Klaus-D. Heid

„Die Fahrausweise bitte...!“

Der uniformierte Mann sah nicht aus, wie jemand, den man mit einem kecken Augenzwinkern von der Unwichtigkeit eines Fahrscheins überzeugen konnte. Im Gegenteil! Genau so wie diesen Kontrolleur, stellte ich mir als kleines Mädchen immer den schwarzen Mann im Keller vor, vor dem ich eine Heidenangst hatte.

Noch sieben Sitze vor mir, dann hatte er meinen Platz erreicht. Bis es soweit war, würde es keine Haltestelle geben, an der ich, unschuldig grinsend, die Bahn verlassen konnte. Es sah gar nicht gut für mich aus. Es sah sogar kohlrabenschwarz für mich aus, wenn mir nicht ganz schnell etwas einfiel. Aber was? Mir blieb keine Zeit, um intensive Schwarzfahr-Strategien zu entwickeln. Die Fakten lagen klar auf dem Tisch. Ich fuhr ohne Fahrkarte! Diese Tatsache kostete mich nicht nur siebzig Mark, die ich natürlich nicht hatte – sie führte auch zu einer Anzeige gegen mich. Mein Vater würde mir den Hals umdrehen, wenn er davon erfuhr. Seine Tochter! Sein liebes, braves rechtschaffendes Kind als kriminelles Straßenbahnluder asozialer Machenschaften...

Der Typ, der drei Sitze vor mir saß, kramte nervös in seiner Tasche. Wusste ich’s doch! Das ungeduldige wissende Gesicht des Kontrolleurs sprach Bände. Einen winzigen Augenblick dachte ich daran, wie gerne der Kontrolleur wohl mit einer doppelläufigen Flinte bewaffnet, seinen Dienst schieben würde. Ich hörte ihn in meiner Phantasie bereits sagen:

„Sprich Dein letztes Gebet, Schwarzfahrer – und sieh mir in die Augen, wenn ich abdrücke...!“

Die buschigen Augenbrauen des Kontrolleurs erreichten beinahe seinen spärlich vorhandenen Haaransatz. Seine linke Hand kramte bereits in der Jackentasche, in der ich entweder seinen Block mit Anzeigevordrucken oder ein Klappmesser vermutete. Noch immer suchte der Typ vor mir seinen Fahrschein. Ich hörte ihn dabei sagen, dass er ganz, ganz sicher sei, ihn noch vor zwei Minuten in der Hand gehabt zu haben. Nun stand er auf, um seine Hosentaschen zu durchwühlen. Auch nichts! Er versuchte, eine Hand in die Gesäßtasche der Hose zu quetschen, was angesichts der Enge der Hose ein echtes Problem darstellte. Als er sie endlich rein- und wieder rausgezogen hatte, gab’s immer noch keinen Fahrschein. Beobachtet vom Kontrolleur und von allen Fahrgästen in der Bahn, wischte sich der Junge den Schweiß von der Stirn. Immer wieder murmelte er, dass er schwören kann, einen Fahrschein gelöst zu haben.

Plötzlich ein juchzender Aufschrei, der mich wieder etwas dem drohenden Unglück näher brachte. Der Typ hatte den Fahrschein endlich in kleinen zerrissenen Fetzen unter seinem Sitz gefunden. Zu seinem Glück war der Datum- und Uhrzeitstempel noch zu erkennen, so dass sich der Kontrolleur zufrieden gab. „Nächstes Mal achten sie besser auf Ihren Fahrausweis, junger Mann! Sie dürfen hier nicht einfach alles auf den Boden werfen, wenn sie nicht eine Anzeige wegen mutwilliger Verschmutzung einer städtischen Bahn riskieren wollen...!“

Er hätte geschossen. Ich weiß es genau. Wäre er bewaffnet, hätte er den Jungen abgeknallt! Kontrolleure wie er hassten es wie die Pest, wenn man ‚ihre’ Straßenbahn verschandelte.

Da war er nun. Groß, breitschultrig und drohend baute sich die Gestalt des Kontrolleurs vor mir auf. Vielleicht sollte ich es erst einmal mit meinem besten Verführungslächeln versuchen? In neun von zehn Situationen half mir dieses Lächeln, einen wilden Bären in ein knabberndes Kaninchen zu verwandeln.

„Den Fahrausweis bitte, junge Frau...!“

Lange in den Taschen zu kramen, machte keinen Sinn. Es würde nur die Wut der Bestie steigern, wie ein Tiger gereizt wird, wenn man ihm eine Woche lang jede Nahrung verweigert. Sollte ich die Wahrheit sagen?

„Lieber Herr Kontrolleur. Ich habe gar keinen Fahrschein...! Ich bin doch so ein armes, kleines unschuldiges Mädchen, das kaum mit dem bisschen Taschengeld vom ersten bis zum fünfzehnten des Monats klarkommt. Muss ich jetzt für viele Jahre ins Gefängnis...?“

Diese Masche ließ ihn garantiert kalt. Meine ganz ansehnlichen Beine konnte ich auch nicht in Szene setzen, weil ich ausgerechnet heute die schlampigste Hose trug, die es in meinem Kleiderschrank gab. Alles in allem sah ich ganz schön abgerissen aus. In den Augen des Kontrolleurs war ich also eine ‚typische Schwarzfahrerin’, die mit der festen Absicht in die Bahn gestiegen ist, die Stadt um den Fahrpreis zu betrügen.

„Haben Sie mich nicht verstanden, Fräulein? Den Fahrausweis bitte...!“

Gerade wollte ich versuchen, ein paar Tränen herauszupressen, um mich seiner Gnade auszuliefern, als plötzlich ein gewaltiger Ruck durch die Straßenbahn ging. Wer keinen Sitzplatz gefunden hatte, musste sich mit aller Kraft an den Halteschlaufen festkrallen, wenn er nicht zu Boden gehen wollte. Vereinzelt schrieen ein paar ältere Damen, die scheinbar einen terroristischen Anschlag vermuteten. Auch der Kontrolleur wurde durch das abrupte Stoppen der Bahn nach vorne geschleudert – und landete mit seiner gesamten Körpermasse auf meinem Schoß! Völlig entgeistert sah mich der Mann an, während er nach den passenden Worten für eine Entschuldigung suchte. Mit knallrotem Kopf rappelte er sich wieder auf, rang einen Moment nach Luft – und sagte dann mit einem undeutbaren Lächeln auf den Lippen zu mir:

„Wir beide wissen, dass Sie keinen Fahrschein haben, nicht wahr? Wir beide werden es auch niemandem verraten, stimmt’ s? Der Handel gilt aber nur für heute, junges Fräulein...!“

Er hatte so leise gesprochen, dass nur ich ihn hören konnte. Jetzt war es mein Kopf, der sich in nichts von holländischen Strauchtomaten unterschied.

Die Bahn fuhr wieder an. Über den Lautsprecher hörten wir alle den Straßenbahnfahrer, der sich bei seinen Fahrgästen für den Zwischenfall entschuldigte. Mein Kontrolleur war längst weitergegangen. Irgendwo hinter mir hörte ich ihn noch sagen:

„...das kostet Sie siebzig Mark! Ich bin von der Stadt autorisiert, Ihre Personalien aufzunehmen. Machen Sie bitte keine Schwierigkeiten, sonst bin ich gezwungen, die Polizei zu rufen...!“

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