäfelten Korridors.
„Scheinbar verbreitet meine Ankunft hier Angst und Schrecken“, sagte die junge Frau spöttisch, als sie dem Mann, der Symbius Freud hieß, in ein herrliches Schlafzimmer folgte, das einen ausgesprochenen weiblichen Charakter hatte. Er stellt den Koffer ab und wandte sich Mercedes zu.
„Ist das ein Wunder? Die Leute denken hier alle, dass du bei dem schrecklichen Unfall dein Leben verloren hast, als du von der steilen Klippe ins tosende Meer gestürzt bist. Das war vor etwas mehr als drei Monaten. Macht es dir Spaß, den dir nahestehenden Menschen einen Schock zu versetzen, Mercedes?“
„Nein, bestimmt nicht. Aber mit dir ist es immer wieder das Gleiche. Kaum bin ich zu Hause, beginnst du schon wieder mit deinen hässlichen Anspielungen“, sagte die Rückkehrerin etwas ungehalten. „Aber lass’ uns später beim Abendessen über alles weiter reden. Ich möchte mich erst einmal von der lange Reise etwas ausruhen.“
Die junge Frau streifte ihren weiten Umhang ab und warf ihn über einen antik aussehenden, knallrot gepolsterten Sessel.
„Wie du willst“, antwortete ihr Symbius Freud, der ihr Vater war. Dann wandte er sich zur Tür. Bevor er das Zimmer ganz verließ, drehte er sich noch einmal um.
„Ich möchte dennoch ganz gerne wissen, was passiert ist, Mercedes. Du wirst mir noch eine Menge erklären müssen“, sagte der hagere Mann mit den schwarzen Haaren, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und verschwand.
Die schöne Blondine zog ihre Schuhe aus, ging auf Strümpfen leise zur Schlafzimmertür und sperrte sie sorgfältig von innen ab. Dann suchte sie das Bad auf, legte ihre Kleider ab, wusch sich und streifte sich danach einen rosafarbenen Seidenpyjama über. Im Spiegelschrank über dem Waschbecken betrachtete sie zufrieden ihre langen, goldblonden Locken, die ihr ebenmäßig oval geformtes Gesicht und ihre ausdrucksvollen blauen Augen schmeichelnd umfassten.
Mercedes wusste ganz genau, dass sie eine attraktive Frau war an der kein Mann so ohne weiteres vorübergehen konnte, ohne ihr heiße, schwärmerische Blicke zuzuwerfen. Die Männer waren eben verrückt nach ihr.
Der Tod ihres viel zu früh verstorbenen Ehemannes, Brain Lücère, der vor mehr als einem Jahr unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen war, hatte sie zwar arg mitgenommen, aber ihrer Schönheit dennoch keinen Abbruch getan. Das Leben musste eben weitergehen. Außerdem war sie jetzt eine reiche Frau, die sich nur noch hobbymäßig mit der Science Fiction-Schriftstellerei beschäftigte. Brain’s Lebensversicherung hatte sehr gut bezahlt.
Sie griff jetzt nach einer Flasche Parfüm, tupfte sich davon spielerisch etwas hinter die Ohrläppchen und ging zurück ins Schlafzimmer, wo ein romantisch aussehendes Himmelbett stand, das zum meditativen Entspannen geradezu einlud. Mercedes kroch unter die flauschige Bettdecke, legte ihren Kopf auf das weiche Kissen und schloss die Augen. Bald war sie eingeschlafen und träumte im Traum einen seltsamen Traum, der immer gleich ablief.
Das tropfenförmige Sternenschiff ONEIROS beschrieb zuerst einen weiten Bogen und steuerte dann geradewegs auf den kleinen Raumhafen FELT SENSE zu.
***
Jemand klopfte draußen an die Tür. Erst zaghaft und leise, dann etwas lauter und bestimmter.
„Das Abendessen ist fertig“, rief der Diener ihres Vaters mit lauter Stimme und wartete geduldig auf eine Bestätigung, ob seine Worte drinnen auch gehört worden sind.
Mercedes wurde schlagartig aus ihrem eigenartigen Traum gerissen, ihr Schlaf hatte nicht lange gedauert.
Trotzdem war sie gut ausgeruht und stand einige Zeit später frisch angekleidet vor dem Schlafzimmerspiegel. Sie rückte sich gerade das knielange Kleid ihres körperbetonten Kostüms zurecht.
„Ich komme gleich!“ rief die junge Frau kurz angebunden mit lauter Stimme in die Stille des Hauses, ging hinüber zur Tür, sperrte sie auf und verließ den Schlafraum. Vorsichtig nach allen Seiten schauend trat sie hinaus auf den großen Korridor. Der alte Diener war schon weg. Anscheinend vermied er absichtlich jedes direkte Zusammentreffen mir ihr. Sie konnte noch seine Tritte unten auf der knarrenden Treppe hören und wie er mit schlurfenden Schritten schnell in irgendeinem der Zimmer des Parterreganges verschwand.
Im zweckmäßig eingerichteten Esszimmer saß ihr Vater bereits am gedeckten Tisch. Als Mercedes eintrat erhob er sich von seinem Stuhl und setzte sich erst wieder, als sie Platz genommen hatte.
Der hagere Mann schaute sie aus seinen giftgrünen Augen verstohlen an, doch sobald sie ihren Kopf hob und ihn direkt ansah, wich er ihren Blicken aus. Eine unsichtbare Spannung lang zwischen ihnen, die durch das Schweigen nur noch verstärkt wurde. Es war fast wie die Ruhe vor dem Sturm.
Ihr Vater durchbrach die Stille und bot Mercedes ein Glas Rotwein an. Sie nickte mit dem Kopf, sprach aber im Moment noch kein Wort.
Als er ihr das gefüllte Glas zurückgereicht hatte, griff er nach seinem und fragte mit einem seltsam bitteren Unterton in der Stimme: „Worauf sollen wir beide trinken? Auf deine unverhoffte Rückkehr?“
„Niemand hier scheint sich über meine Rückkehr nach NORAPA zu freuen. Auch du nicht, Vater“, stellte Mercedes mit Bitterkeit fest.
Symbius Freud trank ohne Hast einen Schluck Wein und stellte das Glas auf den Tisch zurück. Seine Lippen wurden auf einmal seltsam schmal.
„Wundert dich das, meine Tochter? Nachdem wir dich alle für tot hielten und auch ich gerade ein wenig Abstand von all den schrecklichen Ereignissen gewonnen hatte, tauchst du hier plötzlich wie aus dem Nichts auf, als sei nichts geschehen. Dabei war ich auf dem besten Wege, meinen inneren Frieden wiederzufinden.“
Der Mann beugte sich ein wenig nach vorne über den gedeckten Tisch und sah die junge Frau mit stechendem Blick an.
„Nein, ich sage es dir ganz ehrlich ins Gesicht, dass ich mich über deine Rückkehr nicht freue. Wie könnte ich auch, nach allem, was geschehen ist?“
„Trotzdem bin ich deine Tochter“, antwortete Mercedes trotzig. „Wohin soll ich denn gehen, wenn nicht zu dir?“
„Du hättest wenigsten etwas von dir hören lassen können. Über drei Monate gab es kein Lebenszeichen von dir. Die Leute haben überall nach dir gesucht und jetzt bist du plötzlich wieder da. Kein Mensch versteht dein Verhalten und was du getan hast“, sagte ihr Vater. Dann fragte er eindringlich: „Sag’ mir endlich, was wirklich geschehen ist. Wie ist es überhaupt zu dem Unfall gekommen?“
„Mir fehlen die Erinnerungen. Eigentlich weiß ich überhaupt nichts.“
Mercedes zuckte unwillkürlich mit den Schultern. Mit angespannter Stimme sprach sie weiter.
„Ich weiß nur noch, dass ich oben auf dem Felsen hoch über dem Meer stand und plötzlich die Klippen hinabstürzte. Vielleicht bin ich aus Versehen ausgerutscht. Kann aber auch sein, dass jemand nachgeholfen hat“, sagte die junge blonde Frau und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.
„Warst du nicht auch in der Nähe, als es passierte?“ fragte sie unverhofft.
Der Mann zuckte unwillkürlich zusammen.
„Willst du damit andeuten, ich hätte dich oder jemand anderen die Klippen hinabgestoßen? Ich, dein Vater?“ brauste Mr. Freud auf. Sein Gesicht lief rot an, seine Wangenmuskeln zuckten unkontrolliert auf und ab.
„Hältst du mich wirklich für fähig, einen Mord zu begehen oder jemanden in den Selbstmord zu treiben?“
„Niemand kann in einen anderen Menschen hineinsehen, was er so denkt oder fühlt“, antwortete die junge Frau regungslos.
„Mercedes..., ich bitte dich. Denk so was nicht von mir! Ich habe niemanden umgebracht“, erwiderte ihr Vater betont kalt. „Aber ich gebe zu, es könnte der Eindruck entstehen. Es fielen eine Menge böser Worte zwischen uns beiden und deinem Mann Brain, die man lieber nicht hätte aussprechen sollen. Wir haben uns ja mehr als einmal fürchterlich gestritten. Ich möchte die Sache aber lieber auf sich beruhen lassen. Du weißt, was passiert ist. Die Leute meiden mich seit der Zeit und wollen nichts mehr mit uns zu tun haben. Das ist mehr oder weniger dein Verdienst, meine liebe Tochter. Trotzdem, an Vergeltung und Rache habe ich nicht eine Sekunde lang auch nur einen Gedanken verschwendet.“
„Das soll ich dir glauben, Vater? Jeder Mensch ist zu Taten fähig, die man ihm vorher nicht zugetraut hätte.“
Symbius Freud stand plötzlich verärgert auf, ließ das Essen stehen, nahm sein Weinglas in die rechte Hand und ging demonstrativ hinüber in den Wohnraum. Mercedes folgte ihm.
Ihr Vater stand jetzt vor dem Fenster und schaute mit glasigen Augen hinunter in den gepflegten Garten, wo sich noch vor wenigen Jahren seine über alles geliebte Frau Elvira stets zu sonnen pflegte, wenn das Wetter schön war. Doch dann starb sie ganz überraschend an einem Gaumen- und Kieferkarzinom. Sie war eine große Psychoanalytikerin gewesen. Die Ärzte konnte sie leider nicht mehr retten. Es war zu spät.
Ohne sich vom Fenster abzuwenden sprach er mit leiser Stimme weiter.
„Ich verstehe nicht, wie du mich einer solchen Handlung für fähig hältst. Ich erkenne daran, wie weit wir uns schon auseinandergelebt haben. Es tut mir alles so furchtbar leid, Mercedes. Aber ich frage mich, warum du dich solange verborgen hast. Wolltest du uns absichtlich in dem Glauben lassen, du seist bei dem Sturz von der Klippe getötet worden? Gibt es dafür einen Grund, meine Tochter? Ich habe manchmal den schlimmen Eindruck, dass du etwas vor mir zu verbergen hast. Aber vielleicht weißt du nur nicht, wie du es mir sagen sollst.“
Mercedes blickte unruhig zu ihrem Vater hinüber, der sich die ganze Zeit nicht vom Fleck gerührt hatte und ihr immer noch den Rücken zuwandte. Er drehte sich auch nicht um, als sie ihm antwortete.
„Wie ich dir schon sagte, kann ich mich eigentlich an nichts mehr so richtig erinnern. Offenbar verlor ich das Bewusstsein, als ich in die Tiefe stürzte. Erst in einem Krankenhaus kam ich wieder zu mir, das sich aber sonderbarerweise nicht auf NORAPA befand, sondern auf der ERDE - und die liegt bekanntlich einige Lichtjahre von unserem Planeten entfernt. Bis heute ist es mir ein Rätsel geblieben, wie ich ohne Raumschiff dorthin gekommen bin. Ich finde einfach keine plausible Erklärung dafür.“
Mercedes trank einen Schluck Wein und schaute danach bis auf den Grund des Glases, wie eine Wahrsagerin, die glaubte aus dem Kaffeesatz sowohl Vergangenheit und Zukunft herauslesen zu können.
Ihr Vater hatte sich mittlerweile zu ihr herumgedreht. Er bebte am ganzen Körper und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen ungläubig an.
„Was erzählst du da für einen Unsinn? Hast du den Verstand verloren? Kein Mensch aus Fleisch und Blut überbrückt ohne ein hypersprungfähiges Raumschiff derartige Entfernungen. So etwa gibt es nicht. Wahrscheinlich warst du nach dem bösen Sturz von der Felsenklippe nur irgendwelchen schrecklichen Halluzinationen ausgesetzt. Anders kann ich mir das nicht erklären, Mercedes.“
Seine Tochter ließ sich nicht beirren und sprach weiter, ohne auf die geschilderten Zweifel ihres Vater einzugehen.
„Wie gesagt, erst in einem Krankenhaus kam ich wieder zu mir, das sich irgendwo in der City von NEW YORK befand. Dort erzählte man mir später, dass mich ein Schiff der Küstenwache mehr tot als lebendig aus dem Wasser gefischt hätte. Dann brachte man mich umgehend ins Hospital. Nach meiner Genesung interessierte sich plötzlich die Polizei für mich. Die Beamten dort glaubten, ich sei eine illegale Einwanderin oder so etwas ähnliches, weil es nirgends von mir auch nur irgendeine Reiseregistrierung gab. Ein anders Mal wurde ich des Mordes verdächtigt. Dabei habe ich in meinem Leben noch keinem Menschen auch nur ein Haar gekrümmt. Sie verhörten mich deshalb, fanden aber sehr schnell meine Unschuld und meine wahre Identität heraus, was ja auch aufgrund meines ID-Chips unter der Haut meiner rechten Hand keine große Schwierigkeit war. Von da an ging alles sehr schnell. Die Behörden stellten fest, dass ich vom Planeten NORAPA gekommen sein musste. Deshalb gingen sie logischerweise auch davon aus, ich sei eine ganz gewöhnliche Touristin, der scheinbar ein schlimmer Badeunfall zugestoßen war, weil man mich in der Nähe der Küste aus dem Wasser gefischt hatte. Alles andere war nur noch reine Formsache. Man gab mir neue Ausreisepapiere, was für mich bedeutete, dass ich jederzeit wieder mit dem nächsten Sternenschiff zurück nach Hause hätte fliegen können.“
Mercedes seufzte ein wenig und trank wieder von dem Wein, bevor sie weiter redete.
„Wie auch immer. Ich habe wahrscheinlich dann jede Erinnerung an die Vergangenheit gewaltsam verdrängt und was wirklich geschehen war. Verstehst du das nicht?“
„Ich verstehe das gut, Mercedes“, antwortete ihr Vater mit leiser Stimme und schritt bedächtig auf seine Tochter zu, die mit seltsam blass gewordenem Gesicht im Wohnzimmer stand. Offenbar ging es ihr nicht gut. Er nahm sie deshalb väterlich in die Arme.
„Auch ich hatte allerhand zu vergessen. Bis heute ist mir das nicht gelungen. Zu viele Dinge sind aus dem Ruder gelaufen und alles erscheint um mich herum immer mysteriöser zu werden, Mercedes. Manchmal kann ich nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden und der Tod ist mir oft näher als das Leben.“
„Mir geht es nicht anders, Vater. Aber zuletzt habe ich eingesehen, dass es falsch ist, die Erinnerung an die Vergangenheit verdrängen zu wollen. Wenn man mit alledem, was einem an Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit widerfahren ist, fertig werden will, muss man sich damit auseinandersetzen. Es war für mich ein langer, schmerzhafter Prozess. Ich habe viel Zeit dafür gebraucht, bis ich eingesehen habe, dass man Probleme nicht löst, indem man sie einfach für erledigt erklärt oder vor ihnen davonläuft. Man muss handeln, wenn die Zeit dafür reif ist.“
Symbius Freud ließ seine Tochter ergriffen los, drehte sich wieder herum und stellte sich abermals vors Fenster. Sein tränenerstickter Blick schien sich an einem imaginären Punkt am fernen Horizont festgemacht zu haben.
„Ich würde gerne das Gespräch mit dir beenden, Mercedes. Ich fühle mich im Augenblick nicht so gut und werde mich hinlegen. Morgen können wir dann über alles weiter reden. Bitte entschuldige mich!“
„Wie du wünscht, Vater. Auch ich werde mich auf mein Zimmer zurückziehen. Wir sehen uns dann morgen zum Frühstück, wenn es dir recht ist.“
„Natürlich, meine Tochter. Ich werde Hypnos sagen, dass er die notwendigen Vorbereitungen dazu treffen soll. Er weiß, dass du besonders gerne nach dem Aufstehen einen ganz bestimmten Kräutertee trinkst. Ich lasse dir morgen früh eine Tasse davon direkt ans Bett bringen. Ich wünsche dir noch eine gute Nacht!“
Mercedes wünschte ihrem Vater gleiches, verließ den großen Wohnraum und ging hinauf in ihr Schlafzimmer. Draußen war es mittlerweile stockdunkel geworden. Irgendwann legte sie sich schließlich ins Bett, dachte noch eine zeitlang über das Gespräch mit ihrem Vater nach und schlief bald tief und fest ein.
***
Wie durch einen Nebenschleier sah Mercedes die Gestalt des alten Dieners durchs Schlafzimmer huschen. Er schien wie ein schemenhaftes Gespenst durch den Raum zu schweben. Dann war da auf einmal dieser betörende aromatische Duft von einem heißen Kräutertee, den sie so gerne mochte und über alles liebte.
Hypnos stand jetzt unmittelbar vor ihrem Bett und wollte gerade das silberne Tablett vorsichtig auf die kleine Bettkommode stellen. Noch immer schien er seine Angst vor der jungen Frau nicht ganz verloren zu haben. Seine Hände zitterten. Der Löffel auf der weißen Untertasse fing dabei so laut an zu scheppern, dass Mercedes wegen des klirrenden Geräusches abrupt die Augen aufschlug. Der alte Diener erschrak darüber ein wenig und wich einen Schritt zurück, als die junge Frau plötzlich wach im Bett lag.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung! Ich wollte dich nicht aufwecken, Mercedes. Aber seit du wieder hier bist, gehen bei mir die Sicherungen durch. Ich kann es einfach nicht glauben, dass du wieder zurückgekommen bist.“
Der alte Mann bekam plötzlich einen leichten Schwächeanfall. Mercedes bot ihm an, er solle sich doch auf den Rand ihres Bettes setzen, um ein wenig auszuruhen.
„Warum hast du Angst vor mir Hypnos? Du kennst mich doch schon seit meiner Kindheit und weißt genau, wer ich bin. Ich verstehe dein seltsames Verhalten nicht. Erkläre mir jetzt endlich, was hier eigentlich los ist. Ich bitte dich darum.“
Nachdem der Alte auf der hölzernen Bettkante Platz genommen hatte, schaute er hinüber zu der jungen Frau, die mittlerweile aufrecht im Bett saß.
„Ach Mercedes, ich weiß eigentlich nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Manchmal glaube ich mich wie in einem Traum oder in einer anderen Welt zuhause. Die Dinge werden für mich immer unerklärlicher. Als ich vorhin zu dir ins Schlafzimmer kam, da sah ich zufällig in dein Gesicht, das so blass aussah, wie das einer Toten. Es veränderte sich plötzlich in die Physiognomie deines verstorbenen Mannes Brain“, sagte Hypnos mit schaudernder Stimme.
„Das ist ja schrecklich! Aber ich bin nicht tot. Wie du siehst, bin ich sehr lebendig. Und Brain ist durch einen schrecklichen Unfall umgekommen. Er stürzte von einer Klippe ins Meer und ertrank“, sagte Mercedes mit einer gewissen Eindringlichkeit, als wollte sie den alten Mann beruhigen.
„Weißt du, es gibt Menschen, die eines gewaltsamen Todes sterben und manchmal aus dem Totenreich zurückkehren“, raunte der Diener mit bebender Stimme. „Sie kehren zurück, um Rache zu nehmen.“
„Mercedes griff nach der Tasse und trank einen tiefen Schluck Tee.
„Kannst du mir wenigstens irgend etwas darüber erzählen, was mit mir passiert ist, Hypnos? Wenn du was darüber wissen solltest, dann sage es mir jetzt gleich auf Stelle!“
„Was soll ich darüber schon wissen?“ Der alte Butler hob beide Hände und spreizte sie in einer abwehrenden Geste bevor er weiter redete.
„An dem betreffenden Tag gab es wieder Mal einen fürchterlichen Streit zwischen dir und deinem Vater. Ich hörte, wie ein paar Mal der Name deines verstorbenen Mannes Brain fiel. Warum, das kann ich dir nicht sagen. Du hast dann wütend das Haus verlassen. Dein Vater ist dir gefolgt. Er machte sich große Sorgen um dich. Vielleicht wollte er dich auch nur vor dem heraufziehenden Gewitter warnen und dich zurückholen. Als die ersten Blitze einschlugen und das grässliche Donnern kein Ende nehmen wollte, hörte er dich plötzlich schreien. Als er endlich die Stelle auf dem Felsen erreichte, wo du hinabgestürzt bist, fand er nur noch dein weißes Schultertuch.“
„Hat er denn keine Hilfe geholt?“
„Ich glaube, er hat alles versucht.., bestimmt!“ beteuerte der alte Mann und zupfte nervös an seinen grauen Haaren. „Doch das schlimme Gewitter verursachte einen Stromausfall. Alle Leitungen waren tot. Nichts ging mehr. Dein Vater ist schließlich mit dem Turbinengleiter runter in die Stadt, um Hilfe zu holen. Das alte Ding stand schon seit Monaten in der Garage. Aber es funktionierte zum Glück noch. Trotzdem war kostbare Zeit verloren gegangen.“
„Kannst du dich sonst noch an etwas erinnern?“ fragte Mercedes und fuhr sich mit der Zungenspitze über die blassen Lippen.
„Ja. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Tag sehr heiß gewesen war und das sich ein unheimlich aussehender Mann schon eine ganze Weile in unmittelbarer Nähe unserer Villa herumtrieb. Er schien dich zu beobachteten. Dann war er plötzlich wieder verschwunden. – Wolltest du dich damals umbringen?“ fragte der Alte neugierig.
„Eigentlich nein. Ich begreife bis heute nicht, wie ich abstürzen konnte“, meinte Mercedes. Kann aber auch sein, dass ich mir alles nur eingebildet habe und wegen Brains schrecklichem Tod einfach abgehauen bin."
Mercedes machte eine kurze Pause und schien an irgendwas zu denken. Schließlich sprach sie weiter.
„Ist denn nach meinem Sturz von der Felsenklippe keine Untersuchung eingeleitet worden? Es könnte doch auch sein, dass ich gar nicht von selbst von da oben abgestürzt bin, sondern dass mir jemand von Hinten heimlich einen Stoß versetzt hat. Wäre immerhin möglich gewesen – oder?“ fragte sie.
„Ja und nein“, antwortete Hypnos. „Es gab viel Gerede um den Unfall. Einige seltsame Gerüchte machten die Runde. Auch deshalb, weil du plötzlich wie vom Erdboden verschwunden warst und andererseits die Polizei in deinem Fall gleich von einem Selbstmord ausging. Die Ermittlungen verliefen ziemlich träge und wurden bald eingestellt.“
Die junge Frau trank den letzten Rest Tee und stellte die Tasse zurück auf die Bettkommode. Sie bemerkte, dass Hypnos sie schon wieder anstarrte. In seinem Blick lagen Furcht und Bewunderung zugleich.
„Es ist ein Wunder, dass du noch lebst, Mercedes. Sei in Zukunft vorsichtig und achte auf dein wertvolles Leben. Es ist ein echtes Wunder...“, wiederholte der alte Diener und verließ das Zimmer.
***
„Du bist schon auf?“ fragte ihr Vater überrascht, als Mercedes ins Esszimmer trat. „Es ist doch erst zehn Uhr morgens. Früher hast du bist Mittags durchgeschlafen und nie gefrühstückt.“
„Ich konnte einfach nicht mehr schlafen. Der Kräutertee hat wohl meine Sinne geweckt“, antwortete seine Tochter und nahm gegenüber am Tisch Platz. Sie frühstückten schweigend. Zwischendurch sah sie auf die schlanken Hände ihres Vaters. Sie fragte sich, ob diese Hände fähig waren, jemanden in den Abgrund zu stoßen. Konnte ihr eigener Vater so etwas tun?
„Ich fahre heute in die Stadt!“ Symbius Freud fuhr sich mit der Serviette über den Mund. „Soll ich dir irgendwas mitbringen? Oder willst du mitkommen?“ fragte er Mercedes.
„Ich möchte lieber hier bleiben, Vater. Aber vielleicht könntest du mir Tabletten mitbringen. Ich leide seit einiger Zeit immer stärker unter Kopfschmerzen. Wahrscheinlich eine Folge des Sturzes und des seelischen Stresses.“
„Ich bringe dir welche mit. So gegen Mittag bin ich dann wieder zurück.“
Ihr Vater warf die Serviette auf den Tisch und erhob sich.
Durch das Esszimmerfenster sah Mercedes, wie er mit alten Turbinengleiter davon schwebte und bald hinter der nächsten Kurve verschwunden war. In der Küche hörte sie Hypnos wirtschaften.
Sie ging in ihr Zimmer und zog sich den warmen Hosenanzug an. Darüber hängte sie ihren weiten Umhang. Alles war zusammen warm genug, um sie auch vor dem eisigsten Wind zu schützen. Dann verließ sie leise die Villa.
Mercedes ging den Weg hinauf zu der Felsenklippe. Seitlich des holprigen Pfades erstreckte sich eine Allee aus zypressenähnlichen Bäumen, die wie riesige mahnende Finger im Wind hin und her wogten. Düstere Wolken zogen am regenverhangenen Himmel dahin.
Ein Schwarm schwarzer Vögel flog wie eine dunkle Wolke über ihr hinweg. Es wurde kälter. Fröstelnd zog die junge Frau den Umhang enger um sich. Irgendwie wirkte die ansonsten malerische Landschaft bedrohlich auf sie. Der Weg wies tiefe Löcher auf.
Die moosbewachsenen Steine recht und links der Pfades hockten wie finstere Gestalten zwischen dem hohen, dichten Gras, das sich im Wind hin und her bewegte, wie die Wellen eines grünen Meeres.
Plötzlich hatte Mercedes das komische Gefühl, beobachtet zu werden. Sie warf deshalb einen kurzen, prüfenden Blick zurück, konnte aber niemanden entdecken. Wer sollte ihr auch folgen? Ihr Vater? Vielleicht ist er gar nicht in die Stadt gefahren, sondern hatte den Wagen irgendwo weiter unten abgestellt? Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, zurückzukommen, um sie heimlich zu beobachten.
Je näher Mercedes den Klippen kam, desto heftiger blies der Wind. Schon konnte sie das Donnern der Meeresbrandung hören.
Als sie abermals einen Blick hinter sich warf, glaubte sie plötzlich, zwischen den Felsen hinter ihr eine Gestalt gesehen zu haben. Da war jemand! Sie hatte sich also nicht getäuscht. Jemand beobachtete sie und war ihr die ganze Zeit gefolgt.
Von panischer Angst getrieben, begann die junge Frau zu laufen. Durch das Donnern der immer näher kommenden Brandung glaubte sie Schritte zu hören, Schritte, die unaufhaltsam näher kamen. Keuchend bemühte sie sich, noch schneller vorwärts zu kommen. Aber der Weg war zu steil und ihre Kräfte ermatteten zusehends. Es war wie in einem Alptraum, wenn man fliehen wollte und kaum vorwärts kam. Doch sie schaffte es irgendwie, bis nach ganz oben auf den überhängenden Felsen zu kommen. In ihrer Hast übersah Mercedes einen Stein. Sie stolperte, stürzte mit einem lauten Aufschrei zu Boden und rollte direkt auf den gefährlichen Abhang der Klippe zu.
Entsetzen lähmte sie, als eine starke Hand ihren Rücken berührte und sie festhielt.
„Du läufst doch nicht etwa vor mir davon?“ ertönte eine tiefe Männerstimme über ihr, die ihr irgendwie bekannt vor kam. Eine weitere Hand streckte sich ihr helfend entgegen und zog sie vorsichtig hoch.
Noch ganz verschwommen war ihr Blick, als Mercedes vor sich einen Mann mit kräftiger Statur sah. Er hatte stark ausgeprägte Gesichtszüge und lockiges braunes Haar, das vom Wind zerzaust war. Seine Augen funkelten schwarz, die sie fokussierend anstarrten. Als sie genauer in sein Gesicht schaute, bekam sie einen fürchterlichen Schreck, der ihr fast das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die junge Frau setzte sich mit weich gewordenen Knien auf einen glatt geschliffenen Felsblock. Sie zitterte auf einmal in panischer Angst am ganzen Körper. Unter ihr toste die Brandung, wo sich die Wellen schäumend am steinigen Ufer brachen. Sie wollte nicht wahrhaben, wen sie da vor sich hatte. Es war Brain, ihr verstorbener Ehemann.
„Du warst schon einmal hier, als es passierte. Du kannst dich bestimmt noch daran erinnern, nicht wahr Mercedes? Wir beide standen hier oben auf diesem Felsen und schauten verträumt über das weite, offene Meer. Plötzlich bekam ich von dir einen heftigen Stoß, dann stürzte ich kopfüber von den hohen Klippen hinunter in die tosende Brandung. Meine Leiche wurde nie gefunden. Sie trieb hinaus ins offene Meer, wo mich die Fische fraßen.“
In einer Mischung aus abgrundtiefer Furcht und ergebungsvoller Faszination sah Mercedes, wie ihr verstorbener Mann Brain auf sie zu kam. Er wirkte jetzt noch um einiges größer und beängstigender, als er direkt vor ihr stand. Aus seinen Augen glomm ein düsteres Feuer, als sei er der Hölle entstiegen.
Brain neigte sich vor und blickte sie sekundenlang schweigend an. Er schien sie mit dem stechenden Blick seiner glühenden Augen durchbohren zu wollen. Dann durchdrang er ihren Körper wie ein nebelgrauer Geist.
Das Herz der jungen Frau schlug ihr vor lauter Furcht bis zum Hals. Sie schrie plötzlich wie von Sinnen und hielt sich beide Hände vors Gesicht. Die Umgebung um sie herum löste sich langsam auf, als wäre es das Ende eines bösen Horrorfilms.
„Wir werden uns wiedersehen, Mercedes! Ich komme solange wieder, bis ich dich endlich geholt habe“ hörte sie noch ihren verstorbenen Ehemann Brain echoartig aus der Tiefe rufen, dann versank ihr Bewusstsein in eine abgrundtiefe Dunkelheit.
***
Mercedes erwachte schweißgebadet.
Der Traum war so lebhaft und real gewesen, dass sie sich wunderte, friedlich in ihrem Himmelbett zu liegen. Aber ihre Nerven vibrierten, weil sie glaubte, ihr toter Ehemann Brain stünde im Schlafzimmer, den sie vor mehr als einem Jahr von den Klippen ins Meer gestoßen hatte. Alle glaubten damals, es sei ein Unfall gewesen, auch die Polizei. Aber Mercedes wusste es besser. Dass sie durch ihre schreckliche Tat zu einer eiskalten Mörderin geworden war, störte sie dabei nicht. Das viele Geld aus der Lebensversicherung war ihr wichtiger gewesen. Endlich konnte sie so leben, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Und was die Schriftstellerei anbetraf, war diese sowieso kein einträgliches Geschäft gewesen. Hinzu kam noch, dass Brain ein elendiger Berufsversager auf der ganzen Linie war. Mit seinen zwei linken Händen brachte er nur wenig Geld nach Hause, das oft nicht zum Leben reichte. Jetzt, wo sie finanziell ausgesorgt hatte, konnte sie sich endlich den Mann angeln, der zu ihr passte.
Die schöne junge Frau verließ das Bett gut gelaunt und zog schnell die Vorhänge des exquisiten Hotelzimmers auf. „Du brauchst ein wenig frische Luft“, sagte sie halblaut zu sich selbst und trat noch näher ans geöffnete Fenster. Tief sog sie die Atemluft in ihre Lungen.
Ein neuer Morgen dämmerte heran. Langsam wurde es draußen heller. Unten im Hafen von New York heulten die Schiffssirenen.
Mercedes fragte sich, ob es nicht besser für sie sein würde, der Mega-Metropole New York für immer den Rücken zu kehren und sich irgendwo weit draußen auf dem Land ein schönes Häuschen zu kaufen. Geld genug besaß sie ja jetzt. Vielleicht würde ihr die Schriftstellerei in der Ruhe und der Abgeschiedenheit leichter fallen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr konnte sie sich mit dem Gedanken anfreunden, New York endgültig zu verlassen. Außerdem lag diese Stadt am Meer. Das erinnerte sie immer wieder an ihren toten Brain, der sie mittlerweile schon bis in ihre Träume verfolgte.
Damit würde sie jetzt ein für allemal Schluss machen, denn Brain sollte keine Macht über sie bekommen. Außerdem haben Tote in der Welt der Lebenden nichts zu suchen und schon gar nichts in den Träumen einer schönen Schriftstellerin.
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
Es war vor langer Zeit in einer fernen Zukunft...
Der letzte Einwohner von New York war eines schönen Tages plötzlich verschwunden und ward seit dem nie wieder gesehen. In der einstigen Weltstadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten lebten, seit der gewaltigen Flutwelle vor mehr als einhundert Jahren, die alles, aber auch wirklich alles dem Erdboden gleich gemacht und mehr als acht Millionen Einwohner getötet hatte, nur noch wenige Hundert Menschen. Nein, dass sie lebten, das konnte man nicht behaupten, vielmehr vegetierten sie vor sich hin.
Deshalb verließen sie auch nach und nach den schrecklichen Ort der totalen Verwüstung und Zerstörung, der jetzt langsam wieder von der Natur zurück erobert und von Pflanzen aller Art überwuchert wurde.
Auf dem aufgerissenen Dach eines umgestürzten Hochhauses in der Wall Street hockte seit undenklichen Zeiten schon ein engelgleiches Wesen aus Marmorstein mit großen weiten Flügeln, das plötzlich, nachdem der letzte Mensch die Ruinen von New York verlassen hatte, auf geheimnisvolle Weise lebendig geworden war. Es hatte keine Lust mehr, über die zerstörte Stadt zu wachen, die wohl nie wieder menschliches Leben beherbergen würde, so glaubte es jedenfalls.
Der steinerne Engel reckte und streckte sich so lange, bis sein marmorner Körper bald winzige Risse bekam, die ihn von oben bis unten zierten.
Als er sich gelenkig genug fühlte, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und spähte nach Westen, um nach etwas Lebendigem Ausschau zu halten.
Sein Blick ging dabei über den weiten Ozean bis zum fernen Horizont, der von dunklen Wolken tief und düster durchzogen wurde. Aber dort regte sich nichts. Keine Schiffe durchpflügten das trübe gewordene Wasser des Meeres, das still und ruhig wie ein Leichentuch da lag. Die Freiheitsstatue gab es auch nicht mehr, die von ihrem Sockel gespült und jetzt irgendwo da draußen in viele einzelne Teile zerbrochen auf dem sandigen Grund des Meerbodens lag.
Dann schaute der steinerne Engel ins Landesinnere. Zwar erspähte er Vögel und zahlreiche andere Lebewesen, aber leider keine Menschen, die er hätte bewachen können.
Den ganzen Tag hielt er Ausschau, doch seine Hoffnung sank wie die uralte Sonne SOL, die bald untergehen würde. Zuletzt schaute er nach Osten, zu den hohen Berggipfeln empor, aber auch dort gab es nur Ruinen, ähnlich denen von New York.
Dann entdeckte er plötzlich mit seinen scharfen Augen eine schwarze Rauchfahne, die kerzengerade aus einem unscheinbaren Höhleneingang zum Himmel aufstieg. Der Engel aus Marmorstein freute sich wie ein kleines Kind.
„Ich habe Menschen gefunden“, rief er voller Erregung, hob erst den einen Fuß vom Dach, dann den anderen, zerriss dabei mit aller Kraft die armdicken Ranken, die sich wie grüne Schläuche um ihn herum gelegt hatten und stieg danach mit kräftigen Flügelschlägen senkrecht noch oben bis zu den Wolken hinauf. Von dort aus ließ er sich mit der Luftströmung in Richtung der schneebedeckten Berge treiben.
Je näher er ihnen kam, um so riesiger wurde der Höhleneingang. Er war bedeutend größer, als er anfangs vermutet hatte. Aus der Ferne betrachtet erschien er ihm klein und unscheinbar, doch jetzt schwebte er mit vor Anstrengung schmerzenden Flügelschlägen in der Nähe der gewaltigen Öffnung und starrte voller Respekt auf den Eingang, der sich wie ein gähnender Krater eines schlummernden Vulkans vor ihm auftat.
Der steinerne Engel entdeckte zu seiner Überraschung weder einen Bergpfad noch sonst eine Möglichkeit, wie die Menschen hier oben hinauf gelangt sein konnten, aber dennoch zog ihn die permanent aus dem Höhleneingang dringende Rauchwolke an.
Schließlich landete er innerhalb des riesigen Einganges, wo das Licht nur wenige Schritte weit in den furchterregenden Schatten der Höhle vordrang, deren Decke sich über ihn wie das Dach einer von Riesen bewohnten Kathedrale wölbte. Ein leichter Windstoß blies ihm beißenden Rauch in die Nase. Er hielt kurz die Luft an, nieste ein paar Mal hintereinander und schnüffelte misstrauisch. Er fragte sich, warum sollte irgend jemand Schwefel verbrennen? Hatte sich wohlmöglich ein Einsiedler hier oben in den einsam gelegenen Bergen niedergelassen?
Der steinerne Engel stöberte in seinem uralten Gedächtnis herum. Irgendwann einmal hatte er von Bergen namens „Vulkane“ gehört, die Feuer und Rauch ausspieen.
„Könnte es sich hier um einen von diesen Feuerbergen handeln?“ dachte er laut so vor sich hin. „Aber das ist doch reiner Unsinn. Diese Berge sehen alle kalt und verlassen aus. Ihre Gipfel tragen Schnee und sehen nicht aus wie Vulkane“, sinnierte der Engel aus Stein weiter und kam nicht dahinter, womit er es zu tun hatte.
Trotzdem beschloss er nachzusehen, ob sich in der Höhle Menschen befanden, die sich hier offenbar heimisch fühlten und Feuer gemacht hatten, das wohl behagliche Wärme verbreitete. Den Menschen gefiel so was, das wusste der Marmorengel genau.
Vorsichtig kletterte er über herabgefallene Steine und herumliegendes Geröll. Weiter hinten in der Höhle stieß er auf große Stalagmiten. Wieder rätselte der Engel, wer die Öffnung, die so umständlich zu betreten war, wohl als Eingang benutzen mochte. Aber Menschen tun oft Dinge, die sie selbst nicht erklären konnten, dachte er so für sich und ging einfach weiter. Vor langer Zeit, als noch Millionen von Menschen in New York lebten, hatte er sogar Flugapparate gesehen, die über die gewaltigen Hochhäuser der Stadt und in sehr großer Höhe über seinen Kopf dahin schwebten. Vielleicht wohnten hier Menschen, die mit solchen Dingern durch den Eingang raus- und reinfliegen konnten, kam es ihm in den Sinn. Nun, er wollte sich überraschen lassen.
Nach einer Weile verbreiterte sich der Weg und ganz plötzlich stand er in einer großen Halle, die nur vom einfallenden, fahlen Licht des hinter ihm liegenden Höhleneinganges ausgeleuchtet wurde. Enttäuscht schaute er sich nach allen Seiten um. Wo waren all die Menschen, die hier lebten? Und noch wichtiger: Wo waren ihre Häuser, ihre Straßen, Märkte und weitläufig angelegte Parkanlagen? Könnte es vielleicht sein, wenn es nichts dergleichen gibt, dass an diesem einsamen Ort nur ein einzelner Bergsteiger haust, der hier auf dem nackten Fels vielleicht ein Feuer gemacht hatte?
Der steinerne Engel folgte trotz aller zweifelnden Fragen dem Geruch des Schwefels und schritt dabei immer tiefer in die Höhle hinein, bis er plötzlich am anderen Ende einen schwachen rötlichen Schein wahrnahm. Das dumpfe Geräusch seiner Schritte wurde von den feuchten Höhlenwänden zurückgeworfen. Trotzdem empfand der steinerne Engel plötzlich eine gewisse Verlassenheit, die ihm vorher nicht so bewusst geworden war. Das lag bestimmt auch daran, dass seine Erwartungen bisher nicht in Erfüllung gegangen waren, auf menschliche Wesen zu treffen.
Außerdem fragte er sich auch, warum bisher niemand auf seine Ankunft reagiert hatte, denn die Geräusche seiner Schritte hallten bis in die fernsten Winkel der Höhle. Könnte es sein, dass sich die Menschen vor ihm versteckt hielten, weil sie Angst vor seiner Größe und Kraft hatten?
Plötzlich bewegte sich die hintere Höhlenwand, als würde jemand eine gewaltige Kulisse verschieben. Es war keine Wand, sondern ein riesiges Monster wurde sichtbar, das permanent Schwefel absonderte. Auf dem Rücken waren eine Vielzahl von Zacken angeordnet, die nach hinten immer kleiner wurden und irgendwo in einem langen, mächtigen Schwanz endeten.
Der steinerne Engel wich ein paar Schritte zurück, als das schrecklich aussehende Monster auf ihn zu kam und ihn mit rauchig grollender Stimme fragte: „Was tust du hier in meiner Höhle? Niemand darf unerlaubt mein heiliges Zuhause betreten, das ich schon seit undenklichen Zeiten bewohne. Das ist meine Höhle! Hast du mich verstanden, du Zwerg! – Hau also ab!“
Abermals machte der steinerne Engel ein paar Schritte zurück und stolperte dabei über irgendwelche ekeligen Knochenhaufen, die es hier offenbar in großen Mengen gab. Es waren Menschenknochen aller Größen.
Der erschrockene Engel wäre fast in Panik geraten, als er das sah. Er liebte die Menschen über alles und jemand, der sie tötete und sogar fraß, verabscheute er nicht nur, sondern musste auch fast automatisch sein schlimmster Feind und Gegner sein. Doch er riss sich zusammen. Er wollte vorerst nicht unhöflich erscheinen.
„Oh“, sagte der Marmorengel, „ich möchte um Verzeihung bitten, liebes Monster. Aber ich suche bloß nach Menschen oder einer neuen Stadt, in der sie leben. Ich bin ihr Wächter.“
„Ich bin kein Monster. Ich bin ein Drache und lebe hier in den Bergen schon viele Tausend Jahre. Was gehen mich die Menschen an? Ich fresse sie nur, wenn sie sich in meine Höhle gewagt und meine Ruhe gestört haben. Ich habe meine Höhle nie verlassen und deshalb weiß ich auch nicht, was da draußen vor sich geht. Interessiert mich auch nicht, was die Menschen tun. Aber jetzt, wo ich weiß, dass sie nicht mehr da sind, bin ich eigentlich recht froh darüber. Schon viele Hunderte von ihnen musste ich fressen, denn wenn ich sie wieder freigelassen hätte, wären sie bestimmt zurückgekommen und hätten mich getötet. Wer sie kennt, der weiß, dass diese zweibeinige Kreatur alles, wovor sie Angst hat, früher oder später tötet. Sie haben alle meine Vorfahren nach und nach umgebracht. Vor Drachen fürchteten sich die Menschen nämlich schon seit Anbeginn ihrer Tage. Ich bin wahrscheinlich der letzte Drache auf der ganzen Welt. Wenn ich mal sterbe, wird sich die Zeit und damit auch die Welt da draußen verändern. So war es schon immer gewesen, wenn einer von uns getötet wurde.
Der große Kopf des Drachen senkte sich ein wenig, und ein misstrauischer Blick traf den steinernen Engel.
„Und du hast hier oben wirklich Menschen in meiner Höhle erwartet?“ fragte er mit zischend grummelnder Stimme.
„Ja, so ist es Drache. Ich sah eine dunkle Rauchwolke gen Himmel steigen und vermutete hier oben in den Bergen Menschen, die ich bewachen müsste.“
Die Augen des Drachen liefen blutrot an. Er lachte tief und seine Stimme verwandelte sich in ein tiefes, bösartiges Dröhnen.
„Drachen und von Menschen bewohnte Städte haben sich noch nie gut miteinander vertragen, mein Freundchen. Beide kämpfen sie ums Überleben und ich habe das saftige Fleisch der Menschen stets nur als willkommene Mahlzeit empfunden. – Dich werde ich ebenfalls fressen. Ist dir das überhaupt klar?“
Mit diesen Worten sprang der riesige Drache plötzlich blitzschnell vor und bedrohte den steinernen Engel, der auszuweichen versuchte. Das Ungeheuer blies ihm seinen heißen Atem ins Gesicht und griff mit seinen scharfen Klauen nach ihm.
Der Marmorengel roch den Schwefel, spürte die schreckliche Hitze und stand wie gelähmt da, weil er den Feuertod erwartete. Noch im vermeintlichen Tode dachte er an die Menschen, die er sein ganzes Leben lang hindurch bewacht hatte. Sie waren überaus zerbrechliche Wesen, empfindlich und leicht zu ängstigen, deshalb brauchten sie einen mutigen Wächter, der sie beschützte. Aber gegen eine sintflutartige Katastrophe, die von höheren Mächten ausgegangen war, konnte selbst er, der steinerne Engel, nichts ausrichten oder entgegenstellen. Er konnte nur das Leben der Menschen bewachen und sie vor den tagtäglichen Gefahren ihrer unruhigen Städte schützen. Das war seine Aufgabe gewesen. Und wo sich Menschen befanden, musste er auf sie aufpassen. Das war wie ein Gesetz.
Der Drache spuckte abermals Feuer. Doch der Marmorengel stellte zu seinem größten Erstaunen fest, dass er noch lebte. Als die Flammen sich endlich verzogen hatten, stand er immer noch aufrecht da und nur seine Haut leuchtete fast so dunkelrot wie die Augen des gefährlichen Drachens. Und da war noch etwas, was er tief in seinem Innern spürte. Ein Gefühl der Freundschaft, der Verwandtschaft, die ihn mit dem steinigen Felsen der Höhle hier drinnen und der Berge da draußen verband.
Der steinerne Engel lehnte sich mit seinem ganzen Körper rücklings gegen die Höhlenwand und blickte den Drachen dabei in die glutroten Augen.
„Mein lieber Drache, ich wollte Euch eigentlich nichts tun. Aber ihr seid zu weit gegangen. Zum letzten Mal: Lasst mich nur zu den Menschen gehen, und ich werde Euch nicht töten.“
„Was sagst du da, du elendiger Zwerg? Ich habe keine Furcht vor dir. So einen Winzling wie dich schlage ich in tausend kleine Stücke.“
Der Drache grinste breit und schlug dann unvermittelt mit dem gewaltigen Schwanzende nach dem Marmorengel. Die Felswand hinter ihm zerbarst mit lautem Krachen, ein Hagel von herausgerissenen Steinen prasselten auf ihn nieder. Sofort war der Drache wieder über ihm und hieb plötzlich mit seinen scharfen Krallen auf ihn ein.
Durch die Wucht des Schlages fiel der steinerne Engel der Länge nach auf den nackten Felsenboden und stürzte dabei auf seine breiten Flügel, die den Sturz etwas milderten. Wie lange konnte er den fürchterlichen Schlägen des Drachens noch Stand halten? Er wusste es selbst nicht.
Auf einmal empfand der steinerne Engel ein wohlbekanntes Gefühl von aufsteigender Kraft in ihm. Es war ein Gefühl, das er aus den Tagen kannte, die er in seiner geliebten Stadt New York verbracht hatte, als sie noch existierte und von Menschen bewohnt wurde.
Auf diese Kraft konzentrierte er sich jetzt. Zwischen den Schlägen des Drachens sog er die unendlichen Kräfte des Felsens und der umliegenden Berge in sich ein, die seine Brüder waren. Er wandte sich abermals dem Drachen zu und erwiderte seinen grimmigen Blick.
Der Drache wollte gerade wieder zuschlagen und hielt erstaunt mitten in der Bewegung inne.
„Du bist kein Mensch. Was bist du dann? Woraus bestehst du?“
„Ich bin der steinerne Engel. Der Wächter der Menschen. Ich bin von ihnen aus Stein gemeißelt worden und lebe ewig, wie der Fels und die Berge um mich herum. Ich werde dich töten und diese Höhle einreißen. Niemand, auch du nicht, kann mich verletzen oder mich zerstören. Du bist ein Menschenfresser! Allein das reicht schon aus, um dich mit dem Tode zu bestrafen.“
Wie von Sinnen stürzte sich jetzt der Drache voller Wut auf den steinernen Engel und wollte ihn niederdrücken. Doch der sprang plötzlich hoch und warf sich mit fürchterlicher Kraft gegen die Wände der Höhle. Rings um die beiden Kontrahenten regnete es Steine. Große Felsbrocken und Stalaktiten, die mehr als mannshoch waren, fielen hernieder. Immer wieder warf sich der steinerne Engel vor die hohen Felsenwände, die immer heftiger zu beben anfingen, sodass sich bald Boden und Decke trafen.
Schließlich barst die Höhle des Drachen mit lautem Getöse auseinander, als würde sie sich ein letztes Mal im Todeskampf aufbäumen. Dann fiel sie in sich zusammen. Mit einem fürchterlich gellenden Schrei wurde das Ungeheuer mit in die Tiefe gerissen und von dem nachstürzenden Gesteinsmassen begraben. Danach trat Stille ein und der steinerne Engel erhob sich aus der aufsteigenden Staubwolke mit weiten, kräftigen Flügelschlägen.
Als er auf den Rand der Felsenklippe stand schien ihm die Sonne voll ins Gesicht. Ganz langsam klappte er die Flügel zusammen und ließ seine Arme sinken. Keines seiner Glieder war gebrochen. Er war ein mächtiger Engel geworden, der den furchtbaren Angriffen des höllischen Drachens widerstanden hatte. Ja, er hatte die Kraft aus den Bergen gesogen und wurde jedes Mal stärker, wenn er das tat.
Als er sich umdrehte und in der Ferne die Megastadt New York mit seinen scharfen Augen erblickte, die er immer noch zerstört und verlassen wähnte, war diese plötzlich wie durch ein Wunder in alter Pracht und Herrlichkeit auferstanden, gerade so, als wäre es nie anders gewesen. Auch die Flutkatastrophe schien nie stattgefunden zu haben. War er durch die Vernichtung des Drachens auf eine andere Zeitebene geraten? Selbst der steinerne Engel wusste darauf keine Antwort. Wozu auch? Zählte für ihn nicht das, was wieder aus Ruinen erstanden und gegenwärtig war?
Eine innere Stimme sagte zu ihm, dass er der alte und neue Wächter sei und an seinen angestammten Platz in der Wall Street zurückkehren solle.
Der steinerne Engel folgte dieser geheimnisvollen Stimme, die aus den unbekannten Tiefen des ewigen Universums zu kommen schien. Es war seine heilige Pflicht, die Menschen und ihre großartige Stadt zu beschützen, und so lange er das tat, waren sie und New York vor allen Gefahren geschützt.
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
Draußen war es bereits dunkel geworden, als der alte Mr. Ron Slater den stehen gebliebenen Citybus an der einsamen Haltestelle am Stadtrand verließ, um den Rest seines Weges zu Fuß nach Hause zu gehen. Gerade in dem Augenblick, als sich die Ein- und Ausstiegstüren wieder zischend schlossen und das schwere Fahrzeug zur Weiterfahrt ansetzte, verspürte der Alte plötzlich einen heftigen Schmerz in seinem Kopf, der ihn wie von der Tarantel gestochen zusammenzucken ließ. Unsicher und benommen blieb Mr. Slater kurz stehen, sah sich um und suchte mit verschwommenem Blick nach der hölzernen Sitzbank, die gleich neben dem Bushalteschild stand, torkelte unbeholfen Schrittes auf sie zu und nahm mit einem Seufzer der Erleichterung darauf Platz.
Es dauerte eine Weile, bis der Schmerz langsam aber sicher etwas nachließ. Der alte Mr. Slater blickte verstört nach allen Seiten, kniff dabei die Augen ein wenig zu und versuchte sich mit aller Gewalt zusammenzureißen. Mit halb geöffneten Augen blickte er sich abermals um. Doch er konnte fast nichts erkennen, obwohl er im hellen Licht der Haltestellenbeleuchtung saß. Es war gerade so, als hätte sich um ihn herum eine milchigweiße Nebelwand aufgebaut. Einige Augenblicke lang saß der alte Mann noch so da, neigte schließlich seinen Kopf nach vorne, um sich etwas zu entspannen und dachte darüber nach, über sein Handy, das sich in seiner rechten Jackentasche befand, den Notarzt anzurufen. Aber er verwarf diesen Gedanken gleich wieder, weil sich sein Zustand überraschenderweise langsam besserte.
Wenig später fühlte sich Mr. Slater fast schon wieder richtig gut. Die Schmerzen waren weg und auch die Sehkraft seiner Augen kehrte zurück, sodass der Alte beschloss, sich endlich auf den Weg nach Hause zu machen. Vorsichtig erhob er sich von der Bank, atmete tief durch und setzte sich schließlich mit vorsichtigen Schritten in Bewegung.
Doch kaum hatte der alte Mann ein paar Meter hinter sich gebracht, erwischte ihn eine zweite, noch heftigere Schmerzwelle. Instinktiv drehte sich Mr. Slater auf der Stelle herum, eilte mit schnellen Schritten zurück zur Bank und erreichte sie gerade noch rechtzeitig, bevor die Schmerzen in seinem Kopf so stark wurden, dass er zu wimmern begann. Mit schlotternden Knien nahm Mr. Slater ein zweites Mal auf der Bank Platz, legte seinen Kopf nach hinten und schaute nach oben in den mit funkelnden Sternen übersäten, klaren Nachthimmel. Im gleichen Augenblick wurde ihm schwindlig. Dann verlor der alte Mann das Bewusstsein.
Irgendwann wachte der alte Mr. Slater wieder auf und hörte zu seiner Überraschung seltsame Geräusche aus der Ferne. Irgendwo im Hintergrund drangen Töne in seine Ohren, die er noch nie in dieser Art gehört hatte. War er gestorben und bereits in der jenseitigen Welt angekommen? Das war sein erster Gedanke, denn er wusste nur zu gut, dass er in seinem Alter jederzeit mit dem Tod rechnen musste.
Dann drangen diese eigenartigen Bilder in sein klarer werdendes Bewusstsein. Ein breiter Rollweg manifestierte sich vor ihm, an deren Ränder Fahrzeuge ohne Räder standen in denen Wesen saßen, die wie Alien aussahen. Von einer Sekunde auf die andere erweiterte sich das Sehfeld seiner Augen und sein Blick fiel auf eine gewaltige, hell erleuchtete, futuristisch aussehende Megastadt, die vor Verkehr nur so wimmelte.
In diesem Moment wurde dem alten Mann bewusst, dass er sich in einer völlig anderen Welt befand. Er bemerkte auch, dass er nicht mehr in seinem eigenen Körper, sondern im Körper irgendeines anderen Lebewesens war, das sich offenbar gerade in jenem Teil dieser Megastadt befand, in der sich eine große Anzahl von Lebewesen der gleichen Art auf breiten Förderbändern in alle Himmelsrichtungen bewegten. Es war einfach unvorstellbar, was Mr. Slater da sah. Trotzdem schien alles ganz real zu sein, denn er erlebte es so, als würde er selbst ein ganz selbstverständlicher Teil dieser pulsierenden Millionenstadt sein, durch die er jetzt in einem fremden Körper spazieren ging, als wäre es das normalste Geschehen auf der Welt.
Überall waren zudem noch breite Straßen, die bis weit in den fernen Horizont hinein verliefen. Futuristische Wolkenkratzer in allen denkbaren Formen und Größen flanierten diese atemberaubenden, weit geschwungenen Fahrbahnen, auf denen sich ein unendlicher Strom radloser Fahrzeuge bewegte. Riesige Leuchtreklamen erhellten außerdem die tiefen Straßenschluchten, die immer wieder von schönen, weitläufigen Grünanlagen unterbrochen wurden.
Das unbekannte Wesen, in dem er sich befand, blieb plötzlich stehen. Ein anderes Wesen kam auf einer schwebenden Miniplattform auf ihn zu und machte erst Halt, als es direkt vor ihm stand. Jedenfalls empfand Mr. Slater es so. Das wunderschön gleichmäßig geformte Wesen auf der Schwebeplattform lachte und deutete ihm an, er solle doch mitkommen in eines der kuppelförmigen Gebäude, die ganz in der Nähe standen und die von allen Seiten frei zugänglich waren.
Der alte Mr. Slater wollte nicht, doch konnte er nichts dagegen tun, denn das Wesen, in dessen Körper er sich befand, folgte dem anderen, als würden sie sich kennen und gute Bekannte sein.
Als die beiden Gestalten das gewaltige Gebäude direkt vor ihnen erreicht hatten, kam im nächsten Augenblick so etwas ähnliches wie ein Roboter heran geschwebt und verteilte leuchtende Kristallgläser mit einer bunten Flüssigkeit darin. Mr. Slater bekam es auf einmal mit der Angst zu tun, da er nicht wusste, was er da trinken würde. Aber auch dagegen konnte er nichts tun, denn in Wirklichkeit trank je das Wesen und nicht er, auch wenn er spürte, wie die farbige Flüssigkeit durch die Kehle in den Magen gluckste. Überall standen diese faszinierenden Wesen herum oder saßen in kleinen, gemütlich eingerichteten Abteilen herum, wo sie aßen und tranken und sich dabei in einer Sprache unterhielten, die der alte Mann nicht verstand. Das weitgespannte Kuppeldach bestand aus einem durchsichtigen Material, das den Blick auf einen wolkenlosen Himmel freigab, der so blau wie Tinte war. Riesige Raumschiffe machten sich gerade auf den Weg ins Universum, andere landeten wieder und erzeugten dabei nicht einen einzigen Laut.
Dann hörte der alte Mann seinen Namen. Jemand rief nach ihm.
Mr. Slater hatte auf einmal den Wunsch, in seine eigene Welt wieder zurücken zu wollen. Er spürte eine tiefe Sehnsucht nach seinem Zuhause und der Stadt in der er lebte, die er doch so liebte und wo er als Kind aufgewachsen war. Er konzentrierte sich auf diesen Gedanken und im nächsten Augenblick veränderte sich die Umgebung um ihn herum und begann sich aufzulösen.
Nach und nach verschwanden die Konturen der fremdartigen Welt. Das unverständliche Gemurmel verklang. Wieder wurde es finster um den alten Mr. Slater, bis plötzlich vor ihm ein heller Lichtpunkt erschien.
"Er kommt wieder zu Bewusstsein", hörte er eine Frauenstimme sagen, die in seiner wohlvertrauten Sprache redete. "Ich glaube, er schafft es. Wir müssen den alten Mann jetzt aber so schnell wie möglich in die Klinik fahren. Dort werden sich die Ärzte um ihn kümmern. Ich denke, er wird sich auf jeden Fall wieder erholen. Es sah schlimmer aus, als wir dachten."
Der alte Mr. Ron Slater öffnete jetzt seine Augen und musste verdutzt feststellen, dass er von einigen Rettungssanitätern gerade auf eine Trage gelegt und festgeschnallt wurde. Dann verfrachtete man ihn in ein Rettungsfahrzeug, das wenige Augenblicke später mit Blaulicht davon fuhr, um ihn in das nahgelegene Stadtkrankenhaus zu bringen.
Noch einmal erhaschte der alte Mr. Slater einen Blick von der Bank gleich neben dem Bushalteschild, auf die er sich wegen der heftigen Schmerzen hingesetzt hatte. Im hellen Licht der Haltestellenbeleuchtung konnte er plötzlich ein Kristallglas erkennen, das zur Hälfte mit einer bunten Flüssigkeit gefüllt war. Es stand gleich direkt neben der hölzernen Sitzgelegenheit auf dem Plattenboden, und der alte Mr. Ron Slater hatte für einen Moment den komischen Eindruck, als würden sich in den geschliffenen Kristallen eine futuristisch aussehende Stadt spiegeln.
(c)Heinz-Walter Hoetter
Vorheriger TitelNächster TitelDie Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
Der Beitrag wurde von Heinz-Walter Hoetter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Heinz-Walter Hoetter als Lieblingsautor markieren
Das Licht in mir: Die Geschichte meines Überlebens
von Eva Maria Thevessen
Nach zwölfjähriger Erkrankung der linken Brust, welche seit der Schwangerschaft ein blutiges Sekret absonderte, durfte das Geschenk der Heilung an Körper, Geist und Seele durch die Verbindung mit der Urkraft gelingen.
Das Bewusstsein über diesen steinigen Weg führte zu Licht und Liebe in ihr.
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: