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Mein Schrei

Da war es wieder. Dieses Gefühl! Zornig, erregt und enttäuscht! Es sind oft Kleinigkeiten, Banalitäten. Aber zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einem bestimmten Kontext, dann passt es eben, oder aber auch nicht!
"Lies dir das selbst noch einmal laut vor!" So der gut gemeinte Ratschlag, der mich abends um 22.00 Uhr per E-Mail erreichte.
"Was denkst du, was ich getan habe, du...", höre ich meine Gedanken sich zu Wort melden, die dann aber abrupt nach dem "du" abbrechen. Das Regulativ hat eingegriffen!
Nun gut. Sicherlich. Man kann geteilter Meinung sein. Über Geschmack lässt sich bekanntermaßen ja nicht streiten. Und ja, ich erhebe auch gar keinen Anspruch, der nächste Nobelpreisträger in Literatur zu sein; "oder doch?" schiebt sich ein kurzer Gedanke hinterher.
Und ja, in Klasse 8 oder 9 habe ich im Deutschunterricht wohl eher nicht durch Aufmerksamkeit und Hingabe geglänzt. Damals. Damals als Gedichte, Verse, Reime etc. nicht nur gelesen werden mussten. Eine Phalanx kleiner, dünner, gelber Reclam-Hefte in meinem Arbeitszimmer erinnert noch heute daran. Nein, es wurden uns auch unzählige Fremdwörter entgegengeschleudert. Fremdwörter, welche zwar Zugang zu meinen Ohren fanden, aber nicht von meinem Verstand verarbeitet wurden. Jambus, Trochäus, Dactylus, Anapäst, ... All diese Begriffe verwirrten mich, und ich assoziierte mit ihnen eher finsterstes Mittelalter oder das Mesozoikum, das Zeitalter der Dinosaurier, als die Lyrik.
Aber an diesem Abend, fast vierzig Jahre später, war es nicht Frau Marquart-Beermann, sondern Manfred, der mir hier empfindlichst auf den Zahn fühlte! 
Manfred. Manfred, nein! und das möchte ich hier einmal von vornherein klarstellen!, nicht jeder Manfred ist ein zu scharfer Kritiker. Und es gibt mit Sicherheit viele sehr liebenswerte Manfreds. Vielleicht ist dieser Manfred ja auch ganz nett. Aber er hat mich verletzt!, hat mich getroffen; in diesem sehr passenden, unpassenden Kontext und Zeitpunkt. In diesem Moment!
Außerdem, wenn ich das noch gerade zu meiner Verteidigung anführen darf, außerdem gab es da auch einen Manfred in meiner Kindheit. Einen Pre-Jambus/Trochäus/etc.-Deutschunterricht-Manfred. Das sind jetzt schon mindestens fünfundvierzig Jahre her.
Jener Manfred auf jeden Fall hatte es sich, so meine Erinnerung, zur damaligen Lebensaufgabe gemacht, Kinder die fünf bis sechs Jahre jünger waren als er selbst, zu drangsalieren. Unliebsame Erinnerungen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Dennoch ist der Kritiker-Manfred dadurch ja nun schon doppelt belastet. Wer will mir da meine leichte Aversion nicht nachsehen?

"Lies dir das selbst noch einmal laut vor!". Gefolgt von dem Zusatz "Wirst du schon selber merken!"
War die manfredische Kindheitserinnerung eher an dem Vornamen des Kritikers festzumachen, war es dieser eine Satz "Lies dir das selbst noch einmal laut vor!", der mich gedanklich und emotional viel kürzer in die Vergangenheit reisen ließ. 

Vor ein paar Jahren weilte ich für einige Wochen in einer Klinik. Müller, seines Zeichens Oberarzt, leitete zweimal wöchentlich die Gruppentherapie. Das Markenzeichen dieser, unserer Gruppentherapie war Schweigen. Ja, für eine Gruppentherapie nicht zwangsläufig sehr förderlich, zumindest nicht für die teilnehmenden Patienten, war es aber doch Müllers Art und Weise, uns, die Patienten,  zu fordern. Wir, die wir Unterstützung, Anleitung und Zuspruch benötigten, wir wurden mit unserem eigenen Schweigen gefoltert. Hatte der Peiniger sich ausgiebig an unserer Verunsicherung gelabt, war er es selbst, der 
dann nach einer gefühlten Ewigkeit dieses Schweigen brach. Nebenbei bemerkt, bin ich mir nach wie vor ziemlich sicher, dass die Gruppentherapie viel mehr gelebt hätte, von viel mehr Dynamik und Austausch geprägt gewesen wäre, hätte Müller gleich zu Beginn der Therapiestunde das Schweigen gebrochen - ad probationem sisti oportet!
Es war aber nicht nur das Schweigen. Nein, ich darf auch nicht verhehlen, dass seine spröde Art, seine Arroganz, es uns Patienten nicht leicht machte, uns zu öffnen.
An einem Freitagmorgen im September folgte ich Müllers unhörbarem Lockruf. Und auch damals hatte es gewissermaßen etwas mit Lyrik, beziehungsweise eher mit Prosa zu tun. Ich setzte mich zu der Zeit mit vielen Themen auseinander. Und eine meiner gedanklichen Arbeiten befasste sich mit dem Leben. Kurz zusammengefasst, ich projizierte das Leben in eine Person, stellvertretend für alle Leben. Dieses Leben wurde vom Interviewer ... - na was? was wohl? ... interviewt!
Ich berichtete in dieser einen Therapiestunde vor der ganzen Gruppe von dem Interview, zitierte die eine oder andere Passage, ging auf das Leben ein usw. Bis mir Müller plötzlich sehr brüsk ins Wort fiel: "Wo sind Sie denn dabei?" und "Das ist mir alles zu abstrakt!" um weiter folgen zu lassen "So kommen Sie doch nicht an sich heran!" und um dann abzuschließen "Sie müssen sich selbst spüren und nicht immer Stellvertreter sprechen und denken lassen!". Bähm. Der saß. Knock-out. Vor versammelter Mannschaft. 

"Lies dir das selbst noch einmal laut vor!" und "Wo sind Sie dann dabei? Das ist mir alles zu abstrakt!" spielen in einer Liga. Und ich fühle mich schlecht. Bin der Spielball, kann nicht kontrollieren. Bin den Spielern ausgeliefert. Und ärgere mich. Ärgere mich über mich selbst. Ärgere mich über mich selbst, dass ich mich ärgere! 
Dann betrachte ich das Bild in meinem Arbeitszimmer. Das Bild, dass ich an jenem Freitagnachmittag in der Klinik auf meinem Zimmer gemalt habe. In Anlehnung an Edvard Munchs "Der Schrei" nannte ich es Mein Schrei!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.12.2021. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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