Das Mädchen aus dem Paradies
Sie saß auf der Parkbank
im Stadtwald und war wunderhübsch anzusehen.
Obwohl sie
keineswegs über langes Haar verfügte, um damit das Mädchenhafte
einer jungen Frau auszudrücken, gab ihre Layered-Bob-Frisur vom leicht
rotschimmernden Haar eine gewaltige Kraft ab und strahlte bei ihr eine einmalige
Jugendlichkeit aus.
Patrik entdeckte sie im Vorübergehen und
blieb fasziniert vor ihr auf dem hellen Kiesweg stehen. Ihre Augen waren
geschlossen, sie hatte ihre Arme weit nach beiden Seiten auf der Rücklehne
ausgebreitet. Ihre Gesichtshaut fiel ihm sofort auf, makellos glatt und fast
ganz weiß. Die glänzende Haut ähnelte einer polierten
Oberfläche, eher unwirklich, aber dennoch keinesfalls abstoßend. Am
Hals trug sie eine hellblaue Amorkette mit einem Hänger. Neugierig trat
Patrik näher und erkannte das Unendlichkeitszeichen als Logo im vielleicht
drei Zentimeter messenden Anhänger. Die blaue, feingliedrige Kette hob sich
brillant von ihrer hellen Haut ab, in der Mitte ihrer Kreolen befand sich genau
dasselbe Unendlichkeitslogo, welches er aus der Mathematik kannte. Er betrachte
sie weiter genau und schien es nicht unhöflich zu finden, eine sehr
hübsche Frau in dieser Form näher zu betrachten. Sie trug eine
knielange hellgraue Stretch-Twill-Bermuda, darüber ein tailliert
geschnittenes Top aus hochwertigem Jersey und von unzähligen Pailletten,
sowohl an Rückenpasse sowie Trägern glamourös szeniert. Am
Brustbereich formten die glitzernden Pailletten das Wort Neila, womit Patrik
vorerst nichts anzufangen wusste.
Als er ihre rose-goldenen Schuhe
betrachtete, eine Art Sandale als festen Sportschuh und lächelnd die
niedlichen Zeichen, offensichtlich Sterne, auf ihren Fußnägeln
erblickte, öffnete sie ohne sich zu erschrecken die Augen.
»Ich bin unverkäuflich, mein lieber Herr«, hörte er sie
sagen, ihre Stimme klang zwar weich, aber irgendwie fern üblicher
Mädchenstimmen. Ihr Mund hatte sich zu einem sympathischen Lächeln
geformt, sie machte nicht den Eindruck auf Patrik böse zu sein.
Erwartungsvoll schaute er in ihre hellen, stahlblauen Augen, die sich an
seinem braunen Augenpaar festmachten. Sofort wurde er an den Husky-Mischling
seines Nachbarn erinnert. Dessen Hund hatte genau eine solche Struktur in der
Farbgebung der Augen wie diese junge, hübsche Frau.
»Sorry«, versuchte sich Patrik etwas hilflos zu entschuldigen,
»ich habe Sie hier so in der Sonne entspannen gesehen und irgendetwas hat
mich gebannt Sie hier näher zu betrachten. Ich wollte Ihnen aber nicht zu
nahetreten und ihre Privatsphäre verletzen.«
Sie lachte
kurz auf und zeigte dabei ihre weißen Zahnreihen, die wie abgemessen
aneinandergefügt erschienen. Allerdings waren die Eckzähne
auffällig, die im Oberkiefer relativ klein und kaum sichtbar waren, im
Unterkiefer jedoch stark und spitz, sie überragten sogar die anderen und
schränkten die sonst grade Linien an der Oberfläche der Zahnreihen
ein. Sie musterte ihn, als er nur knapp einen Meter von ihr entfernt verharrte.
Patrik brauchte sich nicht zu sorgen, dass sie ihn einfach kühl abmustern
würde, denn er schaute echt gut aus. Seinem Lebensgewicht von gut achtzig
Kilo stellte er eine Körpergröße von fast 180 Zentimeter
entgegen, ferner verfügte er über das, was so mancher Mann gerne
für immer an sich hätte: Er besaß einen echten, sogenannten
Waschbrettbauch und war muskulös.
Rundum konnte also Patrik in
Anspruch nehmen, als sportlicher Typ zu gelten. Sein Alter lag auf Anfang
Dreißig und sie schätze er auf höchstens Mitte Zwanzig, eher
jünger.
Sie nahm keinen Bezug auf seine Entschuldigung, blieb
fast unbeweglich so sitzen, wie es von Anfang an war und spielte mit ihrer Zunge
auf den trockenen Lippen. Es war Frühling, aber es herrschten schon
Temperaturen, die fast an Sommertage erinnerten.
Patrik zeigte sich
überrascht, als sie ihn direkt auf sein Wesen ansprach. »Sie sind
voller Sorge, was bedrückt sie denn? Eine Krankheit?«
»Dass Sie über hellseherische Fähigkeiten verfügen,
hätte ich nicht erwartet. Aber Sie haben recht, ich bin auf dem Weg ins
Krankenhaus und will zur Bushaltestelle. Ich habe noch ein wenig Zeit bis zur
Abfahrt, darf ich mich kurz zu Ihnen setzen?«
Sie nickte und
zog ihren linken Arm von der Banklehne zurück, so dass Patrik neben ihr
Platz nehmen konnte. Als er seine Sporttasche abgestellt und sich hingesetzt
hatte, wollte er von seinem Vorhaben berichten, unterbrach sich dann aber kurz:
»Entschuldigen Sie, aber ich sollte mich wirklich vorher vorstellen. Mein
Name ist Patrik, ich bin…«
Sie hielt den Zeigefinger
auf ihren Mund, Patrik stockte daraufhin und sah sie ratlos an. Sie
lächelte erst, dann hörte er ihre weiche, fast sanft klingende Stimme:
»Danke, Ihr Vorname genügt schon. Ich heiße übrigens
Neila.«
»Sie sprechen ohne Dialekt, aber mit
hochdeutscher Betonung, darf ich fragen aus welcher Region Sie kommen?«
Ihr Lächeln hatte sich nicht verändert, während sie
langsam den Kopf schütellte. »Ich bin nicht von hier und nur zu
Besuch in diesem Ort. Mein Heimatort liegt nicht in Europa.«
Sie hob die Augenbrauen und erkannte, wie er nervös mit den Fingern an der
Gürtelschnalle seiner alten Jeans nestelte. Patrik bemerkte das nicht,
während sie ihm mitteilte, dass er ihren Heimatort nicht kennen kann, weil
er noch niemals dort war. Eine solche Antwort erschien ihm seltsam, schloss aber
daraus, dass sie ihren Heimatort nicht nennen wollte. Daraufhin kehrte er zum
ursprünglichen Thema zurück.
»Wie gesagt, ich bin
auf dem Weg ins Krankenhaus. Einige Tage lang werden mich dort die Ärzte
untersuchen. Die Diagnose steht zwar schon fest, nicht aber die Therapie und der
Umstand, wie nun weiter verfahren werden soll. Das Schlimmste was mir passieren
kann ist die Notwendigkeit einer Operation, die dann auch eine darauffolgende,
langfristige Behandlung nach sich ziehen würde. Aber da müsste ich
dann durch!«
Ihr Gesicht hatte während seiner
Schilderung die hübschen Züge nicht verloren, obwohl sich einige
Sorgenfalten in ihre Stirn gruben. Ihre Augen bohrten sich tief in die seinen,
deshalb wurde Patrik etwas unruhig und wollte den Blick abwenden.
»Nein, nein“, sprach sie ruhig, als sie sein Vorhaben erkannte,
»schauen Sie mir weiter in die Augen und bleiben ganz entspannt.«
Er tat es ohne Umschweife, während ihre vier Finger der linken
Hand sanft über seine Schläfe fuhren. Er spürte kaum die
Berührung, ihre Fingerkuppen übten keinerlei Druck auf seine Stirn
aus. Er ließ es geschehen, sie achtete sehr genau darauf, nicht den
Blickkontakt mit ihm zu verlieren. Patrik verlor das Zeitgefühl, denn es
schien ihm lange zu dauern, aber in Wirklichkeit vergingen kaum zehn Sekunden.
Sie erhob sie sich von der Sitzbank und schaute auf den sitzenden Patrik
herunter. Sein Blick verfing sich sofort an ihren Beinen, kein Äderchen,
keine noch so geringe Verfärbung an Knien und Waden schmälerte das
makellose Aussehen ihrer Haut in diesem ungewöhnlichen weißen
Farbton. Da sie nichts sagte, erhob er sich auch und stand schließlich
direkt neben ihr und überragte sie um eine halbe Kopfgröße. Sie
war also für eine Frau nicht gerade klein.
Sie presste ein
wenig die Lippen zusammen und nickte ein paarmal kurz. Diesmal legte sie ihren
Zeigefinger auf Patriks Lippen, als der sich anschickte etwas zu sagen. Dann hob
sie beide Handflächen, um sie links und rechts an der Seite seines Kopfes
anzulegen. Auch hier vergingen knapp zehn Sekunden, dann machte sie ein paar
Schritte zur Seite.
»Kommen Sie Patrik, ich begleite Sie. Ich
muss denselben Weg nehmen. Lassen Sie uns ein wenig plaudern.«
Er begriff inzwischen nichts mehr, ihr Vorgehen kam ihm eher etwas okkult
vor, und er überlegte ernsthaft, ob diese Neila eine Wahrsagerin ist, die
sich ihren Lebensunterhalt damit verdiente. Aber er besaß weder ein
unsicheres Gefühl, noch teilte ihm eine innere Unsicherheit Negatives mit.
So nahm er seine Tasche und folgte ihr ohne Gegenargumente. Schnell hatte er sie
wieder eingeholt und lief direkt an ihrer Seite. Sie warf ihm einen kurzen Blick
zu, schaute dann wieder geradeaus. Ihre Worte klangen fast lautlos:
»Darf ich dich Patrik nennen?«
»Natürlich,
gerne!«
»Du hast einen Hirntumor!“
Patrik schluckte und nickte kurz, sagte kein Wort und versuchte seine
Überraschung zu verbergen. Sie bemerkte das aber trotzdem. So schritten
beide wortlos einige Meter des Weges, dann blieb Patrik urplötzlich stehen.
»Verzeih‘ meine Frage, Neila. Auch wenn du eine
Ärztin sein solltest, aber das kann nicht einmal eine promovierte
Ärztin in dieser Zeit nach dieser Art feststellen. Wer bist du?«
»Nein«, antwortete sie, gleichzeitig kehrte wieder ihr
unverkennbares Lächeln im Gesicht zurück, »eine Ärztin kann
das nicht so schnell, aber jemand, der Kontakt mit jeder Lebensart aufnehmen
kann.«
»Lebensart?« Patrik begann zu zweifeln.
Sie setzte sich wieder in Bewegung, wobei er ihr folgte und stumpf
aufstoßend vor sich hin lachte. Er war jetzt an einem Punkt angelangt, wo
sein Verständnis mit der Aussage dieser hübschen, unbekannten Frau
nicht mehr mitzuhalten imstande war.
»Du weißt, dass du
das hier nicht so einfach im Raum stehen lassen kannst«, teilte er ihr im
verzweifelt klingenden Ton mit, »woher nimmst du eine solche Diagnose,
welche enormes medizinisches Wissen erfordert? Nur durch kurzes Abtasten meines
Schädels und Blick in die Augen kann doch niemand eine solche Diagnose
stellen!«
»Du musst nicht sofort auf alles, was du
nicht verstehen kannst, eine Antwort finden«, beruhigte sie ihn sanft. Er
bemerkte ein seltsames Flackern in ihren stahlblauen Augen. Es sah aus, als
würden sich darin blasse, grünliche Punkte reflektieren, aber in der
Umgebung gab es keinen Grund für irgendwelche Spiegelungen. Dieses
Phänomen musste bei ihr von innen ausgehen. Er schwieg und wartete, dass
sie wieder etwas sagte. Doch es geschah nichts. Als sie die Bushaltestelle
erreichten, hatte er kaum noch Zeit, denn der ankommende Bus war schon mit
bloßem Auge am Straßenende zu erkennen. Er schaute sie flehend in
die Augen, die inzwischen eine helle, blaugrüne Färbung angenommen
hatten.
»Anaplastisches Astrozytom«, kam es trocken
über ihre Lippen, »man wird dir eine Operation mit nachfolgenden
Strahlen- und Chemotherapien empfehlen. Lehne das ab!«
Er war
viel zu perplex, um eine vernünftige Antwort zu finden, umklammerte ihre
beiden Oberarme und zog sie zu sich heran. Dabei spürte er einen leichten
Lavendelduft auf ihrer Haut und drückte sie fest an seinen Oberkörper.
Als der Bus hinter ihm zum Halten kam, flüsterte er ihr in
das Ohr: »Versprich mir, dass wir uns wiedersehen. Bitte, Neila! Bitte,
bitte, - versprich‘ es mir!“
Sie schaute ihn wortlos
an, bevor er die Trittstufen vom Bus betrat. Sein verzweifelter Blick wandte
sich in keiner Sekunde von ihr ab. Als sie stumm nickte, fiel ihm eine
mächtige Last vom Herzen. Er sah wieder das bei ihr stets gleiche,
undefinierbare Lächeln, ehe sie die Bustür mit einem lautstarken
Zischen automatisch trennte.
Noch beim Ticketlösen wandte er
seinen Blick nicht von ihr ab. Sie stand noch so lange bewegungslos an der
Haltestelle, bis der Bus an der nächsten Straßenecke abbog und sie
seinem Blick entzog.
Als drei Tage später im Krankenhaus seine
stationäre Untersuchung endete, war Patrik bereits am nächsten Tag
wieder im kleinen Park an derselben Bank.
Sie war leer. Er wartete
fast zwei Stunden. Umsonst. Sie kam nicht.
Auch an den
nächsten, darauffolgenden Tagen stand er zur selben Zeit an dieser
Parkbank, vor der er sie einst traf. Nichts. Ihr Lächeln lebte in seinen
Gedanken. Das war’s.
Als er seine Besuche zu jener Parkbank
zwei Wochen erfolglos wiederholt hatte, zweifelte er erstmals daran Neila je
wiederzusehen. Alles, was sie ihm mitgeteilt hatte, wurde von den Ärzten in
einer umfangreichen Diagnose bestätigt. Die Ärzteschaft konnte es aber
nicht fassen, dass er die OP und die anderen Therapien ablehnte. Er bat sie um
Verständnis, er müsse das erst psychisch verkraften, alles intensiv
nachvollziehen. Die Ärzte verstanden seine Argumente, drängten aber
auf baldige Wiedervorstellung.
Er versprach eine baldige
Vorstellung, doch was sollte er tun ohne Kontakt zu Neila?
Daraufhin ging er in der folgenden Woche nur noch jeden dritten Tag zu der Bank
im Park. Er hatte kein Glück, im Gegenteil, einmal starb bei ihm sogar die
Hoffnung mit einem abschließenden Weinen. Von weitem erkannte er, dass auf
der bewussten Bank eine junge Frau saß. Neila, endlich!
Jedoch, es war nicht Neila, enttäuscht wendete er sich ab und weinte
bitterlich.
Inzwischen war fast ein ganzer Monat vergangen, seither
er Neila traf. Er arbeitete in der Speditionsfirma seiner Eltern, in den letzten
Wochen war er aber seit Kenntnis seiner Diagnose nicht mehr in der Lage,
ordentliche Arbeiten auszurichten. Seine Eltern waren sehr besorgt und
initiierten die Freistellung von der Arbeit. Als eines Abends gelangweilt vor
dem Fernsehgerät saß und den angekündigten Spielfilm erwartete,
schoss ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Inwieweit dieser Einfall
plötzlich in sein Bewusstsein eindrang, vermochte er nicht zu beantworten,
es schien ihm auch nicht wichtig zu sein. Wie von einer Geisterhand
geführt, schaltete er das Gerät aus und dachte über seinen
Einfall näher nach.
Morgen war nicht etwa ein normaler Tag,
nein, es war ein besonderer Tag.
Morgen muss er um dieselbe Zeit
wie vor einem Monat auch denselben Weg zum selben Ziel antreten. Er hatte Termin
beim Oberarzt im Krankenhaus und würde morgen denselben Weg zur
Bushaltestelle gehen. Seine Euphorie verwarf die Bestandsaufnahme der Logik,
diese Neila hätte Kenntnis über den stattfindenden Termin im
Krankenhaus am morgigen Tag. Sein Gefühl war stark positiv gepolt, für
ihn gab es nur die Feststellung, dass Neila morgen auf der Bank sitzen wird,
wenn er zur Bushaltestelle wieder zum Hospital unterwegs ist. Er war so
aufgeregt, dass er sich einen kleinen Schnaps genehmigen musste. Immer wieder
nickte er vor sich hin und war inzwischen sogar so fest vom Wiedersehen mit
Neila überzeugt, dass er anfing darüber nachzudenken, was er ihr denn
beim morgigen Treffen zuallererst fragen wollte. Es sollte eine sehr unruhige
Nacht werden, Patrik schlief kaum und wenn, dann sehr schlecht. Dennoch war er
am nächsten Morgen hellwach, sein Willen sorgte dafür, dass so etwas
wie eine Müdigkeit zurzeit bei ihm unerwünscht sei.
Als
er den langen Parkweg einsehen konnte und schon die Parkbank mit seinen Augen
erfasste, schwanden ihm fast die Sinne. Einer Ohnmacht nahe, trieb ihn eine vom
Unterbewusstsein gesteuerte Kraft vorwärts, seine Beine waren schwer und
schleppten trotzdem seinen Körper bis vor die Bank. Obwohl er nicht gerannt
war, blieb ihm fast der Atem weg, lange musste er tief Luft in seine Lungen
holen.
Da saß sie vor ihm und sah ihn an.
Mit
denselben Augen in diesem fast weißen Stahlblau.
Dieselben
Creolen an ihren Ohren, die das Unendlichkeitszeichen in sich trugen.
Dieselbe fast weiße Gesichtshaut, welche das undefinierbare
Lächeln abzeichnete.
Ihre natürlichen, ungeschminkten
Lippen waren leicht geöffnet. Er lechzte nach ihrer Stimme, erwartete
sehnsüchtig ihre ersten Worte. Aber sie blieb still.
»Neila«, begann er schließlich kleinlaut, »ich wusste,
dass du heute hier bist!«
Ohne ihr Lächeln zu beenden,
schüttelte sie den Kopf, wobei ihm ihr kurzes Haar wegen der brennenden
Sonne feine und leicht rote Reflexionen zuwarf.
»Wer sagt dir
denn, dass ich auf dich gewartet habe?«
Patrik wurde
unsicher, weil er die Frage nicht verstand.
Als sie merkte, dass es
ihm offenbar die Sprache verschlagen hatte, beruhigte sie ihn mit ihrer sanften
Stimme.
»Aber ich habe genau gewusst, dass du heute diesen
Ort besuchen wirst. Genauso ist mir bekannt, wie du dich danach gesehnt hast,
mich wiederzutreffen. Dass du mich heute triffst, hast du seit vier Wochen
gewusst, nur ist es dir ein wenig spät eingefallen.«
Er
nahm neben ihr Platz und umklammerte mit seinen beiden Händen vorsichtig
ihre linke Hand. Diese war, er erschrak etwas, relativ kalt. Dennoch zuckte er
nicht mit seinen Fingern zurück. »Du weißt so viel«,
antwortete er zögernd und blickte tief in ihre Augen, »deshalb bin
ich deinem Rat gefolgt.«
»Das freut mich zwar«,
bestätigte sie leise, »aber das sollte vorrangig dich erfreuen, denn
es dient allein dir.«
»Du meinst mein verweigertes
Einverständnis zum Behandlungsplan?«
»Das war
richtig«, nickte sie, »weil du mich getroffen hast, aber es
wäre falsch gewesen, wären wir einander nie begegnet. Die Alternative
hättest du so nie erfahren.«
»Welche Alternative?
« Patrik stand wieder vor Unlösbarem.
Sie
überhörte seine Frage und wechselte das Thema.
»Bist du kommunikativ mobil?«
Er hatte noch gedanklich
ihre letzte Antwort verarbeitet und beantwortete ihre Frage deshalb
verspätet. »Wie? Ich … Ach so, du meinst ein Handy. Ja,
ich habe es dabei.«
Gleich darauf hatte er es aus der
Jeanstasche geangelt und hielt es ihr hin. Jedoch Neila wollte es nicht nehmen
und schob seine Hand zurück.
»Nein, mach‘ das
selbst. Ruf‘ im Krankenhaus an. Sag‘ deinen Termin heute ab und
lass‘ dir einen neuen Termin einen Monat später geben!«
»Was?« Patrik glaubte nicht, was er da hörte.
Sie schaute ihn nur an. Ihr Lächeln war verschwunden, die Lippen hatten
sich zu einem schmalen bedenklichen, nicht bösartig wirkenden Strich
zusammengezogen. Dabei konnte er wieder das Sternenflimmern in ihren Augen
erkennen, die ihn ausdrucksvoll anschauten. An den Ohrläppchen schimmerte
das Unendlichkeitszeichen im Zentrum ihrer Kreolen, ihr dunkles Paillettenshirt
mit ihrem Namen bewegte sich am Kragen leicht durch den mild vorbeiziehenden
Wind.
Patrik stand auf und trat einige Schritte zurück, wobei
sie auf der Parkbank sitzend nicht ihren Blick von ihm abließ. Unsicher
blickte er auf ihre wunderhübschen, schlanken Beine, die sie
übereinandergeschlagen hatte. Seine Augen verfingen sich zuerst an ihren
Knien und wanderten dann herunter bis zum Ansatz ihrer scheinbar markenlosen
Sneakers. Er merkte gar nicht, dass sich währenddessen sein Arm mit dem
Handy in der Hand nach unten senkte. Zitternd zog ihm eine Art Frösteln vom
Lendenbereich der Wirbelsäule bis hoch in den Nacken, ein Gefühl, das
ihm weder Glückseligkeit noch Traurigkeit zu vermitteln vermochte. Als er
dann ihre Worte vernahm, erschrak er und kam wieder zu Besinnen.
»Du träumst im Stehen, Patrik. Eine wunderbare Gabe, die nicht jeder
hat. Aber jetzt bringt dich so etwas nicht weiter!« Ihre Augen schienen
nun steinerne Härte abzustrahlen.
Um sich selbst zu
bestätigen, was er zu sehen glaubte, musste er wieder näher an sie
herantreten. Er verstand die Szene nicht, die sich jetzt abspielte. Er stellte
fest, dass ihre Augen im hellblauen Ton schimmerten, keine anderen inneren
Anzeichen waren erkennbar, Iris, Linse und die Pupillen fehlten hinter der
Hornhaut. So vermochte er nicht zu erkennen, ob sie direkt ihn oder in eine
andere Richtung schaute. Sie hatte sich erhoben und etwas aus ihrer kleinen
Handtasche entnommen. Als sie die Tasche abstellte, sich erhob und einige
Schritte von ihm entfernte, drehte sie ihm den Rücken zu und griff mit den
Händen an ihre Augen. Einige Sekunden später drehte sie sich wieder zu
ihm um und Patrik erblickte wieder das altgewohnte und wunderhübsche
Gesicht mit den ebenso bemerkenswerten Augen. Während sie zur Bank
zurückging, lächelte sie ihn an. Natürlich hatte sie bei ihm
seine Ratlosigkeit bemerkt.
»Die intensive Strahlung der
Sonne vertrage ich nicht, ich musste meine speziellen Augenschalen wechseln,
damit ich jetzt besser sehen und fühlen kann!«
Patrik
hörte nicht genau zu, sonst hätte er vielleicht so einige
Merkwürdigkeiten in ihrer Redensart bemerkt. Ihn beeindruckte vielmehr die
veränderte Farbe ihrer Augen, die sich nun dunkelgrün
präsentierten, wobei die Pupillen so winzig waren, dass man sie kaum
erkennen konnte. Bald wurde er ruhiger, und nachdem sie sich wieder hingesetzt
hatte, beschloss er die entscheidende Frage zu stellen. Also wollte er neben ihr
Platz nehmen, doch ein weiteres Merkmal an ihr verhinderte das. Er stand
verdattert vor ihr, verwundert erblickte er abtastend ihren nackten Hals, ihren
Ausschnitt, welcher keine üppigen Brüste verdeckte, sowie auf die haut
ihrer Arme und Beine. Das auffällige Weiß ihrer Haut war verschwunden
und hatte sich in ein helles Braun verwandelt.
Wer sie nun
aufgrund ihrer Farbpigmente einem nordamerikanischen Indianerstamm zugeordnet
hätte, würde mehrheitlich Zustimmung erfahren. Er war sich jetzt nicht
sicher, welche Frage er eigentlich stellen wollte. Schließlich ignorierte
er ihre Hautveränderung, die schon fast einer Mutation ähnelte und
besann sich wieder auf das Krankheitsthema.
»Sag‘ mir
Neila, warum soll ich jetzt im Krankenhaus anrufen und den Termin um vier Wochen
verschieben?«
»Sie werden dich aufgrund ihrer Diagnose
und deiner vollzogenen Ablehnung zur OP in vier Wochen nochmals gründlich
untersuchen.«
»Gut, und dann?«
»Dann werden sie dich, da sie die Fortschritte am Tumorwachstum
feststellen, mit allen Mitteln zu überzeugen versuchen, sofort einer OP
zuzustimmen. Du wirst es dann tun und die fragwürdige Kombination aus der
Strahlentherapie mit der Chemo zulassen.«
»Und weiter?
Ich verstehe noch immer nichts.«
»Nichts weiter, sie
operieren dich, alles erscheint gut. Dann Strahlenbeschuss und Chema, immer noch
alles gut! Ein Jahr, vielleicht auch zwei Jahre hast du Ruhe. Aber er kommt
wieder, glaub’s mir. Er kehrt zurück!«
»Wer
kommt wieder?«
»Dein Feind da im Kopf.«
»Ach so, du meinst diesen Tumor! Na gut, Neila«, betonte er,
»das hab‘ ich alles verstanden und auch, wenn deine schlimme Aussage
zutrifft, dass mir weder Operation und die nachfolgenden Therapien helfen
sollen. Aber wieso soll ich dann die Ärzte wegen einer Terminverschiebung
informieren? Nur um mir eine Operation mit dem Dazugehörigen zu ersparen?
Ich frage mich warum, wenn doch eh alles sinnlos ist?«
Neila
schüttelte den Kopf, lächelte ihn herzlich an, als ginge es ihm
besonders gut.
»Nein Patrik. Du willst leben! Weiterleben!
Was du hast, haben nicht alle Menschen. Du verfügst über eine ehrliche
und starke Willenskraft. Das können Mediziner nicht wissen, sie wollen
durchaus das Beste für dich, aber erzählen dir selten die genaue
Einschätzung ihrer Erfolgsaussichten und noch seltener den exakten Grad der
Heilungsnachhaltigkeit.«
»Na großartig,
Neila«, reagierte Patrik nun verzweifelt, »aber du selbst nimmst mir
doch auch diese letzte medizinische Hoffnung auf eine endgültige Heilung,
oder?«
Sie schüttelte leicht den Kopf und bewegte ihr
kurzes Haar. Sie hatte die ganze Zeit ihres Zuhörens nicht ein einziges Mal
mit dem Lächeln aufgehört. War ihr vielleicht das
‚Ernstsein‘ oder gar der Begriff ‚Ärger‘ absolut
unbekannt? Patrik hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Er wollte Fakten.
»Und Neila? – Was soll ich tun?«
»Anrufen
und den Termin verschieben!«
»Nein, ich meine in Sachen
meines Tumors!«
»Eins nach dem anderen. Das Erste hast
du vollzogen, das Zweite wäre die Terminverschiebung, an der dritten Stelle
würde der Beginn einer Freundschaft stehen, dann käme der neue
Untersuchungstermin im Krankenhaus und zu guter Letzt tritt die solidarische
Verabschiedung ein, die dir ein neues Leben in Form einer Wiedergeburt
gibt.«
Patrik starrte sie fragend an, als hätte ihm ein
Chinese auf Japanisch eine Diagnose gestellt. Wortlos trat er einen Schritt
zurück, überlegte minutenlang und ging dabei vor ihr auf und ab. Sie
verfolgte ihn mit ihren Blicken und lächelte weiterhin stetig. Dann zog sie
die Augenbrauen hoch als sie wahrnahm, dass er auf seinem Handy eine Nummer
wählte. Sie hörte ihn nur zwei Sätze sagen, dann wartete er
offensichtlich eine Antwort ab. Wenig später bestätigte Patrik dankend
und drückte das Gespräch auf dem Smartphone weg.
»Ich habe einen neuen Termin in vier Wochen!«
Sie
nickte und deutete mit den Händen an, sich neben sie zu setzen. Als er
neben ihr saß und sie erwartungsvoll anschaute, schloss sie erstmals ihren
Mund, so dass ihr Lächeln im Gesicht verschwand und ihre Lippen eine
durchgezogene Linie bildeten. Ihre dunkelgrünen Augen machten jetzt
keineswegs mehr den sympathischen Eindruck der einst stahlblauen Ausstrahlung,
sie fielen Patrik unangenehm auf, sie vermittelten ihm irgendwie den Eindruck in
die Augen einer Schlange zu starren. Nur ihr wirklich hübsches Antlitz
verhinderte, dass automatische Abneigung in ihm zu entstehen drohte.
»Du hast einen Feind in deinem Körper. Wie, glaubst du,
verhält man sich gegenüber Feinden im Allgemeinen?« Ihre Stimme
hatte einen seltsamen Unterton, der in ihm den Eindruck schuf, neben einer
unterrichtgebenden Lehrerin zu sitzen. Das behagte ihn nicht, seine Antwort fiel
dementsprechend trotzig aus: »Das kommt ganz auf den Feind an.«
»Bleib‘ sachlich, Patrik“, warf sie ihm vor, worauf
er anfing nachzudenken.
»Nun«, fuhr sie fort,
»mit Feinden kann man hart umgehen…«
»…indem man Gewalt anzuwenden versucht oder man wählt die
diplomatische Seite mit einer toleranten Diskussion«, ergänzte er.
»Das ist schon viel besser«, lobte sie ihn, »und
weiter?«
»Wie weiter?«, fragte er hilflos.
»Ja, wie gehst du mit deinem Feind diskussionsmental um?« Sie
tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Schläfe, als würde sie ihn mit
Klopfen aus einer Lethargie erwecken.
»…mir ist nicht
bewusst, überhaupt Feinde zu haben. Jedenfalls kenne ich keine, die
mich… äh…«, Patrik zögerte plötzlich und
öffnete seine Augen weit.
»Aha«, lachte sie laut
auf, als sie den Grund seines Stutzens erkannte, »jetzt aber ist bei dir
der Penny gefallen! Du hast es begriffen, jedenfalls erahnst du das
Vorhaben.«
»Du meinst«, stotterte er, »ich
sollte …«
»Ja«, stieß sie es
inbrünstig heraus, »dein Feind ist der Tumor. Bekämpfe ihn ohne
Gewaltanwendung. Nutze dein Gedankenpotential, teile ihm dein und sein Schicksal
mit.«
Patrik war völlig sprachlos, er brachte nicht ein
einziges Wort heraus. Man merkte ihm an, diese Erkenntnis musste er verarbeiten
und das vollzog sich nicht auf der Stelle. Deshalb schaute er sie wieder ratlos
an, sie aber schien ihn gerade nicht zu beachten und überließ ihm
allein das Problem. Eine Minute später erhob sie sich und spazierte leicht
beschwingt den Parkweg entlang. Er folgte ihr, hatte aber in der Aufregung seine
Tasche vergessen und musste umkehren, um sie zu holen. Als er Neila dann
nacheilte, stellte er ihre schwingende Art sich zu bewegen fest. Sie lief vor
ihm so leichtfüßig, als würde sie schweben. Das schien bei ihr
alles irgendwie anders zu sein. In seinem großen, weiblichen Freundeskreis
befand sich keine, die in irgendeiner Form Ähnlichkeiten mit ihr aufwies.
Als er sie endlich mit großen Schritten eingeholt hatte, rief er sie
burschikos an.
»Neila!«
Sie blieb stehen
und sah sich um. Die Sonne war am Himmel verschwunden, deshalb irritierte ihn
zum wiederholten Mal ihre wechselnde Augenfarbe. Stahlblau blickte es aus ihren
Augenhöhlen, dennoch verlor er bei seiner Frage nicht den Faden.
»Wie kann ein Mensch gegen etwas kämpfen, das er weder sieht noch
hört?«
Sie ließ ihn an sich herankommen und trat
dann dichter auf ihn zu bis nur wenige Zentimeter ihre Gesichter trennten. Sie
legte behutsam Zeige- und Mittelfinger von jeder ihrer beiden Hände links
und rechts an seine Stirn. Er wich diesmal nicht dem stahlharten Blick ihrer
Augen aus, konnte es wohl auch offensichtlich gar nicht. Er schien wie gebannt.
Dann schrie er auf, ein furchtbares Stechen zog wie ein Messerstich durch sein
Gehirn. Seine Tasche klatschte auf den Kies, seine Hände durchgruben seine
Haare, als würden sie den Schmerz zu vertreiben versuchen. Endlich, der
Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war. Seine Augen waren durch
diesen Vorgang glasig feucht geworden und Tränen kullerten ihm aus den
Augen direkt zur Oberlippe herunter.
»Wenn du ein Verlangen
nach ihm hast«, lächelte sie ihn an, »dann kannst du dir seine
Gestalt im Krankenhaus per Kernspintomographie zeigen lassen. Und dass er sich
bemerkbar machen könnte, wenn er das wollte, hast du eben gespürt. Er
ist da, und eines Tages wird er dir diesen Schmerz tagtäglich
präsentieren. So merke dir: Alles, was existent ist, ist auch
bekämpfbar. Über Erfolg oder Misserfolg entscheidet aber stets das
‚Wie‘.«
Sie drehte sich wieder weg von ihm und
ging weiter. Er folgte ihr, ließ aber wiederum seine Tasche liegen. Als er
sie ein weiteres Mal durch Zurückeilen geholt hatte, erteilte sie ihm
weitere Ratschläge in ihrer gewohnten, ruhigen Art.
»Um
einem schier unbezwingbaren Feind optimal zu begegnen, musst du dich zuerst mit
ihm verbünden, das bedeutet, du musst ihn zu deinem Freund machen...«
Patrik wollte etwas einwenden, sie unterbrechen, aber sie zuckte
mit dem Kopf herum und traf ihn mit stechendem Blick. Er brachte kein Wort
heraus, ihm war, als hätten sich bei ihm Unter- und Oberlippe miteinander
verklebt.
»…so etwas gelingt nur mit Diplomatie
und diese hat den Grundsatz, dass man miteinander spricht. Und das wirst du, -
das musst du tun! Jeden Morgen und jeden Abend, immer wieder, immer
ausführlicher, immer tiefer, immer eingehender und stets unter einer
geordneten Sachlichkeit und dem Wunsch zum Leben!«
Er nickte nur und fand sich dazu jetzt dazu in der Lage sich zu
äußern. Endlich hatte sie von ihrem festen, strengen Blick
abgelassen, Patrik konnte wieder freier atmen.
An diesem Tage gab
sie ihm noch einige Hinweise und teilte ihm mit, dass er bei den täglichen
Konversationen mit dem Tumor nie die Diskussionsbasis verlassen darf, die darauf
beruht ‚dem Freund‘ im Hirn klarzumachen, dass er sich selbst
umbringt, würde er seine bösartige Existenz nicht verändern.
Schlussendlich versprach sie ihm, dass sie an jedem Montag hier an dieser Stelle
auf ihn warten würde. Dafür gab er ihr mit seiner Hand auf dem Herzen
das Versprechen, sie niemals zu verfolgen und mit niemanden über sie zu
sprechen. Als er ihr das Versprechen gab, verschwand sie.
Patrik
traf sie jeden Montag und berichtete, wie lange und intensiv er mit seinem Tumor
vor dem Frühstück und vor dem Einschlafen am Abend gesprochen hatte.
Sie war zufrieden und gab ihm jedes Mal weitere, neuere Anweisungen, wie und was
er seinem Freund im Hirn mitzuteilen habe. Als sie sich zum vierten Male trafen,
teilte sie ihm mit, dass nunmehr ihre letzte Anweisung folgen wird und sie
wieder zurück in die Heimat gehe. Er versprach den Dialog mit seinem Tumor
weiter für sechs Monate aufrecht zu erhalten, er bestätigte ihre
Anweisung kontinuierlich so weitermachen, dass er dem Tumor über die
Schönheiten des Lebens, über die Liebe und über alles Positive
seiner Vergangenheit berichten soll. Sorgen jeder Art hat er zu ignorieren und
als Dinge zu betrachten, die sich von selbst erledigen. Sie wusste, dass nun am
heutigen Montag der verschobene Termin im Krankenhaus wieder fällig sei.
Sie umarmte ihn kurz und war schnell von der Bildfläche verschwunden.
Patrik meinte noch an ihren hellblauen Augen eine Freudenträne gesehen zu
haben, war sich aber nicht sicher und tat das später als Einbildung ab.
Nach dem Untersuchungstermin im Krankenhaus war die Überraschung
bei den beteiligten Ärzten erheblich größer als bei Patrik. Bei
dem Tumor deuteten verschiedene Anzeichen auf ein Degenerieren hin und das
erschien ungewöhnlich ohne vorgenommene, medizinische Maßnahmen.
Patrik hielt sich strikt nach den Anweisungen und vereinbarte jeden 4. Montag
einen weiteren Untersuchungstermin bis die sechs Monate vorbei waren. Dann war
sein Freund im Gehirn verschwunden. Den letzten Bericht erhielt er
schließlich beim Hausarztbesuch mündlich. Es war die Reaktion der
ärztlichen Stellungnahme nach dem letzten stationären Aufenthalt einer
Gesamtuntersuchung im Krankenhaus:
Für Spontanremissionen
gibt es verschiedene mögliche Ursachen. So könnten zum Beispiel
durchaus hormonelle Veränderungen für das plötzliche Verschwinden
des Tumors verantwortlich zeichnen. Denkbar ist auch, dass eine Reaktion des
Immunsystems den Krebs hat verschwinden lassen. Wenn sich ein Krebspatient mit
einer anderen Erkrankung infiziert, was zwischendurch mit einer Bronchitis
gegeben war, kann es auch zu einer Spontanremission kommen. Möglicherweise
bekämpft die Immunabwehr dann nicht nur die Krankheitserreger der
Infektion, sondern auch die Krebszellen, die normalerweise für das
Immunsystem unsichtbar sind. In diesem Fall trat auch eine ungenügende
Versorgung des Tumors von den umliegenden Blutgefäßen auf. Er
versorgte sich nicht mehr ausreichend mit Nährstoffen und Sauerstoff. Ein
Tumor wächst nur, wenn er eigene Blutgefäße bildet. Macht oder
kann er das nicht, aus welchem Grund auch immer, dann stirbt er ab.
Der Tumor kam nie wieder. Auch Neila nicht.
Er trauerte ihr nach
und glaubte, dass sie aus dem Paradies gekommen sei. So sprach er immer von
‚seinem Mädchen aus dem Paradies‘. Er wollte sie nicht
vergessen, so schrieb er in Gedanken versunken beim Lesen eines Buches ihren
Namen auf das Lesezeichen, um an sie erinnert zu werden. Als er eines Abends im
Garten das letzte Kapitel im Buch beendet hatte und das Lesezeichen entnahm, las
er wieder ihren Namen. Diesmal aber kam ihm urplötzlich die Idee, den Namen
rückwärts zu lesen. Er lächelte mit einer Träne im Auge und
blickte zum Himmelszelt hoch.
»Eines Tages werde ich dich
wiedersehen, Neila!«
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.12.2021.
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