Klaus-D. Heid

Das System

Als man die Leiche der kleinen Janice Lundberg fand, begann eine Jagd, wie sie selbst Washington noch nie gesehen hatte. Der Umstand, dass Janice die Tochter des damaligen Präsidentenberaters war, setzte eine Polizeiaktion in Gang, in deren Verlauf es über dreihundert Festnahmen gab. Zwei speziell eingerichtete Sonderkommissionen arbeiteten rund um die Uhr, um eines der scheußlichsten Verbrechen aufzuklären, mit dem die Beamten jemals zu tun hatten. Alle registrierten Männer, die irgendwann einmal wegen Kindesbelästigung oder Kindesmissbrauchs vor Gericht standen, wurden, meist bei Nacht, aus ihren Wohnungen abgeholt, um sie verhören zu können. Einige der Männer wurden von uniformierten Beamten bei der Arbeit abgeholt oder gerade dann, wenn sie mit ihren Familien am Frühstückstisch saßen. Jede Zurückhaltung, jede Rücksichtnahme und jedes Fingerspitzengefühl blieb bei der gnadenlosen Jagd nach dem Mörder auf der Strecke.

Von den Medien als ‚bestialische Tat eines Monsters’ bezeichnet, gab es auch in der Öffentlichkeit jede Rückendeckung für die zuvor nie da gewesene Härte der Polizei. Wochenlang wurden in den Zeitungen Fotos und Namen der Verdächtigen gedruckt, deren Aufenthaltsort nicht sofort festzustellen war. Jeder Bürger Washingtons konnte in den Sondersendungen der Fernsehsender ‚life’ verfolgen, wie intensiv es bei den Ermittlungen voranging und welche Fortschritte die Polizei bereits gemacht hatte.

Sowohl die Öffentlichkeit, als auch die Medien übten einen gewaltigen Druck auf die Polizeibehörden aus. Gleichzeitig sorgte der politische Druck dafür, dass es monatelang nur eine einzige Schlagzeile in den Zeitungen gab:

Noch immer ist der Mörder der siebenjährigen Janice auf freiem Fuß!

Im Verlauf der ersten drei Monate nach der Tat wurden die leitenden Beamten mehrfach ausgewechselt, weil die Öffentlichkeit bei jedem Misserfolg einer Polizeiaktion sofort die Fähigkeiten der leitenden Beamten in Frage stellte.

Sechs Monate, nachdem ein Obdachloser den zerstückelten Körper der kleinen Janice Lundberg unter Bergen von Pappen und Getränkedosen gefunden hatte, vermeldete die Polizei, dass der Täter – mit großer Wahrscheinlichkeit – gefasst sei. Alle Hinweise ließen den Schluss zu, dass der Festgenommene zur Tatzeit auch am Tatort war. An einem Pullover des Verdächtigen wurden Blutspuren festgestellt, die eindeutig von Janice Lundberg stammten. Darüber hinaus ergab eine Genanalyse, dass eine am Tatort gefundene Zigarette ebenfalls vom Verdächtigen geraucht wurde.

Solange es ging, wurde die Hautfarbe des Tatverdächtigen stillgeschwiegen, um eventuelle Rassenunruhen zu vermeiden. Es war den Polizeibehörden sehr wohl bewusst, wie heikel die Situation durch die vorangegangenen Polizeiaktionen geworden war. Erste Stimmen wurden laut, in denen Bürgerrechtsbewegungen der Polizei willkürliche Gewalt gegen Farbige vorwarfen.

Eine ganze Weile hielt sich auch die Presse an eine Vereinbarung, die Identität des Tatverdächtigen nicht preiszugeben, bevor nicht ausreichende Beweise für seine Schuld vorlagen. Man wollte den Namen des Mannes erst veröffentlichen, wenn ganz sicher feststand, dass es sich bei ihm hundertprozentig um den Täter handelte.

Die befürchteten Unruhen brachen aus, als Martin B. Stinsky, Reporter der Washington- Day-Press, die Vereinbarung brach. Seine Zeitung veröffentlichte sowohl den Namen, als auch ein Foto des Verdächtigen. Das Blatt, das als Boulevardzeitung keinen besonderen Ruf genoss, zündete mit dieser Information einen Flächenbrand von Gewalt und Eskalation, in dem die Umstände der Tat nur noch eine verschwindend geringe Rolle spielten.

Der Name des festgenommenen achtzehnjährigen farbigen Jungen lautete Marc Jefferson Freeman.

Während die Ermittlungen gegen ihn noch in vollem Gang waren, hatte ihn ein Teil der Stadt bereits als brutalsten Mörder des Jahrhunderts verurteilt. Ein anderer Teil, der sich meist aus farbigen Einwohnern zusammensetzte, beschuldigte die Polizei der Rassendiskriminierung. Man forderte eine unabhängige Kommission, die Rassenübergriffe gegen Farbige untersuchen sollte. Die Frage, ob Marc Jefferson Freeman tatsächlich der Täter war, geriet in dieser Forderung in den Hintergrund.

Der Staatsanwalt musste schnell reagieren. Er wusste, dass zulange Ermittlungen unabsehbare Folgen haben konnten. Einerseits verlangten die Bürger der Stadt eine schnelle und harte Verurteilung, während radikale Gruppen ihren Einfluss geltend machten, um Freeman als Alibi für Proteste zu nutzen. In letzter Konsequenz blieb der Justiz keine andere Wahl, als Freeman den Prozess früher als geplant zu machen. Auch Morris Lundberg, der Präsidentenberater und Vater der kleinen Janice, drängte auf ein schnelles Ende der Ermittlungen.

Im August 1984, acht Monate nach Freemans Verhaftung, begann der Prozess gegen ihn. Wenngleich der Staatsanwalt wusste, dass seine Indizienbeweise auf relativ wackligen Füßen standen, rechnete er dennoch mit einem zügigen Schuldspruch durch die Geschworenen. Er wusste auch, dass sich die meisten Bürger der Stadt – und somit auch die meisten der Geschworenen – nach einem Ende der Rassenunruhen und nach einem Ende des ‚Lundberg-Falles’ sehnten.

Die Stadt wollte ihren Frieden zurück haben.

Es gab keinen Deal zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger Freemans. Da Marc Jefferson Freeman nicht die Mittel hatte, sich einen der besten Strafverteidiger der Stadt zu suchen, lag sein Leben nun in den Händen des wenig engagierten Pflichtverteidigers Karl Pressburger und des farbigen Richters Issak B. Livingston.

Somit stand das Urteil bereits fest, bevor es verkündet wurde. Richter Livingston stand viel zu sehr unter Erfolgsdruck, als sich um einen wirklich fairen Prozess bemühen zu können. Zum Einen drängte ihn der Justizminister, die ‚Angelegenheit’ zu einem schnellen Ende zu bringen, und zum Anderen konnte er sich aufgrund seiner Hautfarbe nicht erlauben, extremistischen Forderungen farbiger Extremisten nachzukommen. Er hatte gar keine andere Wahl, als den Prozess in die einzig mögliche Richtung zu lenken...

Die Geschworenen benötigten elf Tage für ihren Schuldspruch.

Am 19. Februar 1988 entdeckte eine Gruppe spielender Kinder die furchtbar zugerichtete Leiche der dreizehnjährigen Heather Ford.

Niemand erfuhr jemals davon, dass alle Umstände der Tat mit dem Mord an Janice Lundberg übereinstimmten. Niemals erfuhr die Öffentlichkeit davon, dass der genetische Test, der angeblich bei Marc Jefferson Freeman durchgeführt wurde, niemals stattgefunden hatte. Es blieb für immer ein Geheimnis, dass der Pullover Freemans, auf dem man das Blut der kleinen Janice gefunden haben wollte, nach dem Prozess verloren ging.

Nur vier Tage nach dem Mord an Heather Ford wurde der Täter durch Zufall gefasst. Seine Freundin informierte die Polizei, weil sie sich von John Grubinsky betrogen fühlte. Sie erzählte den Beamten, dass Grubinsky sich mehrmals unter Alkoholeinfluss des Mordes an Janice Lundberg gerühmt hatte. Er prahlte damit, wie geschickt er verstanden hatte, die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen. Bei der anschließenden Durchsuchung von Grubinskys Wohnung fand die Polizei eindeutige Beweise, die Grubinsky ohne jeden Zweifel als Mörder der beiden Mädchen identifizierte. Im Laufe der Ermittlungen konnten die Beamten ihm weitere sieben Morde nachweisen, die Grubinsky in anderen Bundesstaaten verübt hatte.

Unter der erdrückenden Last von Beweisen legte Grubinsky ein umfangreiches Geständnis ab.

Marc Jefferson Freeman war zu diesem Zeitpunkt längst tot. Kurz nach seiner Verurteilung wurde er von militanten Anhängern einer ‚White Power’-Bewegung unter der Dusche ermordet. Wer Freeman die Kehle durchschnitt, ihm seine Genitalien abtrennte und sie ihm in den Mund stopfte, blieb für immer ungeklärt.

Es gab niemals eine öffentliche Rehabilitierung Freemans. Grubinsky hingegen wurde für die Morde an acht Mädchen zu lebenslanger Haft verurteilt. Den Mord an Janice Lundberg hatte bereits ein anderer gesühnt...

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