Klaus Mallwitz

Kindheitssuche

Kindheitssuche

Der alte Mann lag heute früh in seinem Bett und schaute an die Decke. Was hat er bisher im Leben nur alles nicht gewusst von dem, was er zu wissen glaubte. Seine Lippen bewegten sich ganz seicht. Er schien zu sprechen, aber er hörte seine Stimme nicht. Sein rechter Arm schob sich plötzlich unter die Decke, und seine Finger an der Hand, die suchten nach etwas. Sie tasteten sich am Bauch entlang, umkreisten die Brustwarzen, spielten mit den kleinen Mückenstichen rund um seinen Bauchnabel herum. Damals, als Kind, da waren es keine Mückenstiche. Da waren es Blasen, Pickel, Abschürfungen, Risse, oft blutig, meist ranzig, und seine Finger kniffen in diese Wunden hinein, so dass sie sich vergrößerten, schmerzhafter wurden, bluteten, aufschäumten. Aber heute Morgen waren es die geliebten, die herzzerreißenden Mückenstiche, die er schon seit Jahren zu pflegen gewohnt war, die er aus tiefstem Herzen liebkosen musste, die er streicheln und behüten wollte, weil sie so klein und hilflos von ihren Müttern auf seiner Haut zurückgelassen wurden. Und nachdem er spürte, dass die kleinen dankbar ein bisschen gewachsen sind, da gab ihnen jeder einzelne Finger einen zarten Kuss, und die Mückenstiche schliefen beruhigt ein. Nun konnte sich der Zeigefinger diesem Nabel nähern. Langsam, ganz vorsichtig schien er ihn zunächst zu untersuchen. Zu fühlen. Und Erinnerungen schwebten dem alten Mann wie Geistererscheinungen aus dem All kommend vor den Augen kreuz und quer umher, und er fühlte mit jedem kleinsten Druck auf den Nabel genau dasselbe Verlangen, mit dem er als kleines Kind seinen Bauchnabel beschworen hatte, immer wieder und immer wieder. In einem Kinderbettchen bei der Tante, zuhause auf der Bodentreppe, im Krankenbett, im Abstellraum, im Keller, auf dem WC, in der Badewanne, im Kindergarten, in der Schule. Und immer dann, wenn er alleine war, wenn er sich unbeobachtet fühlte, wenn er – ja, wenn er Angst hatte. Dann drückte er den Nabel, drückte ihn in den Bauch hinein und wünschte sich, wonach er sich sehnte. Geöffnete Arme, in die er sich hineinkuscheln konnte, eine zarte Hand, die ihn streichelte, eine Intelligenz, wie sie seine gewaltlose Kindergärtnerin an den Tag legte, mindestens eine 2 in dem Diktat, damit Mama den Teppichklopfer nicht suchen musste. Und dann, dass der Vietnamkrieg aufhört, und immer wieder, dass der Weihnachtmann das nächste Mal ohne Rute kommt, oder lieber gar nicht kommt. Heimliche Wünsche bei einem heimlichen Bauchnabeldrücken. Die einzige Chance. Wenn er dabei nur nicht erwischt wurde. Sein Bauchnabel war die Mutter, die er sich wünschte, die ihm ganz sicher helfen können konnte.
Und heute früh war der alte Mann schon wieder vier Jahre alt. Oder fünf. Er lag allein in seinem Bett, das sich wie schon so oft in seinen letzten 70 Jahren in sein kleines Bettchen von früher verwandelte. Das Bettchen bei der Tante. Ein sicherer Ort. Jetzt, jetzt vergaß er seine Gegenwart, sein Alter, sein Bett, in dem er lag. Er war das Kind. Er war plötzlich das Kind mit dem Gefühl, dass das Kind nur zu gut kannte. Mit dem ureigensten Gefühl des kleinen Kindes. Und dann war es soweit. Er drückte, wie es damals war, und wie es seitdem immer wieder geschah, den Zeigefinger tief hinein in den Bauchnabel. Ganz fest. Und schrie, schrie und schrie. Er schrie, wie er als Kind nie geschrien hat. Außer dann, wenn der Teppichklopfer kam. Oder das Nudelholz. Ja, jetzt schrie er zum ersten Mal ohne die Angst. Er schrie laut. Er war allein und schrie. Wollte er, dass ihn jemand hört? Er brüllte aus sich heraus, was er als Kind nur immer heimlich gedacht hatte. Immer dachte. Immer dachte, immer das, wonach es in ihm schrie. Und jetzt schrie er. Und der Finger drückte während des Schreis den Nabel weiter hinein in den Körper. Das tat nicht weh. Jetzt geht der Wunsch, der aus ihm raste, in Erfüllung. Und allein diese Hoffnung, die ließ ihn heute früh noch kurz am Leben. Wie immer. Denn erfüllt wurde gar nichts. Bisher gar nichts, wie immer. Aber das Kind lebte weiter. Irgendwie. Bis zum nächsten leisen Hilfeschrei. Jede Woche, jeden Tag, und kein Mensch hörte es, weil es leise schrie. Weil der kleine Junge immer flüsterte. Oder einfach nur dachte. Bis heute.

Aber heute, heute schrie er laut. Niemand hörte ihn. Er schrie zum allerersten Mal in Worten:

„Lieber Gott, sei lieb und fein, und stecke deine Rute ein! Lass die Menschen endlich menschlich sein! Ich will auch immer artig sein! Nein, nein, nein! Ich darf nicht artig bleiben. Ich muss mich selbst entscheiden, und niemand darf mehr leiden! “

Und der alte Mann ahnte, was er zu spüren glaubte, nämlich, dass er es als Kind ganz alleine war, dem es gelungen ist, jedem einzelnen Tod seiner zigtausenden Tode zu entkommen. Dem dauernden Sterben des Lebens, das er wie jeder andere Mensch auch geschenkt bekommen hat. Nun war er endlich kein verängstigtes Kind mehr. Und er fragte sich, wie viele Hände ihm in all den Jahren gereicht worden sind. Wie viele Hände hat er abgelehnt? Warum hat er alle Hände abgelehnt? Die Hände der Mitinsassen in all den Krankenhäusern, die Hände der Nachbarn, der Arbeitskollegen und Kolleginnen, wie viele helfende Hände hat er gar nicht registriert. Und während er sich all das fragte, spürte er in sich, ganz tief in sich, dass diese Fragen alle unbeantwortet sein dürfen. Er ahnte, dass es ein Leben auch ohne dem WARUM geben darf. Er wusste, es ist ja sein Leben. Sein Leben. Diese Ahnung gab ihm Kraft, die machte Mut. Und wenn es jetzt ein Ende gibt, so spürte er es grad, dann wird es ein Ende in einer dankbaren Zufriedenheit sein. Und eines wusste er genau, nämlich dass er es glaubte, ohne zu glauben, dass er es wusste. Aber das reichte ihm.

Heute, gegen Mittag starb der alte Mann, so kurz nach 12, und er wollte, als er glaubte, zu wissen, dass er gestorben sei, es in die Welt hinausschreien, aber das ging nicht mehr. Das musste er einsehen. Aber an eine Einsicht wollte er vor Glück kaum glauben. Auch morgen wird er es nicht wollen. Und nächste Woche kann er es nicht mehr glauben. Das war ihm fast beinahe klar. Warum auch? Warum sollte er alles glauben, was er so glaubt? Vielleicht weiß er es ja schon. Wie er auch schon auf Erden immer glaubte, nicht alles glauben zu können oder zu wollen, was wissentlich geglaubt werden könnte oder zu glauben ist.

 

Nun, wir, die wir von der Geschichte des alten Mannes erfahren haben, wissen auch nicht mehr. Das allein wissen wir. Punkt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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