Ramon Kania

Der zweite Schatten

Es war einige Stunden nach Mitternacht. Die Welt hatte sich in ihr nächtliches Schweigen gehüllt und Autos, sowie Menschen waren gleichermaßen verstummt. Ein leichter Geruch von Asche lag in der Luft, vermutlich von den hiesigen Kraftwerken, zumindest kam er mir vertraut vor.

Ich befand mich auf meinen Weg nach Hause, dabei verfolgte ich den gleichen Straßenlaternen bestückten Weg wie eh und je. Mein Schatten stauchte und streckte sich, jedes Mal, wenn ich eine der Laternen passierte.

"Mein einziger Begleiter diese Nacht.", bemerkte ich selbstironisch spöttelnd und verfolgte dabei wie gebannt seine nahezu hypnotischen Bewegungen.

Plötzlich bemerkte ich etwas. Ein zweiter, von mir ausgehender Schatten stand blass neben den ersten. Ich ging weiter und musste überrascht feststellen, dass sich seine Größe und Ausrichtung nicht änderte, ganz gleich, ob ich mich nun auf ein Licht zu oder davon wegbewegte.

Während der erste um mich herum tanzte und kreiste blieb dieser ganz ruhig. Die einzige Veränderung, die ich wahrnahm, war, dass er dunkler zu werden schien, desto weiter ich mich vom Licht entfernte. Befand ich mich zwischen zwei Laternen, da bekam er schon etwas beinahe Bedrohliches. Wie eine in schwarz gekleidete Person kam er mir dann vor, so deutlich waren seine Konturen in der Dunkelheit zu sehen.

Ich beschleunigte meinen Schritt. Der Wunsch, schnell mein Heim zu erreichen, flammte in mir lodernder Kraft auf. Der Geruch nach Asche hatte sich währenddessen verschärft. Er war penetrant und brannte in der Nase. Ich war mir mehr als sicher ihn schonmal irgendwo gerochen zu haben.

Unweigerlich begann mein Herz zu rasen, wenn ich das Licht verließ und ich hörte mich tief einatmen, wenn ich es wieder betrat. Das Gefühl von einem gewaltigen Blick verfolgt zu werden erdrückte mich.

Das Schlimmste war die Nähe. Die Präsenz unter meinen Füßen, an meiner Seite. Das Grinsen in meinem Rücken…

Das… Grinsen?

Ich blieb stehen. Unter einer Laterne. Langsam drehte ich meinen Kopf.

Da war es. Im Augenwinkel konnte ich es sehen. Weiße zahnreihen in einem grotesk großen Mund.

Es wurde breiter.

Ein Schweißtropfen fiel von meiner Stirn auf den Boden. Er zerplatzte beim Aufprall auf den Schatten und wurde sogleich von der Dunkelheit verschluckt.

Es wurde noch breiter. Noch mehr Zähne blitzten in dem schwarzen Schlund auf.

“Renn!”, schrie eine Stimme in meinem Kopf. “Renn, du Vollidiot!”

Ich rannte. Ich rannte so schnell, dass meine Lungen brannten und sich meine Sicht schwarz färbte. Die Lichter verschwammen, alles wurde unscharf. Die Konturen um mich herum lösten sich auf. Nur eine blieb so deutlich wie zuvor, egal wie schnell sich meine Füße bewegten.

Dann kam mein Haus in Sichtweite. Unter all den Farben erkannte ich diesen hässlichen Grünton sofort.

Erleichterung stieg für eine Sekunde in mir auf, in der nächsten blieb mein Fuß an einem überstehenden Pflasterstein hängen und die Welt kippte vornüber.

Ich fiel und meine Schulter rutschte über den harten Stein. Schmerz brannte auf, doch dieser konnte warten. In größter Eile drehte ich mich auf den Rücken und blickte voller Entsetzen auf einen riesigen Schatten, der nicht länger an den Boden gekettet war, sondern sich vor mir aufbäumte und über mich rüber beugte.

Unweigerlich musste ich in den Rachen der Kreatur blicken. Es stank nach Rauch und Asche. Eine Erinnerung versuchte sich aus dem Tal des grauen Vergessens zu erheben. Bilder stiegen auf. Feuer und Rauch tanzten um die Spitzen eines kleinen Hauses.

Nein, das Feuer, welches ich sah, glühte und loderte in dem Schlund der Bestie hinter den messerscharfen, weißen Zähnen, es war längst keine bloße Erinnerung mehr. Ich spürte das Brennen, hörte die Schreie, sah die Frau, wie sie mit aller Kraft gegen das Fenster hämmerte.

Dann stürzte es sich auf mich. Wie damals riss ich meine Hände vor die Augen und ließ die Welt verschwinden. Ich schrie, während das Feuer um mich herum tobte.

Und als ich die Augen wieder öffnete war alles vorbei. Was blieb war ein dunkler Schatten an meiner Seite, der mich aus der Dunkelheit heraus beobachtete, grinsend darauf wartend, dass Einsamkeit und Finsternis mich ihm irgendwann wieder schutzlos ausliefern würden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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