Heinz-Walter Hoetter

Wieder drei Kurzgeschichten

1. Maria
2. Der Berggeist
3. Story of Eth





1. M A R I A

 

Das Fenster stand offen und von draußen kam der Geruch einer frisch gemähten Wiese herein.

Maria lag auf ihrem breiten Bett und schloss die Augen. Draußen braute sich ein Unwetter zusammen. Ganz plötzlich fing es an zu regnen. Dann setzte ein Donnergrollen ein. Blitze zuckten vom Himmel. Der Regen trommelte wie wild oben aufs Dach, und die junge Frau spürte auf einmal die warmen Hände ihre Freundes Marlon, der zu ihr ins Bett gekommen war.

Maria hatte schon lange sein Begehren gespürt. Er berührte sie jetzt am ganzen Körper und für beide gab es nun nichts mehr zu verbergen.

Maria rollte sich auf den Rücken, zog Marlon zu sich heran und nahm ihn ganz fest in die Arme. Sie entkleideten sich schließlich und liebten sich wortlos in der aufkommenden Dunkelheit der Nacht, in der ein Gewitter tobte.

Später fiel Marlon in einen tiefen Schlaf. Er hatte den rechten Arm um Marias Taille geschlungen und sich ganz dicht an seine wunderschöne Freundin geschmiegt. Sie dagegen spürte seinen warmen Körper und wie sein Herz ruhig und gleichmäßig pochte.

Die junge Frau lauschte auf das Geräusch des herab prasselnden Regens, der unaufhörlich auf das Dach fiel.

Maria lag noch eine Weile so da, bis sie selbst plötzlich einschlief und zu träumen begann.

Sie träumte, dass sie weit über der Erde schwebte. Trotzdem konnte sie alles klar und deutlich erkennen. Ihr Haus schien aus Glas zu sein. Alles darin hatte klare Strukturen. Und während sie so zusah, dehnten sich auf einmal die Strukturen unter ihr in die Zukunft aus. Sie sah Kinder im Haus spielen, die ihre waren. Sie ahnte die viele Arbeit, die auf sie zukommen würde, aber sie spürte auch die Liebe, die von Marlon und ihren zukünftigen Kindern ausstrahlte. Ein unumkehrbarer Wandel kündige sich an. Sie hatte sich endgültig für ein neues Leben entschieden. Der Traum endete so abrupt, wie er begonnen hatte.

Maria wachte für einen kurzen Moment auf. Kühle Luft strich über ihre geröteten Wangen. Sie zog die wärmende Decke höher. Sie spürte Marlons regelmäßigen Atem in ihrem Gesicht. Er murmelte etwas in sich hinein, was sie aber nicht verstand. Scheinbar träumte auch er.

Egal wie warm der Augenblick auch für beide war oder wie zuverlässig sein Herz schlug, sie konnte nicht verstehen, dass eines Tages Marlons Herz irgendwann stillstehen bleiben würde, denn Menschen waren nicht von Dauer und keines dieser sterblichen Geschöpfe, die sich Menschen nannten, lebte ewig.

Das war bei ihr ganz anders. Sie war ein unsterbliches Wesen, das aus den tiefen des Alls auf die Erde gekommen war und sich in eine schöne junge Frau verwandelt hatte. Den Namen Maria fand sie rein zufällig in einem Buch, das sich Bibel nannte, welches sie kurz nach ihrer Ankunft auf der Erde in einem verlassenen Haus entdeckte. Bald darauf mischte sie sich unauffällig unter die Menschen und begann sich an sie zu gewöhnen.

Sie drehte sich jetzt nach Marlon um und schaute ihm ins Gesicht. Sie fühlte sich wohl in der Nähe dieses Erdenmannes, der groß und kräftig war wie ein gut trainierter Athlet. Sie kannten sich schon länger. Sie spürte schon bald, wie er sie über alles liebte. Das war es, wonach sie als unsterbliches Wesen immer wieder suchte. Deshalb war sie bei ihm geblieben und wollte alles mit ihm zusammen teilen und erleben. Nichts würde sie auslassen wollen, auch leidvolle Erfahrungen nicht.

Doch gleichzeitig begriff sie auch, dass jeder Augenblick mit Marlon die einzige Unsterblichkeit war, die sie mit ihm teilen würde, und sie war froh, diesen Augenblick zu haben, denn mehr brauchte sie nicht.

Nach einer Weile schlief Maria wieder ein, und sie träumte von den unzähligen Welten, auf denen sie schon in ihrem unsterblichen Leben war, dort draußen in der Unendlichkeit von Raum und Zeit.



(c)Heinz-Walter Hoetter


 

 

 

***

 

 

2. Der Berggeist


 


 

(Oder die fantastische Geschichte des Mr. Walter Woodstock und seiner Frau Franzis)

 

Die frische Luft hier oben in den Bergen einatmen zu können, war für Mr. Walter Woodstock jedes Mal die reinste Wohltat. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er aus beruflichen Gründen immer in irgendwelchen Großstädten gelebt, doch ein oder zwei Mal im Jahr machte er ausgiebig Urlaub auf seiner abgelegenen Gebirgshütte aus unbehandelten, kernigen Kiefernholzbrettern, die im Laufe der vielen Jahrzehnte durch die harten, permanent einwirkenden Witterungseinflüsse hier oben gelblichbraun verfärbt worden waren. Auf diese Weise hatte sich die alte Hütte immer unauffälliger der übrigen Berglandschaft angepasst.

Trotzdem wollte der Großstadtmensch Walter Woodstock nicht auf die schönen Annehmlichkeiten verzichten, welche ihm das Leben in einer modernen Zivilisation so bot. Auf seiner Hütte befanden sich deshalb ganz alltägliche Einrichtungsgegenstände wie ein elektrischer Kühlschrank, ein kleiner Gasherd mit zwei Kochplatten, eine spartanisch eingerichtete Dusche mit Warmwasser aus dem Boiler und zwei weiche Federkernmatratzen auf den Betten in einem viel zu engen Schlafzimmer. In einem kleinen Abstellraum im hinteren Teil des staubigen Hofes stand sogar ein Diesel betriebenes Stromaggregat.

Mr. Woodstock hockte auf der hölzernen Bettkante und knüpfte sich gerade die Bänder seiner alten, klobig aussehenden Wanderschuhe zu. Dann stand er prustend auf, stülpte sich einen schmierigen braunen Filzhut auf den Kopf und zog sich eine wasserdichte Regenjacke über. Schließlich stopfte er sich noch mehrere Schokoriegel und eine Schachtel Zigaretten in die Taschen, bevor er seinen röhrenförmigen Angelkasten mit den verschiedensten Utensilien sowie den Forellenkorb ergriff und Anstalten machte, die Berghütte zu verlassen.

Wie lange wirst du wegbleiben, Walter?“ fragte plötzlich eine verschlafene Frauenstimme aus dem Hintergrund.

Ich hab’s mir schon fast gedacht. Jetzt kommt wieder der übliche Dialog“, murmelte der achtundsechzigjährige Mann mürrisch vor sich hin und blieb in der Nähe der Tür wie angewurzelt stehen. Er wusste genau, was er sagen würde, und ebenso wusste er, was seine Frau Franzis darauf regelmäßig zur Antwort gab. Das Spielchen lief mit der Unvermeidlichkeit des Schicksals ab.


Schatz“, antwortete Mr. Woodstock mit freundlich aufgesetzter Mine und drehte seinen Kopf ein wenig zur Seite. „Ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich wieder zurückkommen.“


Kannst du mir wenigstens sagen, wohin du gehst?“

Aber natürlich. Ich gehe am Fluss entlang hinauf zu dem Bergsee. Wird eine anstrengende Kraxelei. Wenn du willst, kannst du gerne mitkommen. Ich würde draußen vor der Hütte auf dich warten, Liebling.“

Ich glaube nicht, dass mir das was bringt. Da oben gibt es für mich sowieso nicht viel zu tun. Ich würde mich bestimmt nur langweilen. Geh’ alleine, Walter! Ich werde schon etwas finden, womit ich mich beschäftigen kann. Vielleicht spaziere ich runter in die Stadt und besorge uns was zu lesen“, antwortete seine Frau Franzis, legte sich auf die Seite und verschwand wieder mit ihrem schwarz behaarten Lockenkopf unter der warmen Bettdecke.

Ja Franzis, tu das. Ich halte das für eine gute Idee.“

Der Mann seufzte, ging durch den angrenzenden Wohnraum hinüber zur Tür, öffnete sie und trat hinaus ins Freie.

Es war früh am Morgen. Draußen wehte ein leichter Wind, aber es war kalt und für einen kurzen Augenblick nahm ihm die Kälte den Atem. Die langsam aufgehende Sonne versteckte sich hinter den grauen Wolken und der alte Woodstock spürte noch ganz deutlich die Nacht, die Sterne und die unendliche Stille hier oben in den Bergen, die ein Vorhof der Ewigkeit zu sein schienen.

Mit bedächtigen Schritten marschierte er hinüber zu seinem wuchtigen Jeep, der neben der Hütte auf dem steinigen Bergweg stand. Der Motor des Geländewagens sprang erst nach dem dritten Versuch an – wie immer, wenn er die ganze Nacht im Freien verbracht hatte. Vielleicht lag es am Vergaser, der für Fahrten im Gebirge wohl nicht richtig eingestellt war, dachte sich Mr. Woodstock und setzte das Fahrzeug langsam in Bewegung. Der holprige Bergweg war etwa einen Kilometer lang, fiel leicht nach unten ab und mündete an seinem Ende in eine gut ausgebaute Bergstraße, auf der allerdings nur wenig Verkehr herrschte. Bog man nach rechts ab, kam man in die nah gelegene Stadt namens Mountain City, die etwa neun Kilometer entfernt in einem tiefen Tal lag.

Mr. Woodstock lenkte seinen schweren Jeep genau in die andere Richtung, nämlich nach links, wo es hinauf in die Berge ging.

Mit eintönigem Brummen verließ der Geländewagen den schmalen, holprigen Bergweg, setzte seine Fahrt auf der geteerten, zweispurigen Gebirgsstraße fort und überquerte nach etwa zwei Kilometer eine kleine steinerne Bogenbrücke, hinter der, keine fünfzig Meter weiter, eine wenig befahrene Nebenstraße abzweigte, die in unmittelbarer Nähe eines reißenden Flusses entlang führte, der Stanton River hieß.

Wasser des Flusses war smaragdgrün. Seine Ufer waren von grünem Buschwerk und vielfarbigem Kiesel begrenzt. Mr. Woodstock öffnete das Fenster und konnte trotz des laufenden Dieselmotors das eisige Wasser neben der Straße sanft rauschen und plätschern hören. Aber er kannte den Stanton River; er war ein schneller, tiefer und reißender Fluss.

Der Alte verließ nach einer Weile die Flussstraße und gelangte an einen gewundenen Pfad, der direkt nach oben in die Berge führte. Er parkte den Jeep zwischen zwei dicht stehenden Büschen, öffnete die Tür und kletterte hinaus. Dann klaubte er seine Ausrüstung auf und ging mit weit ausholenden Schritten den schmalen Bergpfad entlang, der sich neben dem weiß schäumenden Wasserstrom weiter in die Berge hinauf schlängelte. Neben einem Felsstück lag eine verrostete Konservendose als Zeichen dafür, dass diese abgelegene Stelle schon mal von einem Menschen betreten worden war. Er selbst hatte sie vor einer Woche aus Unachtsamkeit dort liegen gelassen. Es wird nicht wieder vorkommen, dachte sich der alte Mann und ging bedächtigen Schrittes weiter.

Die meiste Zeit verlief der Fluss zu seiner rechten. An einigen Stellen musste er ihn überqueren, weil Felsen und umgefallene Bäume den Weg versperrten. Zum Glück war das Wasser meistens nicht sehr tief, dafür war es aber eiskalt und seine Bergschuhe quietschten wie alte Gummireifen bei jedem Schritt, wenn sie nass wurden.

Walter Woodstock wusste, dass der Stanton River eine Menge Forellen barg, deren Flossen mit den quirligen Wellen spielten und die in den dunklen schattigen Tümpeln flink und schnell hin und her schwammen. Sie waren manchmal so zahlreich, dass er damit rechnen konnte, mehr als neun oder zehn von ihnen zu fangen, wenn er nur lange genug da blieb. Aber für diesen Tag hatte er sich insgeheim mehr vorgenommen.

Nur wenige Urlauber wussten, dass über der Baumgrenze ein versteckter Bergsee lag, der von schmelzendem Eis gespeist wurde, und genau dort waren die Forellen besonders zahlreich, aber auch besonders hungrig. Die Forellen in diesem See unterschieden sich in ganz erheblichem Maße von den meist trägeren Zuchtfischen, die in die leicht erreichbaren Ströme geworfen und wieder von Anglern und Fischern gefangen wurden, bevor sie überhaupt ihr geschenktes Dasein in der freien Natur richtig ausleben konnten.

Der See lag in einer Höhe von mehr als 3800 Meter und deshalb kamen hier so gut wie nie irgendwelche Sonntagsangler her. Der enorm steile Weg war ihnen zu beschwerlich.

Mit keuchenden Schritten stieg Mr. Woodstock in gleichmäßigem Tempo auf.

Er wusste, dass sein Arzt ihm derartige Aufstiege verboten hatte, aber er kümmerte sich nicht darum. Er wusste auch, dass er noch lange nach dem Abstieg später todmüde sein würde; aber er ließ sich davon nicht abhalten. Er war eben ein alter, sturer Dickkopf, der sich so schnell von niemandem etwas sagen ließ, auch von seinem Doktor nicht.

Die Sonne versteckte sich immer noch hinter einer grauen Wolkenbank. Ohne sich irgendwo lange aufzuhalten, war sich der alte Woodstock trotzdem der herrlich aussehenden Umgebung bewusst. Überall standen dunkle Kiefern und vereinzelte Gruppen von Espen, deren schlanke, weiße Äste hell schillerten, wenn sie von einem hervorschießenden Sonnenstrahl aus der dichten Wolkendecke getroffen wurden. Überall flogen Insekten herum und der sanfte Wind, der durch die hohen Bergbäume strich, ließ ihre Wipfel wie mahnende Zeigefinger hin- und herwogen.

Ach, wenn ich doch für immer hier herkommen und an diesem schönen Ort leben könnte, dachte der alte Mann so für sich, schaltete aber gleich wieder die Vernunft ein: Im Winter wäre es in den Bergen keinesfalls angenehm, da man in dieser Abgeschiedenheit jämmerlich erfrieren würde, wenn man in Gefahr geriete. Und damit hatte er Recht. In dieser harten Gebirgswelt hier oben konnte auf Dauer kein Mensch überleben, schon gar nicht, wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hatte. Im Tal weiter unten war das schon eher möglich. Aber dort wollte Mr. Woodstock auf keinen Fall die letzten Jahre seines verbleibenden Lebens verbringen.

Zügig und mit stoßendem Atem stieg Mr. Woodstock weiter den Pfad hinauf. Kurze Zeit später hatte er die Baumgrenze erreicht und der schmale Weg wand sich durch Felsblöcke und dichtes Gestrüpp weiter nach oben. Der Fluss war jetzt nur noch ein paar Meter breit, stürzte dafür aber umso heftiger tosend und mit großer Fließgeschwindigkeit talabwärts.

Endlich hatte der Alte den einsam da liegenden Bergsee erreicht, der allerdings nicht besonders eindrucksvoll aussah. Er war glatt, fast rund und hatte einen Durchmesser von ungefähr fünfzig oder sechzig Meter. Mittlerweile war an einigen Stellen die Wolkendecke aufgerissen, sodass die Sonne ihre Strahlen zur Erde schicken konnte. Auch hier war das Wasser smaragdgrün. Nur wenige Stellen, die im Schatten der Felsen lagen, wirkten schwarz. Im Hintergrund lag auf den hoch aufragenden Berggipfeln noch eine Menge Schnee, der jetzt im Licht der hellen Sonne besonders weiß glänzte.

Hier oben war es so still, als wäre die Welt erst vor wenigen Augenblicken geschaffen worden. Die Schöpfung war noch ganz frisch, sauber, rein und neu.

Schließlich traf Walter Woodstock seine Vorbereitungen für den bevorstehenden Forellenfang. Er setzte sich auf einen kleinen Felsen. Sein Körper zitterte plötzlich ein wenig vor Kälte, als er zur Ruhe kam. Er wünschte sich, dass die dunkle Wolkendecke noch mehr aufreißen oder sich am besten ganz verziehen würde, obgleich, soviel er wusste, das Sonnenlicht zum Angeln nicht günstig war.

Als er die Angelrute ins ruhige Seewasser plumpsen ließ und so still wie möglich da saß, schien die Welt um ihn herum im Nichts zu versinken. Er vergaß alles andere, auch das Versprechen seiner Frau Franzis gegenüber, bald wieder zurück zu sein.

Nach und nach füllte sich der Korb neben ihm mit prächtigen Forellen. Die Zeit schien für ihn nicht mehr zu existieren. Doch unbemerkt war die Sonne ganz überraschend wieder verschwunden, die grauen Wolken über ihn nahmen an Dichte zu.

Mit einem Schlag kam ein heftiger Sturm auf, der den einsamen Angler am See mit lähmender Plötzlichkeit traf. Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der kleine Bergsee in einen brodelnden Mahlstrom. Die Kälte nahm zu und Walter Woodstocks Hände wurden klamm und gefühllos, sodass er sie fast nicht mehr bewegen konnte.

Dann schlugen auch noch Hagelkörner aus den pechschwarzen Wolken. Es waren runde, schwere Eiskugeln, die auf ihn einstürzten, auf die umliegenden Felsen krachten und klatschend auf das Wasser prasselten. Man hätte den Eindruck haben können, die Welt ginge unter.

Zuerst hatte der alte Woodstock keine Angst. Im Gegenteil. Er war nur leicht über den heftigen Wetterumschwung verärgert, weiter nichts. Er steckte die Angelrute ein und ging zu seinem Lagerplatz, wo er die übrigen Sachen abgelegt hatte.

Der Hagel wurde noch schlimmer. Jetzt wurde es auf einmal gefährlich. Der alte Mann stand aufrecht in der Gegend, um eine möglichst kleine Zielscheibe zu bieten. Mit der rechten Hand hielt er seinen Filzhut fest.

Auch der Sturm wurde noch stärker. Der heftig Wind blies ihm die Hagelkörner mitten ins Gesicht. Mr. Woodstock schaute mit halb zugekniffenen Augen verzweifelt um sich. Aber nichts Tröstliches war zu sehen. Die zerklüfteten Felswände waren vom herab prasselnden Hagel zugedeckt worden, und die schöne Bergwelt, die er vor ein paar Stunden noch bewundert hatte, bot nun einen furchterregenden Anblick. Er sah auf die Uhr; es war schon fast Mittag. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

Mr. Woodstock überlegte. Unter diesen schlechten Wetterbedingungen brauchte er mindestens zwei Stunden bis zu seinem Geländewagen. Aber vielleicht lies der Hagel ja bald nach, dachte er sich und drehte seinen Rücken gegen den Wind. Trotz der widrigen Umstände gelang es ihm, sich eine Zigarette anzuzünden. Walter Woodstock war schlecht gelaunt, als er sich innerlich gestehen musste, dass die Zivilisation trotz allem ihre Vorteile hatte.

Nach der Zigarette kramte er so gut es ging seine Sachen zusammen und marschierte zum Pfad zurück. Der Hagel prasselte noch heftiger auf ihn herab, anstatt nachzulassen. Es war kaum etwas zu erkennen. Ein Gefühl von Panik kam in dem alten Mann hoch. Er war ja nicht mehr der Jüngste, der mit seinen Kräften verschwenderisch umgehen konnte.

Beruhige dich!“ sagte er zu sich selbst, um sich Mut zu machen. Mühsam versuchte er sich zusammenzunehmen.

Die Sicht wurde immer schlechter. Der Flusslauf neben dem schmalen Weg war kaum noch zu sehen. Wenn die Wolken nicht aufrissen, würde es in wenigen Stunden stockdunkel sein.

Wieder beschleunigte der alte Woodstock seine Schritte. Dann rutschte er plötzlich aus und fiel kopfüber auf den Boden. Zum Glück landete er im drahtigen Buschwerk und zerkratzte sich dabei nur ein wenig das ungeschützte Gesicht. Mühsam rappelte er sich wieder hoch und ging vorsichtig weiter.

Dann blieb er stehen, hielt seine Hand schützend über die Augen und versuchte, irgendeine Zuflucht zu erspähen.

Da! War da nicht was?

Ein Felsdach direkt neben dem Pfad, das ihm Schutz bieten konnte. Walter Woodstock stellte seine Sachen ab und kletterte trotz Hagel und Wind die schräge Felswand hinauf. Ich muss da hin, koste es, was es wolle. Lange wird die Regenjacke nicht mehr das viele Wasser abhalten können, dachte er und strebte zäh seinem schützenden Ziel entgegen. Der stechende Hagel schlug ihm ins Gesicht, der Filzhut wurde ihm heruntergerissen und flog davon. Woodstock fluchte deshalb wie ein Landsknecht.

Endlich!

Fast hatte er den überhängenden Felsen erreicht, der unterhalb davon wie eine Nische geformt war. Noch eine letzte, kurze Anstrengung, dann schwang er sich hinein und setzt sich erst einmal erschöpft in die Hocke.

Der Wind erreichte ihn zwar immer noch, aber vor dem Hagel und der Nässe war er jetzt geschützt. Er bückte sich noch tiefer herab, bis ans Ende des Felsenschutzes.

Da!

Im nächsten Moment erspähte er eine oval geformte Öffnung, die gerade groß genug war, seinen Körper durchzulassen.

Hatte er etwa rein zufällig den Zugang zu einer Höhle gefunden? Dem alten Woodstock war das momentan egal. Er holte tief Luft, tastet mit beiden Händen die kalten Steinwände ab und zwängte sich mit eingezogenem Bauch durch den offenen Spalt ins Innere des Felsens.

***

Drinnen war es zu dunkel, um etwas deutlich erkennen zu können. Langsam tastete sich Mr. Woodstock weiter vor, blieb aber dann doch abrupt stehen, um in der Jackentasche nach seinen Streichhölzern zu suchen. Er wollte sich nicht leichtsinnig in Gefahr bringen. Als er die Streichholzschachtel endlich in einer wasserdichten Plastikhülle gefunden hatte, zündete er ein Streichholz an und schaute sich um. Es musste wohl eine Art Höhle sein, überlegte er; obgleich die Decke ziemlich niedrig war, konnte er nur an einer Seite etwas ausnehmen. Keine fünf Schritte vor ihm nahm er außerdem ein metallisches Glänzen wahr – vielleicht eine Erzader oder etwas ähnliches, dachte sich der Alte und ging langsam im flackernden Lichtschein weiter.

Das Streichholz verglomm. Sofort zündete er ein neues an.

Stück für Stück tastete er sich vor. Vielleicht bin ich ja der erste Mensch, der diese Höhle jemals betreten hat, dachte Mr. Woodstock und starrte in die Dunkelheit hinein. Normalerweise würde ihm dieser Gedanke sogar ein leichtes Vergnügen bereiten, wenn die Umstände anders gewesen wären, aber im Augenblick fühlte er sich nicht besonders gut, um von seiner Entdeckung beeindruckt zu sein. Seine klobigen Wanderschuhe waren mittlerweile durchnässt, die Kälte kroch ihm langsam unter die Haut. Außerdem gab es nichts in der Höhle, womit er ein Feuer machen konnte.

Er blieb wieder stehen und lauschte. Der winzige Lichtschein flackerte unruhig auf und ab. Draußen vor der Höhle jaulte und tobte nur wenige Meter von ihm entfernt der Sturm mit eisiger, durchdringender Wildheit.

Das Streichholz brannte ab, das Licht erschloss abermals. Wieder wurde es dunkel um ihn herum.

Mr. Woodstock hatte an alles gedacht, nur an eine Taschenlampe nicht. Er war deshalb etwas verärgert. Dann kramte er nach seinen Zigaretten, die er schließlich irgendwo in einer der Brusttaschen fand und zündete sich eine an. Der Rauch wärmte ihn ein wenig, zumindest bildete er sich das ein. Walter Woodstock überlegte, während er so vor sich hinrauchte, was er tun sollte.

Er stieß mit seinem rechten Fuß gegen einen großen Felsbrocken, der direkt vor ihm lag. Der Alte setzte sich vorsichtig drauf und blies den Rauch seiner Zigarette in die Dunkelheit hinein. Zwischendurch nahm er eine von diesen Grippetabletten ein, die er stets bei sich trug. Man konnte ja nie wissen, dachte er so für sich und schluckte sie ohne einen Tropfen Wasser runter.

Walter Woodstock wurde müde.

Er rutschte mit seinem Hintern auf den nackten Felsbrocken hin und her um eine etwas bequemere Lage zu finden, musste aber bald feststellen, dass der Felsen überall gleich spitz und scharf war. Deshalb rollte er sein großes Taschentuch als Kissen zusammen, setzte sich vorsichtig drauf und schloss für einen Moment die Augen...

Draußen heulte unablässig der Sturm. Der Hagel hatte jetzt fast ganz nachgelassen, dafür regnete es noch ein wenig. Ab und zu schlugen hier und da ein paar Tropfen auf, dann wurde es schlagartig ruhig vor der Höhle. Plötzlich fiel fahles Mondlicht durch den schmalen Spalt, von wo aus er gekommen war und erfüllte den felsigen Raum mit einem geisterhaften, silbrigen Schein.

Der alte Woodstock saß bewegungslos auf dem nasskalten Gestein. Die Zigarette glimmte langsam vor sich hin. Die Welt da draußen schien sich immer weiter von ihm zu entfernen. Wieder übermannte ihn eine bleierne Müdigkeit.

Plötzlich ließ ihn ein Geräusch hochfahren. Ein metallisches Klicken, kurz und gedämpft, machten ihn wieder hellwach. Etwas befand sich mit ihm zusammen in der Höhle. Er hielt den Atem an und suchte angestrengt mit seinen Augen, so gut es eben ging, in der schummrigen Dunkelheit die glitzernden Felswände ab.

Wieder so ein komisches Geräusch. War es wohlmöglich ein Tier? Es hörte sich so an, als ob jemand mit seinen Fingernägeln kratzend über eine Schiefertafel streicht.

Wieder versuchte der Alte, die Dunkelheit mit dem starren Blick seiner Augen zu durchdringen, aber es war zu wenig Licht vorhanden und die Umrisse verschwanden umso mehr, je länger er in die Dämmerung blickte. Mit einmal gab es für Woodstock keine Sicherheit mehr. Er fühlte sich hilflos und dem Schrecken einer urtümlichen Dunkelheit ausgeliefert.

Langsam ließ er sich deshalb von dem Felsbrocken gleiten und kroch vorsichtig zum Höhlenausgang. Nur raus hier, war sein einziger Gedanke. Gerade, als er sich durch den schmalen, ovalen Spalt ins Freie zurück zwängen wollte, hörte er hinter sich wieder dieses seltsame Geräusch.

Mr. Woodstock schaute über seine Schulter nach hinten, obwohl er das eigentlich nicht wollte, aber seine verdammte Neugier war größer, als seine Angst.

Irgend etwas öffnet sich.

Dann sah er eine Gestalt, die aus dem Loch hinten in der Höhle kam. Sie war groß und musste sich bücken, um nicht an die Decke zu stoßen. Das Gesicht des unbekannten Wesens sah aus wie ein Leichentuch. Es hatte Augen, sehr große Augen sogar. Es blickte zu dem kriechenden Woodstock hinüber und kam langsam auf ihn zu.

Der alte Mann konnte plötzlich an nichts mehr denken, sein Gehirn war wie paralysiert. Aber seine Muskeln reagierten automatisch, und er warf sich mit allerletzter Kraft, die er jetzt noch aufbringen konnte, aus der Höhlenöffnung nach draußen und rollte im nächsten Moment über den Felsenabhang hinunter in die Tiefe. Benommen blieb er unten auf dem Pfad liegen, den er im Hagelsturm verfehlt hatte, rappelte sich aber sofort wieder auf und lief in Richtung Fluss, der jetzt vom Regen hoch angeschwollen war. Er erreichte das tosende Wasser, das im silbrigen Mondlicht fast schwarz wirkte. Mr. Woodstock keuchte und schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen. Fast wäre er ausgerutscht und in die brausenden Fluten gestürzt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig an ein paar dünnen Ästen festhalten und zurück hangeln. Nochmals warf er einen Blick nach hinten. Er konnte aber nichts in der vom fahlen Mondlicht getränkten Umgebung sehen. Außer dem Raunen des Windes und des vorbeitosenden Flusswassers war kein anderes Geräusch zu hören. Vorsichtshalber nahm er einen scharfkantigen Stein in die Hand, den er als Waffe benutzen wollte, wenn ihn jemand angreifen würde. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Pfad zu und stieg vorsichtig weiter hinab. Wenn er nur erst bei den Bäumen wäre! Dort könnte er sich vielleicht sogar verstecken!

Schüttelfrost erfasst seinen geschundenen Körper. Eine schreckliche Angst stieg in ihm hoch. Er hatte das Gesicht eines fremden Lebewesens in der Höhle gesehen, daran bestand kein Zweifel. Es war kein Traum oder eine Halluzination gewesen, und er war auch nicht verrückt. Er musste sich auch nicht unbedingt in den Arm kneifen, um sich zu beweisen, dass er in der Wirklichkeit zuhause war. Seine Sinne hatten ihm keinen Streich gespielt. Eine unbekannte Kreatur hielt sich dort in der Höhle auf und war ihm sogar gefolgt. Der Kerl, wenn man ihn als solchen bezeichnen wollte, war ziemlich groß gewesen, vielleicht war er ein Irrer, der sich in dieser unwirtlichen Gegend herumtrieb. Am besten wäre es wohl, wenn er Hilfe herbeiholen und bei Tageslicht nachschauen würde, was da oben vor sich ging.

Wieder hörte er von irgendwo her ein Geräusch. Waren es Schritte, die am Boden liegende kleine Äste und Zweige zertraten? War es der tosende Fluss oder ein Tier, das durch den Wald schlich?
Mr. Woodstock konnte es nicht sagen. Er war im Augenblick etwas durcheinander. Er beschleunigte daher seine Schritte und versuchte vom Ort des Schreckens so schnell wie möglich weg zu kommen. Den Stein hielt er fest umklammert. Abwärts ging es schneller als aufwärts. In weniger als zehn Minuten müsste er eigentlich die Waldgrenze erreicht haben. Sollte er sich lieber doch gleich zum Wagen durchschlagen? Durch das anstrengende Gehen fühlte er sich schon etwas wärmer, aber trotzdem war die Kleidung noch unangenehm feucht. Allmählich wurden seine Bewegungen gelöster. Der anfängliche Schock hatte sich etwas gelegt. Je weiter er sich von der Höhle entfernte, desto sicherer wurde sein Gefühl, dass ihm jetzt nichts mehr passieren konnte, dachte er zu seiner eigenen Beruhigung.

Der Pfad machte vor ihm eine scharfe Kurve nach rechts und fiel dahinter steil ab. Walter Woodstock atmete erleichtert auf, denn er kannte diese markante Biegung vom Aufstieg her. Sein Jeep war demnach nicht mehr weit weg. Er begann deshalb zu laufen und bog mit einer ziemlichen Geschwindigkeit in den scharf kurvigen Pfad ein. Durch das helle Mondlicht warfen die Bäume lange Schatten, was ihn ein wenig irritierte. Doch er lief unbeirrt weiter. Im nächsten Moment stoppte er auch schon wieder aus vollem Lauf und wäre beinahe gestürzt. Wild mit seinen Armen herum fuchtelnd hielt er sich gerade noch soeben im Gleichgewicht. Der Schreck fuhr ihm dabei gleichzeitig durch sämtliche Glieder.

Die seltsame Kreatur aus der Höhle stand plötzlich wie eine Geistererscheinung mitten auf dem Pfad am Ende der scharfen Kurve und wartete offenbar schon auf ihn.

Sie stand dort, wie zu einer Salzsäule erstarrt, das Mondlicht ließ nur einzelne Teile von dem unbekannten Wesen erkennen, nur das Gesicht zeigte sich deutlich, das leichenblass war und ihn mit großen weiten Augen anstarrte. Es war auf jeden Fall größer als Mr. Woodstock und außerdem sehr schlank.

Nachdem sich der Alte vom ersten Schreck etwas erholt hatte, dachte er darüber nach, die auf dem Pfad vor ihm völlig unbewegliche da stehende Gestalt einfach laut etwas zu fragen. Vielleicht würde er eine Antwort bekommen. Ein Versuch könnte ja nicht schaden. Sollte wirklich eine Gefahr von diesem fremden Wesen ausgehen, könnte er noch immer seitlich die Geröllböschung runter springen und sich in die Büsche schlagen, um sich dort zu verstecken.

Hey Mann, wer sind Sie und was wollen Sie von mir? Antworten Sie!“ rief Mr. Woodstock mit schriller Stimme und wartete.

Die unheimliche Kreatur schwieg. Nur der nah gelegen Fluss rauschte tosend vorbei.

Keine Antwort.

Der Alte versuchte es noch einmal. Er umklammerte den Stein mit festem Griff. Er würde auf gar keinen Fall in die Berge zurücklaufen. Dafür war es jetzt zu spät.

Lassen Sie mich vorbei! Machen Sie mir Platz“, rief er erneut.

Das seltsame Wesen machte immer noch keine Anstalten, auf die Seite zu treten, damit Walter Woodstock auf dem schmalen Pfad ungehindert weitergehen konnte. Es antwortete auch nicht.

Früher war er mal ein guter Sportler gewesen, was ihm jetzt zugute kam. Er warf einen flüchtigen Blick nach vorne, holte ein paar Mal tief Luft und stürmte mit dem Gesteinsbrocken in der rechten Hand auf die stumm da stehende Kreatur los. Er war zu allem bereit.

Die unbekannte Erscheinung hob auf einmal den Arm und hielt einen blitzenden Gegenstand in der Hand, den sie auf den anstürmenden Läufer richtete. Im nächsten Augenblick blitzte es hell auf und Mr. Woodstock fiel flach auf den Boden, wo er direkt vor der wartenden Kreatur zu liegen kam. Obwohl er bei vollem Bewusstsein war, konnte er weder Arme noch Beine bewegen. Das fremde Wesen schien offensichtlich ein Mann zu sein, der über enorme Kräfte verfügte. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, hob er den Alten auf und legte ihn sich über die Schulter, zwar nicht unvorsichtig, aber doch mit einer ziemlichen Gleichgültigkeit, als trüge er einen Sack Kartoffeln spazieren.

Der riesige Kerl stieg mit Mr. Woodstock auf der Schulter wieder nach oben zum See hinauf, ohne dabei auch nur eine einzige Pause zu machen, um den schweren Körper abzusetzen. Das Typ hatte nicht nur Riesenkräfte, sondern verfügte außerdem noch über eine gehörige Portion Ausdauer, was auf gar keinen Fall zu seinem blassen Gesicht passte.

Bald waren sie wieder an jener Stelle angekommen, wo der ovale Spalt in die Höhle führte. Der Unbekannte kroch zuerst durch die Öffnung und zog den paralysierten Alten hinter sich her wie eine erlegte Beute. Dann zerrte er ihn quer durch den dunklen Raum, bis zu einer metallisch glänzenden Pforte, die aussah wie das wasser- und druckdichte Schott eines Schiffes. Der Mann öffnete mit einer geheimnisvoll anmutenden Handbewegung die mannshohe Tür aus glatt poliertem Metall, stieg durch die Öffnung und zog den leblosen Körper Woodstocks hinter sich her ins Innere.

Die Lichtverhältnisse waren nicht besonders gut. An den glatten Wänden leuchteten eine Menge kleiner diodenähnlicher Lämpchen. Einige von ihnen blinkten in verschiedenen Farben Trotzdem konnte Mr. Woodstock etliche Details erkennen, die ihn in ein ziemliches Erstaunen versetzten. Offenbar befand er sich in einem Raum, der mit einer ganz besonderen Art von Elektronik nur so vollgestopft war. Weiter vorne befand sich ein wuchtiger Sessel mit breiter, wulstiger Kopflehne und über der ganzen Konstruktion hing eine gläserne Kuppel.

Plötzlich zielte der Mann wieder mit dem geheimnisvollen Gegenstand auf Mr. Woodstock. Ein kurzes Zischen entfuhr dem Ding und im nächsten Augenblick strömte ganz langsam und unbeschreiblich kraftvolles Leben durch den paralysierter Körper des Alten. Die Lähmung am ganzen Körper fiel von ihm sukzessive ab. Der Fremde beobachtete die Reaktion, wartete einfach und sagte nicht ein einziges Wort. Dann fiel der alte Mann in eine tiefe Bewusstlosigkeit.

***

Mr. Walter Woodstock lag auf einer Art Pritsche, als er wieder aufwachte. Sein Hinterkopf schmerzte, als stächen tausend kleine Nadeln gleichzeitig zu. Er blickte sich um, konnte aber nichts darüber sagen, wo er sich befand. Wie lange war er schon hier? Er seufzte. Am liebsten hätte er einen lauten Schrei von sich gegeben und wäre davongelaufen. Aber wohin? Mr. Woodstock glaubte sich in einem Alptraum zuhause. Das leichenblasse Gesicht war jetzt dicht neben dem seinen.

Ich befinde mich in den Händen eines Irren, dachte sich der Alte entsetzt, dem jetzt alle möglichen Bilder grausamster Art durch den Kopf schossen. In diesem Moment stellte ihm der blasse Mann einen Teller mit Essen auf den Tisch und deutete an, er solle sich von seiner Liege erheben und etwas zu sich nehmen, in dem er auf seinen Mund zeigte. Woodstock wollte es zuerst ablehnen, aber der Hunger quälte seinen leeren Magen schon seit vielen Stunden. Schließlich griff er zu, zog den Teller zu sich heran und aß begierig das gebratene Fleisch, das vorzüglich schmeckte.

Danke!“ sagte er nach dem Essen, als der Fremde ihm noch ein Glas frisches Wasser reichte.

Der Mann nickte nur mit dem Kopf, antwortete aber auch diesmal nicht, sondern beobachtete ihn nur und lächelte verständnisvoll. Dann legte er den Arm um ihn und half ihm hoch. Mr. Woodstock fühlte sich ein wenig schwindelig, konnte sich aber nach einer Weile von selbst aufrecht halten.

Woher sollte man wissen, ob der Fremde einem gut oder böse gesonnen war? Oder ob er sich aus irgendeinem Grunde nur selbst schützen wollte? Vielleicht wollte er sich nur gegen einer Gefahr erwehren, die ihn bedrohte.

Wer sind Sie? Bin ich Ihr Gefangener?“ fragte er den blassen Mann spontan, der ihn nur verdutzt anblickte.

Auf einmal konnte dieser sprechen, als hätte er nur darauf gewartet, dass der alte Mann ihn etwas fragen würde.

Natürlich sind Sie nicht mein Gefangener. Ich möchte Ihnen nur helfen, weiter nichts“, sagte der Fremde mit langsamer, tiefer Stimme.

Aber Sie haben nicht das Recht dazu, mich hier einfach festzuhalten. Sie haben mir nichts erklärt, nichts gesagt, was das hier alles soll. Woher kommen Sie eigentlich und was machen Sie hier oben in den Bergen so ganz allein. Sind Sie ein Einsiedler oder was?“ fragte ihn Mr. Woodstock mit aufgeregter Stimme.

Der Mann mit dem blassen Gesicht sah ihn jetzt mit ernstem Blick an. Dann runzelte er plötzlich die Stirn.


Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit. Aber ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Demphil Orakoon und komme vom Planeten KIRGOON WATTH, der 150 Millionen Lichtjahre von eurer Erde entfernt in einer Spiralgalaxie liegt, die in etwa der Milchstraße ähnelt. Beim letzten Hypersprung gab es irgendeine Fehlfunktion im Raum-Zeit-Konverter. Die Magnetfeldfessel der Antimaterie zeigte einige gefährliche Schwankungen an. Ich musste daher zwangsweise mit meinem Raumschiff auf eurem Planeten notlanden und verstecke mich seitdem hier oben in der einsamen Bergregion. Eurer Zeitrechnung nach war das vor mehr als zwei Monaten. Ich komme nur langsam mit den komplizierten Reparaturarbeiten weiter. Aber ich bin fast fertig. Sie werden doch verstehen, dass ich Sie nicht einfach wieder so laufen lassen kann. Ich kenne euch Menschen nämlich. Sie würden sofort Hilfe holen, Mr. Woodstock, und bald hätte man mich entdeckt. Das wäre eine Katastrophe, nicht für mich, sondern für euch. Ich will euch Menschen nichts Böses tun, dir schon gar nicht, aber wenn man mich hier oben aufstöbert, müsste ich das mit aller Macht zu verhindern suchen, indem ich meine Waffen aktiviere, die darauf programmiert sind, alles zu vernichten, was sich meinem Raumschiff nähert. Die Reparaturen am schadhaften Magnetring werden bald beendet sein. Ein paar Tests noch, dann werde ich, sobald die Dunkelheit hereingebrochen ist, die Erde wieder verlassen und einen neuen Hypersprung initiieren, der mich nach Hause bringen wird. Bis dahin werde ich Sie hier behalten müssen, Mr. Woodstock. Danach können Sie wieder machen, was Sie wollen.“


Mr. Woodstock kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sprachlos und mit offenem Mund hatte er die Rede des außerirdischen Wesens verfolgt. Es war die reinste Sensation, das dieses Wesen aus dem All seine Sprache so gut beherrschte und jedes Wort verstand.

Woher kennen Sie meinen Namen, Orakoon?“ fragte er den Außerirdischen.

Nichts Leichteres als das. Wir können eure Gedanken lesen.“

Walter Woodstock saß erschrocken da und schwieg. Die eigentümlich grauen Augen des fremden Wesens aus dem All schweiften in die Ferne. Es versuchte eine Geschichte zu erzählen, die jenseits allen Erzählbarem lag, die sich über einen Abgrund von Raum und Zeit hinweg streckte, der nicht so ohne weiteres zwischen ihm und dem Fremden überbrückt werden konnte.

Es tut mir leid. Aber ich wollte Ihnen durch meine Gegenwart keine Schwierigkeiten bereiten. Ich habe die Höhle nur durch Zufall gefunden. Mehr nicht“, sagte Mr. Woodstock mit leiser Stimme zu dem Raumfahrer, der jetzt die Augen geschlossen hatte. Er öffnete sie erst wieder, als er zu sprechen anfing.

Ja, ich weiß. Aber das ist keine Höhle, sondern der Eingang zu meinem Raumschiff. Die dreidimensionalen Projektoren haben eine massive Bergsimulation um das Raumschiff gelegt, um es der Umgebung anzupassen. Ich dachte die ganze Zeit, dass niemand von euch Menschen hier oben in diese gottverlassene Gebirgsregion kommen würde. Ich habe mich wohl geirrt. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Nach dem Start wird eine kleine Gerölllawine den Berg runtergehen, was ich leider nicht ganz verhindern kann. Aber ich habe dafür gesorgt, dass sie keinen Schaden anrichten wird.“

Was geschieht mit mir? Werde ich noch rechtzeitig von hier wegkommen, bevor es gefährlich für mich wird?“

Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mr. Woodstock. Ihnen geschieht nicht das Geringste. Glauben Sie mir...!“ gab Demphil Orakoon mit Bestimmtheit zur Antwort. Dann schloss er wieder die Augen. Zu der Stille des Raumes gesellte sich ein langes Schweigen.

***

Ein Ton.

Das war das erste.

Er drang in sein Bewusstsein ein, wie die sanfte Musik einer Harfe. Es war eine Stimme, die sprach, flüsterte...

Er öffnete die Augen. Licht drang in sein Gehirn. Es schmerzte. Er blinzelte ein wenig. Unter seinem Körper fühlte er den nackten Felsen, sein Herz arbeitete wie ein heftiger Kolben, durch seine Adern pochte das Blut...

Ich bin wach.“ Seine Stimme klang laut und heiser. „Ich bin nicht tot. Ich lebe!“ schrie Walter Woodstock vor lauter Freude.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter.

Bleiben Sie ruhig liegen, Mr. Woodstock. Es wird alles wieder gut. Wir bringen Sie jetzt in ein Krankenhaus unten im Tal. Sie sind stark unterkühlt. Es ist aber alles soweit mit Ihnen in Ordnung. Sie werden bald wieder auf den Füßen sein...“ sagte der Notarzt zu ihm, bevor er die Hecktür des Rettungswagens von außen schloss und dem Fahrer ein kurzes Zeichen gab, dass er jetzt wegfahren könne.

Mr. Walter Woodstock blieb ruhig liegen und sammelte seine Gedanken. Dann kamen die Erinnerungen zurück.

Er hörte es.

Ein dumpfes Grollen, wie Donner aus der Ferne. Ein Brüllen, ein Geräusch wie tausend Hurricans zusammen genommen.

Er sah es.

Es flog über ihn hinweg mit blinkenden Positionslichtern.

Ein gewaltiges Schiff, ein ungeheures Sternenschiff. Ein riesiger Berg aus glänzendem Metall, der sich in den dunklen, sternenklaren Nachthimmel erhob. Sein Schatten fiel auf ihn. Dann war es verschwunden. Nur der Donner blieb zurück, der über den Berg rollte und eine polternde Gerölllawine auslöste. Doch ihm geschah wie durch ein Wunder nichts. Seine Frau Franzis fand ihn später draußen bewusstlos vor der Tür der Berghütte wieder und hatte sofort den Rettungsdienst alarmiert. Wie er allerdings dorthin gekommen war, blieb für Mr. Woodstock ein Rätsel. Wie er überlebt hatte, ebenfalls.

***

Das Geheimnis offenbarte sich viel später zu Hause in seiner Wohnung, als Mr. Woodstock in seiner Regenjacke ein beschriebenes Stück Papier fand, auf dem ein kleiner See eingezeichnet war, den er nur zu gut kannte. Es war sein Bergsee hoch droben in den Bergen. An einer ganz bestimmten Stelle war ein Kreuz eingezeichnet. Dann folgte eine kurze Beschreibung, die dem alten Mann die Sprache verschlug. Er teilte das Geheimnis nur mit seiner Frau, die ihn zuerst für einen Spinner hielt, bis, ja bis sie sich selbst davon überzeugen konnte, dass es noch Wunder gab, die nicht von Menschenhand gemacht worden sind.

***

Mr. Walter Woodstock und seine Frau Franzis legten eine kurze Rast ein, um von dem kalten, reinen Wasser des Eissees zu trinken. Sie lachten, scherzten und manchmal kamen ihnen sogar die Tränen. Sie wagten das Wunder kaum zu glauben, das ihnen widerfahren war. Aber sie mussten es glauben, obwohl es viel zu phantastisch klang. Aber beide konnten es jedes Mal wieder und wieder am eigenen Körper erfahren und ausprobieren. Das fremde Wesen aus dem All hatte für sie ein wunderbares Geschenk im kleinen Bergsee zurückgelassen. Ein Geheimnis, das nur sie beide kannten. Es war eine Art Lebenselixier, das in einem kugelförmigen Behälter lagerte und die gesamten Zellen des menschlichen Körpers innerhalb kürzester Zeit regenerierten, was wiederum zu einer spürbaren Verjüngung und zu einer enormen Verlängerung des Lebens führte. Ja, und dieser Behälter lagerte im kühlen Bergsee unterhalb der Wasseroberfläche in einer kleinen Felsennische. Niemand wusste davon, außer Mr. und Mrs. Woodstock natürlich.

Etwas später stiegen sie den Pfad hinab, neben ihnen floss der Strom des Stanton Rivers unermüdlich talwärts.

Sie gingen vorbei an den Tannen, den Kiefern, den schlanken Espen, hinab in das warme sommerliche Tal, das über und über mit goldenen und bunten Farben besät war und in dem die Vögel lustig zwitscherten.

Manchmal schauten sie zurück zu den hohen, schneebedeckten Bergen, wo früher einmal eine Bergspitze mehr gestanden hatte und einstmals ein Berggeist hauste, der aus den unendlichen Tiefen des Alls gekommen war.

Auch dieses Geheimnis behielten sie für sich.

Die Menschheit musste ja nicht unbedingt von jedem Wunder erfahren, das vom Universum durch Zufall manchen Personen offenbart wurde.

 

 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter


 

 

 

 

***


 

3. Story of Eth


 

Eine engelhafte Macht, ein verwaltender Engel, mit der Aufgabe,
dafür zu sorgen, dass ...." alle Dinge zur rechten Zeit passieren".

Das alles ist Eth.

 

***

 

Heiß. Es war unerträglich heiß.

 

Von irgendwo her, aus weiter Ferne, drang eine Stimme an Eths Ohr. Er taumelte wie ein Betrunkener hin und her und hielt sich nur unter Aufbietung all seiner letzten Kräfte auf den Füßen.

 

Wieder hörte er diese weit entfernte Stimme, die jedoch schnell näher zu kommen schien. Die Worte klangen anfangs undeutlich, ja verzerrt. Doch dann hatte er den Eindruck, dass jemand direkt vor ihm stand und leise mit ihm sprach.

 

Du hast deine Arbeit hier beendet. Gehe nun wieder und tue, was dir Neues aufgetragen wird! Reise in eine ferne Welt, die von Krieg, Elend und Tod überzogen wird. Führe zwei Menschen zusammen und lasse die Liebe siegen. Gehe sofort! Der große Attraktor“ will es so...“, hörte er die flüsternde Stimme noch sagen, bevor sich die Welt um ihn herum zu drehen begann.

 

Eth konnte nicht mehr. Er versuchte sich mit all seiner verbliebenen Kraft zusammen zu reißen und bekam tatsächlich, wenngleich auch für wenige Sekundenbruchteile nur, immer wieder lichte Momente. Die Umgebung um ihn herum veränderte sich wie in einem Zerrspiegel. Der nahende, körperliche Tod schien unausweichlich zu sein. Immer kraftloser werdend stürzte er schließlich nach vorne und hatte das Gefühl, in ein bodenloses, schwarzes Loch zu fallen.

 

So sieht also das Ende dieses Körpers aus, den ich nur vorübergehend bewohnen durfte. Meine Zeit in dieser Welt ist abgelaufen. Ich habe getan, was man mir aufgetragen hatte“, sagte er zu sich selbst mit leiser Stimme und ein Gedanke schoss ihm dabei durch den Kopf, wie es wohl in der kommenden Welt sein würde, auf die seine unsterbliche Seele jetzt unaufhaltsam zuschritt.

 

Im nächsten Augenblick durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Sein geliehener Körper zuckte schlagartig mehrmals hintereinander zusammen, als würde man ihn mit heftigen Stromstößen traktieren.

 

Eth verkrampfte sich zu einem Fragezeichen und blieb für mehrere Minuten in dieser Zwangshaltung am Boden liegen, bis schließlich schlagartig alle Wahrnehmungen von ihm wichen. Sein Gehirn schien in diesem Stadium zu implodieren. Das ist das Ende, war sein allerletzter Gedanke. Dunkelheit breitete sich in ihm aus.

 

Danach endlose Stille.

 

Nichts als Stille.

 

***

 

Als Eth wieder zu sich kam, lag er als deutscher Wehrmachtssoldat gut getarnt im tiefen Gras einer grünen Feldwiese. Eine nahe Explosion hätte fast sein Trommelfeld zerrissen.

 

Die Deutschen kommen! Sie werden gleich da sein“, rief jemand aufgeregt vor ihm auf der zerstörten Straße, wo gerade eine explodierende Granate in eine kleine Gruppe verstörter Flüchtlinge eingeschlagen hatte. Der Geruch von verbranntem Fleisch machte sich in seiner Nase breit.

 

Die fürchterlichen Schreie der Sterbenden gellten zu dem Soldaten herüber.

 

Ich bin nicht tot. Ich habe außerdem einen neuen Körper“, stellte Eth ungläubig fest. Seine Stimme klang ihm selbst irgendwie fremd. Er fragte sich auch, wie er hier hin gekommen war. Das Wissen um diesen geheimnisvollen Vorgang, der Raum und Zeit in Sekundenbruchteile überwinden ließ, hätte er gerne vom großen Attraktor“ selbst erklärt bekommen. Irgendwann würde er sowieso dahinter kommen, sinnierte er nachdenklich verloren vor sich hin. Doch dann riss ihn die Wirklichkeit der neuen Welt schlagartig aus seinen diffusen Vorstellungen.

 

Vorsichtig schaute Eth jetzt aus der Deckung heraus und nahm die nähere Umgebung genauer in Augenschein. Mittlerweile hatte er sich an seine neue Umwelt angepasst.

 

Was ist hier los? Jemand schießt auf wehrlose Menschen“, sagte er mit leiser Stimme zu sich selbst und dachte darüber nach, woher das tödliche Geschoss gekommen war. Fast gleichzeitig schaute er in Richtung einer kleinen Anhöhe, von der deutliche Motorengeräusche zu hören waren.

 

Oben auf dem Hügel tauchten plötzlich einige olivgrüne Stahlungeheuer mit rasselnden Ketten auf, die nacheinander kurz stehen blieben und dann zügig weiterfuhren. Auf einer flatternden Fahne konnte man ein großes Hakenkreuz erkennen.

 

Der erste Stahlkoloss drehte seinen Turm mit der drohenden Kanone langsam nach rechts, dann nach links und zielte schließlich damit auf ein nah gelegenes Dorf im Tal.

 

Die Masse der Flüchtenden, die den Angriff der Panzer überlebt hatten, rannten von der Straße runter über ein offenes Feld zurück ins Dorf, wo sie verzweifelt versuchten, sich in den umliegenden Häusern in Sicherheit zu bringen.

 

Ganz unvermittelt tauchte neben Eth ein anderer deutscher Soldat im hohen Gras auf.

 

Er hatte blaue Augen, war sauber rasiert und trug kurze blonde Haare unter seinem schnittigen Stahlhelm, den er lässig nach hinten geschoben hatte.

 

Ich bin Uffz. Hans Reinhard, Kamerad. Und wer bist du? Ich kenne dich nicht. Hab’ dich noch nie in unserer Kompanie gesehen. Bist du versprengt worden oder hat man dich uns erst kürzlich zugeteilt? Ach, was soll’s, wir können hier jeden Mann gebrauchen. Du kannst stolz darauf sein, dass wir mit unserer Panzerabteilung endlich die Feuertaufe bekommen haben. Viele sind zum ersten Mal an der Front. Alles junge Männer aus der Heimat, so wie du und ich. Nun, man sieht es ihnen an, dass das hier ihr erster richtiger Kampfeinsatz war“, sagte der Unteroffizier und grinste dabei.

 

Dann machte er sich schnell davon und folgte den vorrückenden Panzern ins Dorf, die schließlich vor der ersten Häuserreihe anhielten.

 

Eth nahm verdutzt seinen Karabiner in die Hand, verließ das schützende Hochgras und folgte unauffällig den anderen Infanteristen des deutschen Stoßtrupps, die jetzt langsam vorrückten, um sich schließlich alle hinter den wartenden Panzern zu sammeln.

 

Als er bei den Soldaten ankam, stand plötzlich wieder dieser Unteroffizier neben ihm.

 

Unsere Panzer haben das Dorf zurückerobert. Es ist jetzt feindfrei. Eine hervorragende Leistung. Nur die Flüchtlinge sind noch hier. Sie haben sich in den umliegenden Häusern verkrochen. Um die kümmern wir uns später“, sagte er zu Eth, der den Mann in der deutschen Kampfuniform nur sprachlos mit offenem Mund anschaute.

 

Im Augenblick gibt es keine neuen Befehle, Kamerad. Gehen wir ins Dorf und schauen uns mal die Kirche an. Du gehst sicherheitshalber mit und hältst die Augen offen. Also, Marsch, Marsch!“ befahl der Unteroffizier knapp.

 

Ach ja, wie ist dein Name noch mal, Soldat?“ fragte der Uffz. unvermittelt und schaute Eth mit seinen harten blauen Augen prüfend ins Gesicht, als suchte er es in seinem Gedächtnis.

 

Ich äh, ich heiße Jakob Spengler und...,“ stotterte der angesprochene und wunderte sich darüber, dass ihm so schnell auf Anhieb der neue Name eingefallen war.

 

Ist schon gut, Jakob. Du kannst ruhig Hans zu mir sagen. Den Uffz. kannst du dir sparen. Militärisch ist das zwar nicht in Ordnung, aber ich mag nun mal keine Formalitäten. – Also, gehen wir!“

 

Der Unteroffizier drehte sich lässig um und ging direkt auf die Dorfkirche zu. Eth, alias Jakob Spengler, marschierte zügig hinter ihm her.

 

Den Karabiner im Anschlag, stieß der Wehrmachtsunteroffizier Reinhard mit einem Fußtritt das jahrhundertealte Portal der schönen Dorfkirche auf, das aus zwei schweren Holzflügeln bestand. Sie drehten sich schwer und quietschend in den Angeln. Beide Männer mussten ein wenig nachhelfen, bis alle Seiten schließlich ganz offen standen.

 

Dann traten sie ein.

 

In ihrem Halbdunkel wurden sie in der prächtigen Kirche jedoch nicht von der erwarteten Stille empfangen, sondern sie hörten von überall her ein dumpfes Gemurmel und ein seltsam anmutendes, schweres Atmen, das zu ihnen vordrang.

 

Ihre Blicke schweiften über die durcheinander liegenden Platten des Mittelganges, der zum Altar führte. Dort sahen sie, in der Mitte des Chores dicht zusammengedrängt, ein kleine Gruppe von Menschen, die sich um eine auf dem Boden liegende, blutverschmierte Person versammelt hatten. Es handelte sich offenbar um die Familie der verletzten Person. Einige von ihnen weinten laut vor sich hin. Es war eine Herz zerreißende Situation.

 

Als die beiden Soldaten näher kamen, drängelten sie sich durch die kleine Gruppe hindurch und erblickten auf einer schmalen Trage liegend einen ausgestreckten, blutigen Körper. Das Bild versetzte besonders Eth, der sich jetzt Jakob Spengler nannte, in einen tiefen Schock.

 

Es war ein junges, bildhübsches Mädchen, etwa so um die zwanzig Jahre alt, mit langen, dunklen Haaren. Er konnte nicht erkennen, ob sie tot oder nur verletzt war. Ein Junge kniete neben ihr und tupfte ihr fortwährend mit einem Stofftuch das Blut von der Stirn, das unablässig aus einer tiefen Wunde unterhalb des Haaransatzes quoll.

 

Der Soldat Spengler stellt plötzlich seinen Karabiner an den Altar, kniete sich vor das junge Mädchen und schaute sich die blutende Kopfwunde an. Die Verletzung sah sehr schlimm aus. Aber er konnte helfen. Das wusste er ganz genau.

 

Sie braucht dringend einen Arzt. Sie verblutet sonst, wenn sie nicht sofort ins Krankenhaus kommt“, sagte er mit skeptischem Blick zu seinem Uffz. Hans Reinhard, der sich neben ihn gestellt hatte.

 

Reinhard trat sofort mit fragendem Blick auf die vermeintlichen Eltern der Verletzten zu. Sie waren der deutschen Sprache mächtig und sagten ihm, dass sie nicht aus dieser Gegend stammten, selbst auf der Flucht seien und in ihrer Not nicht wissen, wie sie ihrer Tochter helfen könnten. Das nächste Krankenhaus läge zehn oder fünfzehn Kilometer von hier entfernt in der nächsten Stadt, die von deutschen Truppen besetzt sei. Aber der Weg dorthin ist zu weit für sie und ihre verletzte Tochter. Sie würde unterwegs sterben.

 

Eth, alias Jakob Spengler vollzog plötzlich eine seltsam anmutende Handbewegung. Die Leute um ihn herum wurden still und verharrten spontan bewegungslos in ihrer jeweils eingenommenen Körperhaltung.

 

Dieses unglaubliche Wunder hielt mehrere Sekunden lang an, bis sich jeder der Erstarrten wieder normal weiter bewegte, als sei überhaupt nichts passiert.

 

Nichts schien sich rein äußerlich verändert zu haben. Und doch hatte sich unauffällig etwas ungewöhnliches getan, etwas, das keiner der Anwesenden bemerken konnte, weil es außerhalb ihrer erfahrbaren Sinne lag.

 

Eth bzw. Jakob Spengler, hatte die Zeit für einen kurzen Augenblick angehalten, um das Schicksal des Mädchens und das von Hans Reinhard nachhaltig zu beeinflussen. Das war eine seiner Aufgaben gewesen, wozu ihn der große Attraktor“ hier in diese schreckliche Welt, die voller Zerstörung, Elend, Leid und Tod zu sein schien, hingeschickt hatte.

 

Doch es gab wieder Hoffnung.

 

Vom Pfarrhaus nebenan betrat auf einmal ein alter Priester die Kirche. Er hatte einen hölzernen Verbandskasten dabei. Als er das schwer verletzte Mädchen auf der Trage leblos liegen sah, erkannte er sofort, dass nur noch schnelle Hilfe echte Rettung bringen konnte.

 

Wer hat das getan?“ fragte er absichtlich die herumstehenden Männer und Frauen.

 

Der alte Priester musterte Hans Reinhard nur für einen kurzen Moment, der aber alles sagte, bevor er sich dem blutenden Mädchen zuwandte.

 

Es gibt Momente im Leben, die kann man nicht messen. Der junge Unteroffizier blickt den alten Priester verlegen an und wusste sofort, wer als Schuldiger infrage kam.

 

ER, der Unteroffizier Hans Reinhard, der den Befehl dazu gegeben hatte, auf das Dorf und seine Bewohner zu schießen. Dabei schlug eine Panzergranate mitten in eine Gruppe flüchtender Menschen ein. Das junge Mädchen wurde von einem Granatsplitter an der Stirn getroffen und blieb bewusstlos liegen.

 

Man schaffte sie sofort auf einer provisorisch zusammengebauten Trage zurück in die Dorfkirche, weil man glaubte, wenigstens hier könne sie in Ruhe sterben. Draußen fielen hin und wieder nämlich immer noch Schüsse. Nur ein himmlisches Wunder konnte sie jetzt noch retten, dachten sich die Menschen in ihrer grenzenlosen Verzweifelung.

 

Als Uffz. Reinhard zu dem leichenblassen Mädchen herunterschaute, kam er sich wie ein Schüler vor, der sich gegen die Ungerechtigkeit seiner Menschen verachtenden Lehrers auflehnte. Eine seltsame Veränderung ging plötzlich in ihm vor, die er sich nicht auf Anhieb erklären konnte. Er ging nach draußen vor die Dorfkirche und wollte laut zu schreien anfangen.

 

Der Priester hatte recht. Natürlich war es seine Schuld gewesen, denn er hatte ja den klaren Befehl zum Dauerbeschuss des Dorfes und der angrenzenden Umgebung gegeben. Der Auftrag dazu war zwar ein militärischer gewesen, aber nichtsdestotrotz dieser Tatsache stand fest, dass er am Ende der Befehlskette gestanden hatte, und nur er hätte die flüchtenden Dorfbewohner verschonen können.

 

Es war sein menschliches Versagen. Der eigene militärische Sieg war ihm wichtiger gewesen, als das Leben unschuldiger Zivilisten.

 

Schuldgefühle stiegen in ihm hoch.

 

Erst vor einer Woche hatte er noch einen Brief an seine Mutter geschrieben:

 

Liebe Mutter, du kannst auf deinen Sohn Hans so richtig stolz sein. Wir bekommen bald unsere Feuertaufe und müssen eine kleine Ortschaft vom Feind säubern. Ich darf zum ersten Mal als junger Unteroffizier eine Gruppe führen. Darunter sind sogar ein paar alte Hasen“, die zu uns strafversetzt wurden. Alles erfahrene Frontkämpfer – und ich mitten unten ihnen als ihr Truppführer. Aber es sind auch eine ganze Menge junger Soldaten dabei. Manche von ihnen sind in meinem Alter. Sie können es kaum erwarten, so wie ich, endlich loszulegen. Anderen sieht man es an, dass sie die Hosen jetzt schon gestrichen voll haben. Aber die biegen wir schon hin. – Ja Mutter..., es geht endlich an die Front!“

 

Alles Gute Dir, Papa und Lorchen!

 

 

Dein Hänschen

 

 

 

Hans Reinhard schaute hinauf zu den vorbeiziehenden, weißen Wolken am blauen Himmel.

 

Das hier hatte er nicht erwartet. Seit gestern war er mit seinen Kameraden im Gelände unterwegs. Sie liefen singend mit aufgekrempelten Ärmeln hinter den Panzerfahrzeugen her. Zwischendurch kam es immer wieder zu kleineren Scharmützeln mit dem Feind, der jedes Mal schnell besiegt wurde. Das Knattern der Maschinengewehre, das Heulen der Stukas, das unablässige Donnern der Artillerie hallte jetzt noch in seinen Ohren. Sie waren unaufhaltsam auf dem Vormarsch und wollten verloren gegangenes Gelände wieder zurück erobern. Aber auf die Toten und die vielen Verwundeten auf beiden Seiten hatte er dabei nicht geachtet.

 

Jetzt erst, wo er das blutende, junge hübschen Mädchen mit dem Tod ringend vor dem Altar liegen sah, wurde er von einer tiefen Reue und zweifelnden Nachdenklichkeit über seine inhumanen Schandtaten erfasst. Auf diesen Anblick war er einfach nicht vorbereitet gewesen. Ihm graute davor, wieder hineinzugehen. Er riss sich dennoch zusammen und lief zurück zum Priester, der gerade dabei war, die klaffende Wunde des Mädchens frisch zu säubern, um sie mit einem weißen Verbandstuch abzudecken.

 

Sie braucht dringend Hilfe. Tun Sie doch etwas, Herr Unteroffizier! Es steht in ihrer Macht, das Leben des Mädchens zu retten“, flehte ihn der Geistliche an.

 

Hans Reinhard schluckte mehrmals hintereinander, als hätte er einen dicken Klos im Hals. Sein Mund wurde trocken und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Die Worte des Priesters berührten ihn tief. Er blickte um sich und suchte nach dem Soldaten Jakob Spengler, der ihn, lässig an einer Marmorsäule gelehnt, schon die ganze Zeit ruhig beobachtet hatte. Sein Gesicht sah irgendwie zufrieden aus.

 

Uffz. Reinhard rief ihn zu sich.

 

Jakob, geh’ nach draußen zurück zu den Männern und lass’ die Sanitäter antanzen. Sie sollen sofort mit dem Sanka herkommen. Wir haben ein schwerverletztes Mädchen, dass ins nah gelegene Krankenhaus der Stadt gebracht werden muss. Beeile dich! Geh’ sofort und hol’ die Sanis her! Das ist ein Befehl!“

 

Jawohl Herr Unteroffizier. Ich bin schon weg“, rief der Soldat Jakob Spengler wie aus der Pistole geschossen, drehte sich zackig um, verließ die Dorfkirche und strebte in der prallen Sonne geradewegs auf die wartenden Sanitätern am Dorfrand zu. Nach einer kurzen Unterweisung rollten sie alsbald mit ihrem Rot-Kreuz-Wagen der Wehrmacht direkt am offenen Eingangsportal der Kirche vor.

 

Nachdem sie das bereits ohnmächtige Mädchen einer medizinischen Erstversorgung unterzogen hatten, hievten sie es auf der Trage liegend behutsam in den Wagen und brachten es so schnell es ging in das besagte Krankenhaus, das geschützt weit hinter der Front in einer großen Stadt lag, die von der deutschen Wehrmacht noch uneingeschränkt kontrolliert wurde. Dort war man auch schon dazu übergegangen, verletzte deutsche Soldaten aufzunehmen.

 

In dieser Stadt lag auch die Kaserne des Unteroffiziers Hans Reinhard, der es sich ernsthaft in den Kopf gesetzt hatte, das junge hübsche Mädchen im Krankenhaus zu besuchen. Er wollte wissen, ob sie am Leben geblieben war. Ja, er wollte dieses Mädchen sogar unbedingt wiedersehen. Sein ganzes Denken war darauf ausgerichtet.

 

***

 

Zwei Tage danach.

 

Du bleibst hier im Kübel bis ich zurück bin, Jakob! Hast du mich verstanden? Und kein Wort unserem Kompaniechef gegenüber, dass ich ins Hospital gegangen bin. Wenn wir in der Kaserne zurück sind, trinken wir einen zusammen. Sozusagen aus Dankbarkeit dir gegenüber, dass du mir dabei geholfen hast, das Mädchen besuchen zu können. Ich glaube nämlich, dass ich mich in sie verliebt habe. Es ist nicht zu fassen, Jakob...“ sagte der Unteroffizier und verschwand mit schnellen Schritten.

 

Keine zehn Minuten später, nachdem Hans Reinhard vom Wagen weggegangen war, stand er am Kopfende des Bettes jenes jungen Mädchens, das er vor zwei Tage hier hinbringen ließ. Er wusste auch, dass er sich damit befehlswidrig verhalten hatte, aber irgendwie war er jetzt froh darüber, dass er den Mut dazu aufgebracht hatte, anders zu entscheiden. Er fühlte sich jedenfalls moralisch gestärkt.

 

Auch dem Mädchen schien es besser zu gehen.

 

Lange stand er so da, jedenfalls lange genug, um zu sehen, dass sie besonders hübsch war. Er empfand zu ihr eine tiefe Zuneigung, die er wie ein göttliches Geschenk empfand. Ihr Name stand in schwarzer Schrift auf einem großen, weißen Zettel an der Wand.

 

Rosemarie de Greef aus Belgien.

 

Eine Schwester betrat das Krankenzimmer und blickte den deutschen Wehrmachtsoldaten misstrauisch an. Sie brachte das Essen rein.

 

In diesem Augenblick schlug das Mädchen die Augen auf. Es waren wunderschöne, kastanienbraune Augen, deren Blick aber offenbar von der Verletzung am Kopf eingetrübt wurden.

 

Hans Reinhard war wie vom Donner gerührt. Er hatte nur noch wenige Minuten Zeit, um sich vorzustellen und ihr erklären zu können, warum er sie unbedingt wiedersehen wollte. Was war noch zu sagen? Als ob man mit ein paar Worten schon das ausdrücken könne, was er nun endlich durchdringend begriffen hatte, was bedingungslose Liebe und gegenseitige menschliche Zuneigung bedeutete.

 

In seiner grenzenlosen Verlegenheit nahm er ihre Hand, drückte sie zart und sanft und stammelt dazu lediglich: „Ich bitte um Verzeihung für das, was ich dir angetan habe. Ich bitte inständig darum...!“

 

Die Krankenschwester bekam alles mit. Tränen liefen ihr über die geröteten Wangen, als sie sah, mit welcher Inbrunst der deutsche Soldat das Mädchen um Verzeihung bat.

 

Sie lächelte ihn an und erzählte ihm die ganze Geschichte, wie sich alles aus ihrer Sicht ereignet hatte. Dass sie aus Belgien stammte und gerade bei Verwandte in dem besagten französischen Dorf zu Besuch gewesen war, als die Deutschen einen Gegenangriff auf die vorrückenden Alliierten Kräfte starteten, die vor Wochen an Frankreichs Küste in der Normandie gelandet waren. Zusammen wollte sie mit den anderen das Dorf verlassen, kamen aber nicht weit, als auf der einzig befahrbaren Landstraße eine Granate explodierte und sie von einem Metallsplitter am Kopf getroffen wurde. Doch hat sie eigentlich von alldem nichts mitbekommen und sei erst wieder hier im Hospital aufgewacht.

 

Darf ich dich wiedersehen, Rosemarie? Es ist mir sehr wichtig. Bitte, sage nicht nein...“ flehte der junge Mann sie an.

 

Das Mädchen nickte vorsichtig mit dem Kopf und wieder lächelte sie ihn an, als würde sie es sich genauso wünschen wie er. Ihre trüben, kastanienbraunen Augen hatte sie mittlerweile wieder geschlossen und in ihrem blassen Gesicht ruhte überraschenderweise auf einmal ein tiefer Friede.

 

Unten hupte das Auto. Jakob wurde langsam ungeduldig. Sie mussten weiter, denn sie durften nicht zu spät in die Kaserne zurück kehren.

 

Reinhard verabschiedete sich von dem Mädchen und der immer noch anwesenden Krankenschwester. Als er das Hospitalzimmer verließ, weinte er still vor sich hin. Es waren Tränen der Freude.

 

***

 

Die Zeit verging wie im Flug.

 

Unteroffizier Hans Reinhard geriet bei den Rückzugskämpfen um das Deutsche Reich in alliierte Gefangenschaft, wie so viele seiner Kameraden auch. Sie hatten die Schnauze voll vom Elend und Tod eines sinnlos gewordenen Krieges und wollten nur noch nach Hause.

 

Schon in der Gefangenschaft fragte er sich, was wohl aus dem Mädchen Rosemarie geworden war. Denn der Krieg hatte für ihn eigentlich nur ein Opfer gefordert: das junge Mädchen aus kleinen Dorfkirche.

 

Nach etwa einem Jahr wurde er aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen und kehrte von England nach Deutschland zurück. Von seinem Elternhaus in seiner Heimatstadt war nicht viel geblieben.

Die Familie war nicht mehr da und wohlmöglich tot. Auch von den ehemaligen Nachbarn gab es fast niemanden mehr. Nur eine alte Frau sagte zu ihm, die ein paar Straßen weiter unten in einem verschont gebliebenen Keller wohnte, dass das Haus seiner Eltern von einer amerikanischen Fliegerbombe während eines fürchterlichen Nachtangriffes getroffen worden war und bis auf die Grundmauern nieder brannte. Auf seine Frage hin, ob jemand seiner Familie den Bombenangriff überlebt hätte, konnte sie keine schlüssige Antwort geben. Aber es hat in dieser Höllennacht sehr viele Tote gegeben, die bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren, antwortete sie traurig und schien mit ihren feuchten Augen in die Ferne eines weiten, imaginären Horizonts zu blicken.

 

Hans Reinhard beschloss daraufhin, seine Heimatstadt zu verlassen, die größtenteils wie eine einzige Ruine aussah. Mit gefälschten Papieren verließ er schließlich Deutschland und machte sich, da er fließend französisch sprach, auf die Suche nach dem jungen Mädchen, von dem er wusste, dass sie eine Belgierin war und jetzt wohl irgendwo in Belgien leben musste. So hoffte er jedenfalls.

 

Mehr als vier Wochen schlug er sich kümmerlich in der Fremde durch. Arbeitete mal hier und mal da. Deutsch zu sprechen vermied er konsequent, um nicht aufzufallen.

 

Eines Tages hatten tatsächlich seine ausdauernden Fragereien bei den entsprechenden Behörden und bei den Menschen im damals heftig umkämpften Dorf nahe der belgisch-französischen Grenze überraschenden Erfolg. Zum Glück erkannten ihn die Dorfbewohner nicht, denn die meisten von ihnen waren damals vor den anrückenden deutschen Soldaten rechtzeitig geflohen. Deshalb war er ihnen unbekannt geblieben. Der alte Priester war kurz nach Kriegsende gestorben und lag auf dem alten Kirchenfriedhof begraben.

 

Hans Reinhard besuchte das verwachsene Grab und legte frische Blumen auf die mit grünem Cotoneaster überwucherte Grabstelle, die am oberen Ende von einem kleinen Steindenkmal begrenzt wurde. Auf einer schwarzen Namensplatte war in goldene Schrift der Name des Priesters eingearbeitet worden.

 

Nach einer kurzen Gedenkminute verließ er den Kirchenfriedhof und ging, von seinen schlimmen Kriegserinnerungen übermannt, mit versteckten Tränen zum Dorf hinaus.

 

***

 

Rosemarie de Greef war nach Frankreich gezogen und soll den Aussagen der Dorfbewohner nach im Pariser Viertel Marais leben, wo sie angeblich mit ihrer alten Mutter zusammen eine kleine Mansardenwohnung bewohnte. Die Straße allerdings konnte er nicht in Erfahrung bringen. Doch angespornt von diesen neuen Erkenntnissen machte er sich auf dem Weg nach Frankreich.

 

Mehr als einen Monate brauchte er, bis er endgültig auf die richtige Spur des jungen Mädchens gestoßen war. Sie wohnte in der Rue Saint Gilles, zusammen mit ihrer alten Mutter, die ziemlich rüstig geblieben war und ihre Tochter liebevoll betreute.

 

Ja..., betreute, denn das Mädchen Rosemarie war mittlerweile auf beiden Augen erblindet. Die schwere Kopfverletzung hatte jenen Teil des Gehirns in Mitleidenschaft gezogen, der für die Sehkraft zuständig war.

 

Trotzdem entschloss sich Hans Reinhard dazu, das jetzt etwa dreiundzwanzig Jahre alte Mädchen zu besuchen. Eine innerliche Stimme trieb ihn an, es einfach zu tun und nicht feige wegzulaufen.

 

Endlich stand er vor ihrer Tür und betätigte die nostalgische Glocke. Drinnen rührte sich etwas. Es hörte sich nach schlürfende Schritte an. Eine rüstige alte Dame öffnet langsam die Eingangstür und schaute misstrauisch durch den freien Spalt.

 

Was wollen Sie von uns, mein Herr?“ fragte sie höflich mit leiser Stimme.

 

Ich heiße Hans Reinhard. Ich möchte Ihre Tochter Rosemarie besuchen, die ich während des Krieges in einem Krankenhaus kennen gelernt habe. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich noch an mich erinnern können, Madame. Wissen Sie, ich bin der deutsche Unteroffizier aus der kleinen Dorfkirche, der sich damals um Ihre Tochter gekümmert hat und sie ins Hospital bringen ließ“, erzählte Reinhard mit stockender Stimme.

 

Die alte Dame riss plötzlich die Augen weit auf und schlug völlig überrascht die Hände vors Gesicht. Offenbar konnte sie sich an alles noch genau erinnern. Sie war ja selbst dabei gewesen. Im gleichen Moment schwang die Tür ein Stück weiter auf und eine junge hübsche Frau stand im Gang. Sie trug ein schickes, blaufarbenes Blümchenkleid, das ihre makellose Figur besonders gut betonte.

 

Es war das Mädchen Rosemarie, und sie sah noch hinreißender aus, als damals im Krankenhaus.

 

Mutter, wer steht da vor unserer Tür?“ fragte Rosemarie und drehte ihr Gesicht zum offenen Eingang herum.

 

Es ist der junge deutsche Wehrmachtsunteroffizier aus der kleinen Dorfkirche, der dich damals ins Hospital bringen ließ und damit dein Leben rettete. Er besuchte dich auch dort. Er ist jetzt zu uns gekommen, um dich wiederzusehen, Rosemarie.“

 

Die junge Frau erschrak ein wenig, fing sich aber sogleich wieder und setzte ein überwältigendes Lächeln der Freude auf. Nur ihre Augen hielt sie geschlossen.

 

Bitte ihn zu uns herein, Mutter! Er soll wissen, dass ich all die Jahre auf ihn gewartet habe. Ich konnte ihn einfach nicht vergessen. Ich habe nur einmal in sein Gesicht gesehen und war sofort verliebt ihn. Seine Stimme klang so sanft und voller Güte, als er sich bei mir entschuldigte. – Ja damals, da konnte ich noch sehen...“

 

Hans Reinhard wusste bereits von der Blindheit seines geliebten Mädchens und was in den zurückliegenden Jahren mit ihr geschehen war. Er hatte es rechtzeitig von einigen Nachbarsleuten aus dem Haus erfahren. Er war von ihrer Behinderung nicht enttäuscht. Im Gegenteil! Er liebte sie noch mehr, als je zuvor. Noch im Gang fielen sich die beiden jungen Menschen in die Arme und küssten sich lange und innig.

 

Leise schloss die alte Dame die Tür. Dann gingen sie alle drei ins gemütlich ausgestattete Wohnzimmer. Rosemaries Mutter machte sich anschließend in der kleinen Küche zu schaffen und richtete Kaffee und Kuchen für alle her.

 

Es wurde ein langer Tag und eine noch längere Nacht für Hans und Rosemarie.

 

Endlich hatten sie zueinander gefunden. Es sollte ein Wiedersehen fürs ganze Leben werden.

 

***

 

Unten, lässig mit der Schulter an einer hell erleuchteten Straßenlaterne in der Rue Saint Gilles gelehnt, stand Eth, der Engel, der stets dafür sorgte, dass alle Dinge zur rechten Zeit passierten.

 

Es war eine klare Nacht. Ein lauer Wind strich durch die Pariser Straßen.

 

Eth schaute zufrieden nach oben in einen wunderschön funkelnden Sternenhimmel. Gerade in dem Augenblick als er gehen wollte, hörte er eine sanfte Stimme hinter sich.

 

Du hast deine Arbeit hier beendet. Gehe nun wieder und tue, was dir Neues aufgetragen wird. Deine nächste Reise wird dich in eine ferne Welt führen, auf der gerade intelligentes Leben im Begriff ist zu entstehen. Ihnen soll Liebe und Mitgefühl eingeimpft werden. Lasse alles zur rechten Zeit passieren. Eine große Aufgabe kommt auf dich zu. Der große Attraktor“ will es so...“, hörte er die flüsternde Stimme noch sagen, bevor sich die Welt um ihn herum zu drehen begann.

 

Sein menschlicher Körper wurde schwächer und schwächer, bis er sich bald nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Schließlich stürzte er kopfüber auf das harte Pflaster und blieb dort regungslos liegen.

 

Eth hatte das Gefühl, in ein bodenloses, schwarzes Loch zu fallen.

 

So sieht also das Ende diese Körpers aus, den ich nur vorübergehend bewohnen durfte. Meine Zeit in dieser Welt ist abgelaufen. Ich habe getan, was man mir aufgetragen hatte“, sagte er zu sich selbst mit leiser Stimme und ein Gedanke schoss ihm dabei durch den Kopf, wie es wohl in der kommenden Welt sein würde, auf die seine unsterbliche Seele jetzt unaufhaltsam zuschritt.

 

 

© Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.12.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Aus dem Wald in die Pfanne ... Tief unterm Büschel Gras versteckt, mit einem Blatt noch abgedeckt, beobachtet ein Pilz im Wald so manch befremdliche Gestalt. Sie schlurfen, ein paar trampeln auch, in Stiefeln und 'nem Korb vorm Bauch, das scharfe Messer in der Hand, den Blick zum Boden stets gewandt. Ein Freudenschrei, ein scharfer Schnitt, so nehmen sie Verwandte mit; und der versteckte Pilz, der weiß, im Tiegel ist es höllisch heiß. So brutzeln aber will er nicht! Da bläst ein Sturm ihm ins Gesicht, es rauscht und wirbelt ringsherum, schon bebt der Wald - ein Baum fiel um. Genau auf seinen Nachbarn drauf. Das ändert seinen Denkverlauf: "Welch übles Ende: Einfach platt! Da mach' ich lieber Menschen satt." Drum reckt er sich aus dem Versteck, er will jetzt plötzlich dringend weg: "Vergesst mich nicht! Ich bin gleich hier und sehr bekömmlich, glaubt es mir."

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