Maike Opaska

Ausstieg

Das Jahr 2018 bestand für mich aus Reisen und auf all meinen Reisen dominierte die Stimmung des Ausstiegs. Noch war ich nirgends angekommen, noch wollte ich nirgends ankommen. Ich wollte nur fort sein, entkernt, gern heimatlos. Der Abschied vom Gewohnten korrespondierte mit den Durchgangs-und-Warteräumen, in denen die Fremden schon präsent waren, ihre Erdteile einfließen liessen, sich zu einer Gesellschaft der internationalen Gesichter zusammenschlossen und dahinter einfach da waren: müde, ungeschminkte, ambitionslos wirkende Gesichter.
in der Wartehalle des Flughafens von Lima sind sie so: Neben mir ein blondierter Asiate, der sich auf seinem Laptop Bilder von Nashörnern ansieht und seufzt. Vor mir fährt um  6.45 Uht der eiserne Rolladen zum Schaufenster des Juweliers H.Stern hoch. Dahinter wartet schon ein laufender Fernseher, der eine verjährte Fußballpartie des brasilianischen Titelverteidigers überträgt. Die Shoppingmeilen sind kaum mehr regional identifizierbar, nehmen aber den Rang von Sehenswürdigkeiten ein. Sie reduzieren was Architektur an ihnen ist und dehnen ihre Schauflächen aus. Die passenden Menschen dazu sind jene, die auch das Innere zu einer Auslage machen,. Sie stehen in diesen Läden und ihre Camonflage ist der Protz.

Nach der Ankunft in Santiago de Chile ist die Freude erst einmal nichts als eine Strasse, ein Grünstreifen, eine Häuserfront und Primeln, die neben Containern dahin welken. Ein Pinochet Double, geadelt von der Noblesse der Grausamkeit tritt vor ein Haus und entsorgt Altpapier. Auf einer Terrasse oberhalb eines neueren Shop trinke ich zwei Piso Sour, bin sogleich davon etwas beschwipst, finde alles wunderschön umd wanke zum Hotel. Dort verschlafe ich den Einbruch des Nachmittags und wache erst wirklich auf unter der Einwirkung eines Duschgels namens Magellan Breeze. 
In der Dämmerung finde ich mich dann auf dem Corso von Santiago. Die Fußballmannschaft hat sich eben gerade gegen den lokalen Favoriten duchgesetzt und jetzt kommej sie alle voller Frohsinn auf die Strassen. Die Krüppel ohne Arme und Beine liegen nebeneinander vor ihren Hüten und schnappen mit ihren Mündern nach der Krempe des Hutes, kaum ist eine Münze hineingefallen. Daneben wartet schon ein Mann, der seinen verwachsenen Beinstumpf in den Verkehr hält. Eine Tanzgruppe führt neue Schritte vor und in der Luft öffnet die Schönste ihre Arme und Augen und segelt dem Asphalt entgegen ohne ihn zu streifen.
 Eine Sängerin animiert die Gaffer, ein Zauberkünstler hat einen verlegenen Jungen mit der Brille vor vielen Schaulustigen blamiert und der Akkordeonspieler spielt und läßt sich von nichts beirren. 
Da wo sich die beiden Hauptadern der Fußgängerzone kreuzen, schreiten ein paar Halbwüchsige auf und ab, in den erhobenen Händen hielten sie Schilder mit der Aufschrift  "abrazzos gratis" , aber aus Angst vor Taschendieben bleibt kaum jemand stehen und so umarmen sie sich immer wieder wechselseitig, um zu zeigen wie harmlos sie doch sind.
Ich bin schon eine ganze Weile unterwegs, einsam und allein in diesem Gewühle von fremden Menschen und werde von dem glücklichen Bild der Umarmenden immer einsamer. Ohne sie vorher bemerkt zu haben, steuert 
S eine sehr korpulente Frau mit bäuerlichem Gesicht auf mich zu, breitet die Arme aus, ich tue es ihr gleich. Sie hat einen sehr starken Griff, hält mich fest, lächelt noch intensiver und schiebt mich dann von sich weg. - Synchron sagen wir "gracias" und beide lachen wir darüber. Als ich im Hotel meine Taschen durchsuchte, fehlte mir nichts. Ich hatte ja auch nur Stifte und Kugelschreiber eingesteckt.

Aisen heisst die Provinz, in die ich aufbreche, die südlichste Stadt von Chile. Ihr Name wird auf Darwin zurückgeführt, "Ice ends" soll er gesagt haben. Ich steige die Gangway hinunter auf dem kleinen Flugplatz von Coyheique, steige dirket in den Wind und dieser Wind hat alle Farben. Er ist satt und fahl, er tuscht oder streicht mit dem Quast, er atmet, treibt, bläst, schlägt zu, hechtelt um die Ecken. Er ist eine Dimension und wahrhaft der Atem der Natur. Die Blumen fällt er im Beet.
Ich bin im Reich der Tehuelche, den hiesigen Ureinwohnern, die das Schicksal der Indianer Nordamerikas teilen. Von den Kolonisatoren bekämpft und nahezu ausgerottet, in Reservate gepfercht und dem Alkoholismus ausgeliefert, existieren sie weiter als allenfalls folkloristische  Größe.
Auf den Steinen hinterließen die Ahnen Handabdrücke in Rot oder Blau.  Mal hatten sie mit den Handtellern gedruckt, mal mit den Handflächen ganze Umrisse hinterlassen. Auf diese Weise markierten sie Orte, an denen sie sehen konnten, was auf sie zukäme.
Erst sterben die Völker aus, dann erleben die Nachkommen ihre Auferstehung als Andenken, überlege ich, bevor ich in der kleinen Hacienda einschlafe.

PS  Wenn erwünscht, folgt Fortsetzung

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.01.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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