Gerhard Kemme

Gleis 10 oder Ankunft kann doch nicht so schwer sein

Gepäckträger Fiete Schnabeldonk hielt freundlich die Hand auf, während die pensionierte Lehrerin Münze für Münze aus ihrem Portemonai kramte. Schön erzählen konnte er. Sein Arbeitsplatz war der riesige Hauptbahnhof. Seit einem Jahrzehnt mit Schnellbahnanschlüssen zum Airport und zum Landeplatz der Shuttles. Beide sahen wie am blauen Himmel der Stadt eine silbrig glänzende Fähre aus dem Orbit hereinschwebte und Passagiere aus dem fernen Sternenbild Wega zur Landebahn brachte. Schwierige Kundschaft die Weganer aber absolut reich. Sie sagte tschüß und der Porter marschierte zum Gleis 10, wo sich die Türen der Schnellbahn schon öffneten. Über den Rolltreppen war die Balustrade schon wieder mit Schaulustigen gefüllt. Am Waggon-Ausgang verhedderte sich eine Passagierin beim Aussteigen und schwenkte ihr Arm-Modul hilfesuchend zum Gepäckträger. Selbst auf ihn wirkte das Bild ungewohnt. Die Bewohnerin der Wega war noch völlig durchsichtig aus Kunststoff-Bauteilen zusammengesetzt. Durch ihre Organe spülte irgendeine blutartige Flüssigkeit. Alle Körperteile hatte man auf dem fernen Planeten abnehmbar und austauschbar konstruiert. Aber selbst ihr “Blut“ stellte kein Endprodukt dar, sondern wurde immer wieder durch Zugabe kleiner Dosen Chemikalien und Essenzen optimiert. Sie war geschwächt und wollte etwas Belebendes. Er stöpselte den Translator in die Buchse und sie wies auf eine aktivierende Arznei aus ihrem Medizinkoffer. “Wo ist meine Puppe?“ Er wurde in ihrem Kramkoffer fündig. Sie stützte sich auf ihn, langsam gingen sie in Richtung Taxi-Stand. Auf seinem Karren stapelten sich ihre Koffer und Taschen. Dann war der Weg zuende. “Sie soll sich anziehen!“, riefen die Leute am Treppenaufgang. Wieviel Fremdheit verträgt eine Stadt? Nur ein gläserner Modulkörper mit sichtbaren Bauteilen ohne Haut und Kleidung ließ alte Vorurteile gegen “Eindringlinge“ aus fernen Sternenwelten wieder wach werden. Sie zeigte auf ihren “Hautkoffer“, der eine kombiartige Überstreifhaut enthielt. Gepäckträger-Profis sind unerschütterlich. Erst das linke Bein, dann das rechte usw. Wie eine Schaufenster-Puppe stand sie nun unten vor der Rolltreppe. Oben vertrieben sich einige Punks die Zeit mit Ticket-Betteln. Ratze hatte seine Ratte Mausi wie immer im weit aufgerissenen Mund. Plötzlich ein Schrei, die Ratte sprang heraus und schnappte sich die Weganer-Puppe. Fiete machte das Richtige, er träufelte Beruhigungsmittel in die Einfüllöffnung der Sternenprinzessin. Ratze schrie sein “Scheissvieh, lang die Puppe her oder du kommst in Wald!“ Reumütig brachte Mausi das Püppchen zum Herrchen, der Dolly lässig zum Gepäckträger warf. Nun noch das Gewand der Prinzessin: Qual der Wahl. Heute sollte es ein dunkelblaues eng auf Taille geschnittenes Kostüm sein. Ihre Kunstformen wurden optisch unterstrichen und eine Schwester der Samariter meinte “Das kleidet dich super, mein Kind!“ Vor der Taxe öffnete die Weganerin ihren Geldkoffer und packte Gold-Nuggets in seine beiden Hände. “Danke Porter, du warst klasse!“

Könnte es in 50 Jahren so aussehen? Die Zukunft ist offen - eine Möglichkeit. Plötzlich ist die fremde Sternenprinzessin da. Besucherin der Stadt, wo man sich Bescheid sagt, wenn man zur Spi geht, statt in der Mönke zu bummeln. Die Probe aufs Exempel, wie extrem kann ich städtische Zukunft heute denken. Bahnhöfe sind zentral, für manchen untersagter interessanter Aufenthaltsort. Automatisch kommt Atmosphäre rüber: Kommen, gehen, prickelnde Fremdheit der Reisenden: Die reden doch anders und tragen sonstwas Klamotten. Das Personal immer unaufgeregt und cool. Latent die Frage, schafft sie das oder besser kann die Stadt soviel Fremdheit ertragen?Gerhard Kemme, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.10.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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