Jalesu

Wenn ein Mensch fortgeht

Ich sitze in diesem Zimmer, welches voller Spielsachen ist und mir nun doch so leer vorkommt. Legosteine liegen auf dem Boden verstreut, ein Feuerwehrauto ist umgekippt und das Bett ist so absolut unordentlich... wie nicht anders zu erwarten bei einem Kind. Zu der Unordnung habe ich mich hinzugesellt: Ich genau so unordentlich wie das Bett, die Legosteine und das umgekippte Feuerwehrauto sitze in dem Kinderbett und habe meinen Kopf im Kissen vergraben. 
Ich kann nicht begreifen wie dieses Bett nun für immer leer bleiben soll, wie die Wärme aus den Falten des Kopfkissens, der Bettdecke und letztendlich dem Bettlaken immer mehr und immer mehr entweicht und am Ende das Bett genau so kalt ist wie er. 

Wenn jemand geht der dir so nahe steht, dann fehlt nicht nur etwas: Nein es ist so, als ob nicht nur dein Herz aus deinem Körper gerissen wird, sondern auch noch die Seele folgen will – sie verlässt deinen Körper – verlässt dich und will zu ihm, zu der Person die dir so fehlt und für immer und ewig bei ihr bleiben. 
Im Nichts sind wir dann vereint und ich werde dich festhalten und du wirst bei mir bleiben und ich werde dann da sein, wenn du mich brauchst und nicht mehr fehlen. 

Das Fenster ist offen. Ich fühle die laue Morgenluft und spüre die ersten Strahlen der Sonne. Wieder habe ich nicht geschlafen denke ich und kann nur vermuten wie meine Augen heute aussehen. 
Durch den offenen Spalt des Fensters verirrt sich ein Schmetterling und setzt sich zu mir aufs Bett. Ich blicke ihn an: Er ist von einem tiefen blau wie das Meer... Noch nie habe ich einen solchen Schmetterling gesehen. Die Ränder seiner Flügelfalten sind tiefschwarz verfärbt und glänzen an verschiedenen Punkten, als ob sie mit kleinen Diamanten oder Edelsteinen besetzt wären. 
Der diamantschwarzblaue Schmetterling schaut zu mir – es ist wirklich so: Er blickt mir in die Augen und scheint die tiefe Müdigkeit meines Lebens in ihnen zu spüren. Zaghaft schwebt er einige Zentimeter in die Luft und lässt sich auf meiner linken Schulter nieder. 
So leicht wie eine Feder und doch spüre ich ihn, das vorsichtige Streifen seiner Flügel, wie sie mich berühren, wie er mich streichelt und wie er all die Trauer von mir nehmen möchte... doch das geht nicht. 
Wie gerne würde ich hier aufstehen und der Schmetterling würde fortfliegen und mit ihm würden all der Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung verflogen sein. 

Es muss einige Zeit vergangen sein, denn mittlerweile sehe ich sogar die Sonne. Der Schmetterling leistet mir immer noch Gesellschaft. Ich habe ihm keinen Namen gegeben. Alles was man benennt wird früher oder später eine Bindung zu dir aufbauen und wenn diese Bindung zerschnitten wird ist es dieser Schnitt der schmerzt. 
Aufstehen muss ich doch und gehe zusammen mit dem Schmetterling in die Küche um etwas zu tun, irgendetwas um diese Leere zu vergessen – ihr etwas zum Füllen zu geben oder um sie (wenigstens eine kurze Zeit)verdrängen zu können. 

Heute verbringe ich diesen Tag mit dem Schmetterling – das habe nicht ich entschieden, sondern der Schmetterling. Er folgt mir bei jeder noch so kleinen Tätigkeit. Ich gehe in die Küche: er folgt mir, ich gehe zur Spüle um mich wenigstens ein wenig frisch zu machen: Er folgt mir. Ich mache den Wasserkocher an: Er folgt mir ich gieße mir heißes Wasser in meine Kaffeetasse und ich habe schon Angst, dass der Schmetterling in die Tasse geflogen ist... aber nein, er beäugt diese aus sicherer Entfernung. „Toller Schmetterling“ denke ich.  Toll und schön und intelligent. 
Stille. Gedanken füllen die Stille des Raumes und geben ihr einen Klang. Erste Worte, zaghaftes Tippeln von Schritten, stolpern, fallen, schreien und dann doch wieder aufstehen, lachen und weitermachen. 
Wenn ich mein Leben beschreibe, beschreibe ich dein Leben, oder andersrum? 

Es gibt glaube ich niemanden der mich verstehen kann – außer der Schmetterling. Ich rede mit ihm und er hört zu, flattert mit Flügeln und gibt mir recht. 
Wir gehen raus zum Spielplatz und er und ich schaukeln. Er schubst mich an und fliege... so hoch und weit, wie es nur schafft ein Schmetterling mich zu schubsen. Wir bauen Sandkuchen und lachen bei dem Gedanken ihn mit Zucker zu bestreuen, was wir dann übrigens wirklich tun. (Gegessen haben wir die Kuchen dann allerdings nicht.) 

Der Schmetterling und ich gehen zum Kindergarten. Um diese Uhrzeit ist da zwar noch niemand, aber der Schmetterling stellt mich all seinen Freunden vor. Sie flattern im und um den Kindergarten herum und alle sind sie bunt und farbenfroh und voller Leben. 

Er fliegt voraus und ich folge ihm. Die Schule ist sein Ziel hier kenne weder ich noch er sich aus, aber wir hätten uns ausgekannt, wenn.... und so erkunden wir fliegend gemeinsam die Schule. Das Klettergerüst, die Spinne und ganz oben sind wir der Sonne so nah, wie nur wir es können. 

Wir betreten eine Blumenwiese. Die Sonne scheint und um mich herum sind Blumen, Schmetterlinge, Farben und Freude und das Leben. Ich liege im Gras und der Schmetterling ist neben mir. 

Langsam wird es dunkel. Die Gedanken werden weniger und ich habe Angst neben mich zu blicken, denn ich weiß er wird dann nicht mehr da sein. 
Ich danke ihm dafür, dass er wiedergekommen ist, für meine Erinnerungen, mein Glück, die Freude ... alles...  und wenn es nur ein Tag war. 

Alleine ich und mein zu Hause – niemand ist da, nur ich und meine Gedanken, doch dies ist die erste Nacht, wo ich einige Stunden Schlaf bekomme. 

Am nächsten Tag begrüßt mich die Sonne. Ich weiß, irgendwann wird es besser werden... ich werde ihn nie vergessen und das will ich auch nicht. Er gehört zu mir, zu meinem Leben und wird es immer bleiben.
Langsam gehe ich in sein Zimmer hebe das Feuerwehrauto auf, lege es in sein Bett und decke das Feuerwehrauto sachte zu. 
Tränen fallen in das Bett und ich verabschiede mich. ... Weder das Zimmer noch ich sind ordentlich oder in Ordnung, aber es wird besser.

Vor dem Fenster schwebt ein schwarzdiamantblaufarbener Schmetterling und blickt in das Zimmer... Ich sehe ihn nicht, aber er ist da. 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Als junges Mädchen erfand ich schon lustige Geschichten, die ich meiner Nichte erzählte. Meine Dichterei geriet in Vergessenheit, erst meine Kinder Walter und Beatrix gaben mir, durch ihren herzigen Kindermund die Idee wieder zu schreiben.
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