Volker Walter Robert Buchloh

Der Kinderwagen

Der Kinderwagen

 

von Volker Buchloh

2021

 

Der Weg schlängelte sich unregelmäßig durch die flache Landschaft. So als sei er unschlüssig, ob er Kontakt mit der Kiefer auf seiner linken Seite suchte, oder dann doch mehr eine Annäherung zu der lang gewachsenen Birke auf der anderen Seite. Er war mitunter so tief ausgetreten, dass an einigen Stellen den sandigen Untergrund sichtbar wurde, oder nur die Bodendecker davon abhielt Richtung Himmel zu wachsen. Aber es war diese Unregelmäßigkeit, welche den Charme dieser Landschaft ausmachte.

Ich befand mich auf einer Wanderung in der Lüneburger Heide. Es war allerdings nicht die Zeit, wo man üblicherweise die Heide zu Fuß durchquert. Meine Frau und ich hatten gestern im Hotel den Heiligen Abend verbracht. Die Feier war einfach und schlicht gewesen. Es gab einen Kinderchor, allerdings von einer CD. Aber die Besitzerin der Herberge hatte selbst unter einem mächtigen und herrlich geschmückten Christbaum eine rührige Geschichte vorgetragen. Sie spielte in einem verschneiten, einsamen Tal in den Bergen. Wir hatten gut gespeist. Wie immer zu viel. So drängte mein Körper am nächsten Morgen nach Betätigung. Meine Frau hatte sich vor zwei Tagen den Fuß verstaucht. Er war inzwischen auf die Dicke eines Ofenrohres angeschwollen und musste ständig gekühlt werden. Die Entfernung zwischen dem Hotelzimmer und dem Speisesaal konnte sie mit Hilfe eines Aufzugs gerade so zurücklegen. An den geplanten Ausflügen in die Heide war also gar nicht zu denken. So hatte ich mich alleine auf den Weg gemacht. Die Wirtin hatte mir versichert, mehrmals nach der Kranken zu sehen und gegebenenfalls deren Wünsche zu erfüllen.

Der Ort, zu dem das Hotel gehörte, lag am Rande der Naturschutzparks. Die Wanderwege führten davon direkt in das autofreie Gebiet des Naturschutzes. Ich hatte keinen festen Plan, wohin es gehen sollte. Einfach drauflos, das war meine Devise. Es gab bald jede Menge Wegweiser, einige sogar mit Kilometerangaben. Wenn der Rückweg irgendwann anstand, dann würde ich darauf zurückgreifen können. Erst einmal nicht. So folgte ich meinen unsystematischen Eingebungen. Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, den vorgesehenen Pfaden der Heide zu folgen. Mal waren es Wirtschaftswege, häufig asphaltiert, mal hatten sie einen Schotterbelag. Im Moment folgte ich einer Sandpiste, die sich wie betrunken durch die Landschaft bewegte. Tief atmete ich durch. Befreit vom Stress meines Berufes genoss ich die Ablenkung.

Mein Beruf ist am Besten durch den Begriff Informatik zu begreifen. Er befindet sich nicht in der Liste von Berufen, die im Berufsbildungsgesetz aufgelistet sind. Von Zuhause aus bin ich Techniker, aber durch eine Reihe von wechselnden Arbeitsplätzen war ich dort gelandet, wo ich heute war. Meine Tätigkeit erstreckte sich darin, einen Betrieb zukunftsfest zu machen. Man könnte auch sagen: zu digitalisieren. Bis vor gut einer Woche hatte ich das bei einer Schreinerei geschafft, welche Büromöbel als Sonderanfertigungen vertrieb. Sie hatte knapp vierhundert Arbeitsplätze, die miteinander vernetzt werden mussten. Anfang des neuen Jahres würde ich das bei einem Montagebetrieb ähnlicher Größe versuchen. Ich hatte den neuen Arbeitsplatz bereits im Vorfeld besichtigt und schnell erkannt, hier gab es bereits den Einsatz mehrerer Computer. Aber deren Vernetzung miteinander war hier das Problem. So wie die Rechner unterschiedlichen Alters waren und sich in Ausstattung und Rechnerleistung fundamental unterschieden, so gab es auch eine Reihe von Programmen, die nicht kompatibel miteinander waren. Für die laienhafte (was die Informatik betraf) Betriebsführung war das ein unlösbares Problem, aber für mich eine leichte Aufgabe. Das waren für mich die liebsten Kunden, welche selbst keine Lösung ihrer Probleme sahen und hocherfreut waren, wenn sie dann ein Fachmann löste. Der Blick eines Fachmanns auf die Tätigkeit eines anderen Fachmanns war immer von Anerkennung geprägt. Man wusste, dass Fachkenntnisse ihren Preis hatten. So war diese Berufsgruppe gerne bereit, den entsprechenden Preis dafür zu zahlen.

Der Bewuchs der Gegend hatte sich, während meine Gedanken mit mir wanderten, stark verändert. Ich befand mich nun in einem Waldstück. Der Pfad führte steil nach oben. Ich schätzte die Höhendifferenz lag bei glatt zwanzig Metern. Während der Blick zur linken Seite in undurchdringlichem Unterholz gefangen blieb, zeigte das Bild in der anderen Richtung hinter wenigen Baumreihen verdeckte Freiflächen mit vereinzeltem Bewuchs. Auf dieser Seite traten bald die Baumstämme leicht zurück. Eine Graslandschaft wurde erkennbarer. In nicht weiter Entfernung von mir grasten vier Rehe. Sie mussten mein Kommen eher bemerkt haben als ich ihren Anblick. Denn während zwei von denen ungestört den Boden absuchten, beobachteten mich die anderen beiden intensiv. Als Gefahr für ihr Leib und Leben schien mich die Gruppe nicht anzusehen, denn sie fuhr unverhohlen in den Tätigkeiten Beobachten und Äsen weiter fort. Auch ich unterbrach die Bewegung meiner Beine und genoss das friedliche Bild vor mir. Und dann fiel es mir ein. Ich befand mich ja in einem Naturschutzgebiet, einem Schutzbereich wo sie nicht gejagt werden durfte. Tiere merken so etwas schnell. Als den Tieren mein Verharren dann doch verdächtig erschien, bewegte sich einer der Beobachter langsam schräg zu mir von mir weg. Die hungrigen beiden hoben den Kopf und folgten. Erst dann fielen die ersten Tiere in eine schnellere Gangart. Nun erkannte ich, es handelte sich um zwei Rehe mit ihren Kitzen. Als die Gruppe vor mir in einem respektablen Abstand meinen Weg kreuzte, wollten sie mir zeigen, was sie so auf dem Kasten hatten. Mit einem einzigen, gewaltigen Sprung überwanden sie beiden älteren Tiere Weg und Wegesrand. Der Nachwuchs benötigte dafür die doppelten Sprünge. Noch einige weitere Sprünge und das Dickicht des Wäldchens hatte ihre Bewegungen aufgesogen.

Ich hatte schon eine beachtenswerte Strecke zurückgelegt. Meine Gedanken begannen, sich mit dem Rückweg zu beschäftigen. Natürlich war mir bewusst, den gleichen Weg sollte es nicht zurückgehen. Es dauerte nur wenige Kilometer, als eine Weggabelung mir eine Entscheidung abverlangte. Rechts oder Links? Spontan lenkte ich meine Schritte nach links. Hatte ich mich bislang immer ziemlich geradeaus bewegt, so würden meine zukünftigen Entscheidungen mich immer auf links festlegen. So einfach, so gut.

Ich war dieser Überlegung schon zweimal nachgekommen. Vor mir lag eine offene Fläche mit einer riesigen Ausdehnung von Erika. Nur vereinzelt lockerten einige Birken das Bild der Landschaft auf. Meine Füße bewegten sich automatisch, während meine Augen in der Bewegung die Landschaft ablichteten. Ich hatte es zunächst nicht bemerkt, weil ich nicht danach gesucht hatte. An einer Stelle, bei der mehrere Birken den Boden als geeignet zum Wachsen angesehen haben mussten, stand ein Kinderwagen. Man hatte ihn vom Wege weg in das Heidekraut geschoben, aber er stand dort unübersehbar. Ich muss an dieser Stelle gestehen, wie mich die Neugier überwältigte. Was machte ein Kinderwagen in dieser menschlichen Einsamkeit? Mein Gehirn entwarf eine Reihe von Lösungsmöglichkeiten, aber letztendlich würde ich es nur erfahren, wenn ich dort wäre.

Es war ein Kinderwagen, wie ich viele so gesehen hatte. Er war dunkelblau, hatte vier Räder und einen klappbaren Sonnenschutz. Wer entledigt sich so weit ab von menschlichen Siedlungen eines Kinderwagens? Dieser Gedanke erübrigte sich sofort, als ich in den Kinderwagen blickte. Darin schlief ein Baby. Erst im Nachhinein sollte ich feststellen, dass es sich um einen Jungen handelte. Erschrocken trat ich zurück. Es waren meine Bedenken, man könnte mich für einen Kinderschänder halten, falls man mich entdeckte. Es muss aber meine rasche Bewegung gewesen sein, als das kleine Wesen begann, mit lauter Stimme auf sich aufmerksam zu machen. Es konnte nicht älter als ein Jahr sein. Aber in der Bestimmung eines Babyalters bin ich kein Fachmann. Ängstlich schaute ich mich um, in der festen Absicht mich sofort zu entschuldigen, die Ruhe dieses Kindes gestört zu haben. Ängstlich schaute ich mich um. Wo steckte diese Person, zu der der Kinderwagen gehörte? Zunächst dachte ich an die Verrichtung einer Notdurft. Dieser Gedanke erübrigte sich schnell. Denn durch das Geschrei meines Kindes würde ich so schnell wie möglich auf der Bildfläche erscheinen, um nach meinem Kind zu schauen. Aber keiner erschien. Das kleine Wesen schrie so herzerweichend, dass ich mich veranlasst fühlte, es zu beruhigen. Nun habe ich keinerlei Erfahrung mit Kleinkindern. Bei unserem ersten geglückten Versuch einen Nachwuchs zu zeugen, erlitt meine Frau eine Fehlgeburt mit der Folge, ihr mussten die Eierstöcke entfernt werden. Wohl oder übel mussten wir uns damit abfinden, diesen Teil unserer Familienplanung abzuschreiben. Ich habe also keine Ahnung in der erfolgreichen Behandlung von Kleinstkindern. Aber durch Erfahrungen aus dem Bekanntenkreis wusste ich um die beruhigende Wirkung eines schaukelnden Kinderwagens. Während meine Hände das Gefährt automatisch in Bewegung hielten, suchte mein Gehirn nach Erklärungsmöglichkeiten. Eingeschlafen zu sein, erschien mir als keine logische Möglichkeit. Da schien mir eher die Möglichkeit einer Erkrankung oder eines Unfalls – oder was auch immer – gegeben zu sein, bei der sich die oder der Besitzer des Kinderwagens davon entfernt haben musste. Für sich Rettung zu suchen zum Beispiel. Für das Kind kam diese Möglichkeit nicht in Betracht, denn die roten Backen, das Lächeln der Gesichtszüge, die kräftige Stimme auf sich aufmerksam zu machen, sprachen ein eindeutiges Bild. Spiralförmig umrundete ich den Kinderwagen, ohne eine Spur menschlichen Wesens oder menschliche Spuren zu finden. Das Wesen ließ ich indes schreien. Sei es als Warnsignal für die Eltern, aber auch als Hilfe für mich, es später wiederzufinden. Langsam gewann in mir die Überzeugung Platz, wohl für dieses Stückchen Mensch verantwortlich zu werden. Ich beschloss zu warten. Der oder Diejenige würden gleich erscheinen, um das Rätsel zu lösen. Aber es geschah nichts in dieser Richtung. Auch nach einer knappen Stunde des Wartens nicht. Ich musste etwas unternehmen, nur was?

Nun verfluchte ich meine Entscheidung, mein Mobiltelefon Zuhause gelassen zu haben. Im Beruf war ein solches Gerät praktisch zu einem festen Teil meines Körpers geworden. Tag und auch nachts war ich in Rufbereitschaft. Für Firmen, bei denen der Ausfall einer computerunterstützten Produktion Hunderttausende Euro pro Stunde oder Minute anfielen, nahmen gerne die Kosten eines Informatikers in Kauf, der sich seine Stunde mit 100 Euro bezahlen ließ. Das hört sich im Moment ziemlich überhöht an. Aber darin war auch die Bereitschaft verbunden, zu jeder Zeit – auch mitten in der Nacht – zur Verfügung zu stehen. So war für mich nur dann Urlaub, wenn ich dieses Störgerät nicht bei mir führen musste. Nun rächte sich meine Bequemlichkeit. Jetzt, wo ich dringend Hilfe herbeisehnte, war sie mir verwehrt. Mir war aber bewusst, ich musste handeln. Aber was sollte ich tun? Na, ganz einfach! Was macht man mit einem Kinderwagen in der Heide?

Ich schob ihn. Mir war klar, dies musste auf dem kürzesten Weg zum Hotel geschehen, oder zum kürzesten Weg zum nächsten Telefon. Was auch immer. Mich trug aber immer die Befürchtung, man könnte mich für einen Kindesentführer halten und eine gewisse Zeit einsperren. Natürlich wäre ich bald frei, aber …

Bei diesem Gedankenwirrwarr war mir zunächst nicht aufgefallen, wie schwer sich dieser Kinderwagen schieben ließ. War das der wahre Grund des Zurücklassens? Warum hatte man dann das Kind nicht mitgenommen? Das wäre doch einfacher gewesen, als dieses Gefährt weiter zu schieben. Aber ein Kind auf den Arm nehmen? Ein Gedanke, der mich persönlich abschreckte. Möglicherweise könnte ich das zarte Wesen verletzen. Dann doch lieber schieben. Mein Sport war das Rudern, im Doppelzweier. Ich würde doch so ein Hindernis durch die Heide schieben können. Davon war ich überzeugt. Und mit dieser Überzeugung drückte ich den Wagen durch den Heideboden.

Nach zwei Kilometern kreisten meine Flüche nur noch um denjenigen, der zu faul oder was auch immer gewesen war, die Lager dieses Kinderwagen zu schmieren. Zu allem Ärger begann nun das Baby erneut zu schreien. Ich merkte sehr schnell, dies war kein Ruf nach Aufmerksamkeit. Man sollte immer von sich auf andere schließen. Die Bewegung hatte meinem Magen gutgetan. Nun meldete er durch zaghaftes Klopfen an, ihn in dem Ausmaß zu füllen, wie ich es gestern noch gemacht hatte. Hunger war der Anlass für das Brüllen. Das war mir schnell klar. Womit aber zum Teufel sollte ich hier ein Baby füttern?

In einem Netz unter dem Kopfteil des Wagens fand ich schließlich Utensilien, die auch einem Laien wie mir klar machten, sie könnten Lebensmittel für Kleinkinder enthalten. Denn in der Tat gab es eine Alu-Flasche, welche eine Flüssigkeit enthielt. Ich probierte. Klar doch! Bis dieser junge Mensch sich für Steak und Pommes Frites entschied würde es noch eine Weile dauern. Es war zwar nicht nach meinem Geschmack, aber die Flüssigkeit war genießbar. Mir war aber klar, so wie ich würde es nicht trinken können. In einer Blechdose fand ich eine Auswahl an Schnullern. Da ich deren unterschiedliche Bedeutung nicht kannte, wählte ich nach dem Zufallsprinzip das blaue Exemplar aus. Während all dieser Überlegungen und Handhabungen hatte der Schreihals keinen Grund gesehen, sein Gebrüll einzustellen. Ich hatte gehofft, sobald seine Lippen die Flasche berührten, wäre Schluss damit. Weit gefehlt. Mir blieb nichts anderes übrig, es wiederholt zu versuchen. Auf einmal hatte der kleine Kerl Mitleid mit mir – Oder hatte er es endlich begriffen? Auf jeden Fall begann er, Gebrüll gegen Essensaufnahme einzutauschen. Was ein winziger Körper so an Flüssigkeit aufnehmen kann? Beachtlich!

Durch das ganze Hick-Hack der Essenspause konnte sich meine Armmuskulatur erholen. Nach der Essenspause galt es wieder, dieses ungeölte Ungetüm durch den Sandboden zu schieben. Dankenswerterweise änderte sich bald darauf der Belag meines Weges. Schotter füllte nicht nur zunächst die ausgefahrenen Löcher des Weges, er nahm bald auch dessen gesamte Oberfläche ein. Nun ging es zwar flotter voran, aber der Fluch auf den faulen Menschen der Wartung von Kinderwagen blieb.

Nun war ich schon länger unterwegs, als ich es geplant hatte, aber immer hatte ich noch keinen gefunden, bei dem ich dieses Baby losgeworden wäre. Ich hatte schon des Längeren bei den Wegweisern nach der Richtung gesucht, in dessen Ort ich nächtigte. Aber sein Name tauchte nun nicht mehr auf. Nur ein Sammelsurium von Symbolen zeigte die Möglichkeiten an, sich in diese oder eine andere Marschroute in die Landschaft erfolgreich bewegen zu können. Aber das wollte ich nicht. Ich wollte ins Hotel, um die Polizei zu informieren. Und das so schnell wie möglich. Was ich suchte, fand ich nicht. Nirgendwo gab es den Wegweiser auf dem: "Nach Hause!" stand. Ich musste mich auf mein Orientierungsvermögen verlassen. Nur war dieses nicht sehr ausgeprägt, wie ich schon des Öfteren bei früheren Wanderungen schmerzlich erfahren musste. So blieb mir nichts anderes möglich, als dazu ein gesundes Gottvertrauen mit an Bord zu holen.

Aber das Schicksal meinte es immer noch nicht gut mit mir. Es wurde durch ein erneutes Brüllen eingeleitet. Hunger konnte aber diesmal nicht der Anlass sein. Die Antwort fand diesmal nicht mein Ohr sondern meine Nase. Aus dem engen Raum der Schlafstätte stieg mir ein übler Geruch ins Gesicht. Nun hatte ich ein echtes Problem. Ich habe schon immer Schwierigkeiten damit gehabt, jemand Fremden den Hinter abzuputzen. Selbst bei mir erledigte ich diese Aufgabe so schnell wie möglich. Mein inzwischen geleerter Magen revoltierte bei dem Gedanken, was nun auf mich zu kommen würde. Aber mein Verstand diktierte mir, aus dieser Nummer kam ich nicht heraus. Der Innenraum des Kinderwagens erschien mir zu klein, um einen Austausch der Windeln vorzunehmen. Mein Blick hetzte hin und her. Die Möglichkeit zum Wechseln bot sich mir nach gut zwei Kilometern. Das, was eigentlich als Sitzgelegenheit gedacht war, um sich bei der Wahrnehmung der Landschaft zu erbauen, wurde nun zu einem Babywickelplatz umfunktioniert. Das Netz am Kinderwagen enthielt auch für solche Fälle einige Hilfsmittel. Eine bis zur Hälfte abgewickelte Haushaltsrolle konnte da dienlich sein. Kaum hatte ich benutztes Papier in den Händen, ließ ich es einfach angewidert fallen. Genau so, wie ich es nach den gelösten Klettverschlüssen mit der All-in-one-Windel gemacht hatte. Bald sah der Ort der Muße aus wie eine Papierdeponie. Dem schreienden Wesen waren meine Bemühungen egal. Erst mit einer Kombination von lächerlichen Geräuschen und ebensolchen Gesten vergaß es, was ihn vorher gestört hatte. Dabei musste alles schnell ablaufen, um eine Unterkühlung des Würmchens zu vermeiden. Um mir den Schweiß von der Stirne wischen zu können, griff ich zur arg geschwundenen Küchenrolle, nicht ohne vorher penibel zu prüfen, ob das Papier unbenutzt war.

Es wurde inzwischen dunkel. Mein Kräfte schwanden, ebenso wie die Hoffnung auf ein Ende meiner Tortur. Aus einer harmlosen Wanderung war eine Fitnessstrecke der Superklasse geworden. Dunkelheit in einem unbekannten Gelände war eine Potenzierung meiner Bedenken und Ängste, was nun auf mich zu kommen würde. Nun haben meine Mitmenschen die angenehme Angewohnheit, ihre Wohnzimmer in Helligkeit zu tauchen, wenn der Schein der Sonne ausbleibt. Ich glaubte meinen Augen nicht, als ich, nach weiteren mühsamen Kilometern, auf einmal eine Lichterkette vor mir erkannte. Sie erschien mir wie ein Zielband, wie man es von Marathonläufen her kennt. Ich mobilisierte meine restlichen Kräfte. Nicht, das ich je den Gedanken an Aufgabe verschwendet hätte, aber bislang hatte ich damit hausgehalten. Nun wusste ich: Nur bis dorthin musst du es schaffen. Weiter brauchte ich es nicht.

Der Rest ist schnell berichtet. Natürlich schaffte ich den Rest meines "Spaziergangs". Ein einzelstehendes Haus wurde immer größer, bei dem die Konturen begannen in der aufziehenden Dunkelheit zu verschwinden. Nur ein einziges Fenster war erleuchtet. Es verwunderte mich im Nachhinein wie ein so trübes Licht so weit scheinen konnte. Eine Klingel gab es nicht und wenn ich ehrlich sein soll, ich hatte es auch gar nicht erwartet. Also rief ich mehrmals laut: "Hallo!"

Mit dem Öffnen einer Türe wurde nicht nur ein Teil des Vorhofes beleuchtet, auch die Silhouette eines Menschen wurde sichtbar. Er trag einen Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Auch ich konnte nun besser sehen. Ein älterer Herr mit mittellangem weißem Kopfhaar und brustlangem Bart in eben dieser Farbe empfing mich. Seinem Aussehen nach zu urteilen schien es ein Schäfer zu sein. Jedenfalls sahen doch so Schäfer auf Postkarten immer aus. Ich musste natürlich meine Geschichte loswerden. Auf meine Bitte hin zückte der Hausbewohner aus der Tasche seines fußknöchellangen Mantels ein mobiles Telefon, um die Polizei anzurufen. Als ich begriff, dass ich nun mit der Außenwelt in Verbindung stand, erbat ich ebenfalls das Herbeiholen eines Taxis. Meinen Kopf nun frei habend, dachte ich an meine Frau, die sich inzwischen bestimmt Sorgen um meine lange Abwesenheit gemacht haben musste. Das Kommen beider wurde mir in Aussicht gestellt. Da das Taxi das erste zu sein schien, welches kommen sollte, erklärte sich der Bärtige bereit, die Polizei über alles Nötige zu informieren. Ich schrieb meinen Namen und den des Hotels auf einen Zettel und machte mich auf den Weg, dem Taxi entgegen.

Im Hotel angekommen, musste ich mehrfach meiner Frau den Ablauf und die Ereignisse des heutigen Tages schildern. Beim ersten Durchgang kommentierte sie meinen Bericht mit der Bemerkung: "Ja, ja! Weihnachten ist ja das Fest der Kinder. Nun hast du dann doch ein Kind zu Weihnachten gehabt." Nur mit Mühe konnte ich sie bei der Wiederholung meiner Erlebnisse davon abhalten, unmittelbar Kontakt mit den Ordnungskräften aufzunehmen. Am folgenden Morgen gelang mir diese Beschwichtigung nicht mehr. Meine Frau bestand darauf, den Lautsprecher des Telefons zuzuschalten. So konnte sie hautnah die Informationen erfahren, die man mir berichtete. Aber dann wurde es mysteriös.

Nach einigen Nachfragen rückte der Beamte an der anderen Seite der Verbindung mit der Information heraus, gestern Abend hätte keiner wegen eines Babys bei der Polizei angerufen. Er teilte mir auch definitiv mit, dass keines im weiten Umkreis als vermisst gemeldet war. Seine Frage, wo ich das Kind abgegeben hätte, konnte ich nur mit fehlender Ortskenntnis entschuldigen. Meine Frau hatte mir inzwischen das Mobilphon aus den Händen gerungen. Sie bestand energisch darauf, man möge gefälligst Krankenhäuser, Notärzte oder Ähnliches kontaktieren, um dort die Einlieferung eines Kleinkindes in Erfahrung zu bringen. War es mir nur mit Mühe möglich gewesen, diesem Beamten Informationen, geschweige denn Gefälligkeiten aus der Nase zu ziehen, ihr gelang es problemlos. Nach einer halben Stunde nervösen Wartens meldete sich tatsächlich der selbe Teilnehmer wieder. Wir sollten uns keine Sorgen machen, beschied er. Es wäre nichts geschehen, was man der Polizei zu melden hatte. Was er mit dem Anruf nicht bezweckt hatte, stellte sich sofort ein. Wir machten uns Sorgen. Meine Frau wollte sofort aufbrechen, die gesamte Lüneburger Heide abzusuchen. Nur mit Mühe gelang es mir, sie davon abzuhalten.

Die Geschichte mit dem Kinderwagen war indes noch nicht beendet. Obwohl mich lokale Nachrichten im Urlaub nicht interessierten, wurde ich diesmal mit der Nase darauf gestoßen. Der Name stand in großen Lettern auf der ersten Seite der Lokalnachrichten. Bei einem Juwelier war über die Weihnachtsfeiertage eingebrochen worden. Der oder die Täter hatten zum Abtransport ihre Beute einen Kinderwagen benutzt. Dieser sah genau so aus wie derjenige, den ich mit großen Mühen durch die Lüneburger Heide geastet hatte. Farbe, Gestell, Ausstattung stimmten überein. Sogar an den Aufkleber einer Rassel konnte ich mich sofort erinnern. Hatte ich den Wagen deshalb mit so gr0ßer Mühe durch den Heideboden geschoben, weil die Beute aus dem Überfall dort verborgen waren? Hatte ich mich der Beihilfe zu Raub und Einbruch schuldig gemacht? Schließlich befanden sich jede Menge Fingerabdrücke von mir an diesem Tatfahrzeug. Ich las weiter, was mir den Schweiß auf den Rücken trieb. Der Kinderwagen hatte unter dem Kopfteil ein Netz, welches all das enthielt, was man brauchte, um mit einem Baby unterwegs zu sein. Aber er konnte es wiederum nicht gewesen sein, denn der Fundort – meine Frau bestand sofort auf eine Berechnung der Entfernung – war von unserem Hotel gute 30 Kilometer entfernt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.01.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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