Wolfgang Hoor

Mädchen wie Becky

 

Mädchen wie Becky

Von seinem Papa lernte Hans, wie man Naturkunde betreibt: Man sammelt Blüten oder Blätter oder auch Schmetterlinge und presst sie in einem Buch zwischen Buchseiten, und wenn sie trocken und haltbar sind klebt man sie in ein Album, schreibt darunter, worum es sich handelt, wann und wo man das getrocknete Exemplar gefunden hat und wie es heißt. Das schaut man sie sich immer wieder an, und wenn man dann durch eine Frühlingswiese geht oder durch einen Herbstwald stromert oder im Sommer Falter beobachtet, dann kann man sie benennen und von anderen unterscheiden und dann ist man ein gebildeter Naturbeobachter.

Hans kam mit seiner Sammlung nicht weit. Bei seinem Interesse für die Natur stand inzwischen ein ganz anderes Geschöpf im Vordergrund, das man leider nicht pressen und nicht in ein Album einkleben konnte: das Mädchen. Mädchen gab es überall, aber man kam nicht an sie ran. Sie gingen zu einer anderen Zeit in die Schule oder füllten andere Klassenräume, die den Jungen verschlossen waren, oder sie wurden auf dem Schulhof durch einen dicken aufgemalten weißen Strich von den Jungen getrennt. In der Kirche saßen sie links bei den Frauen, man konnte sie nicht an den Zöpfen ziehen, wie das in manchen Büchern ganz falsch dargestellt wurde, und überhaupt, sie befanden sich sozusagen in einer anderen Welt.

überhaupt, es mussten ganz andere Wesen sein als die Jungen. Schon die unpraktischen Frisuren mit Zöpfen oder ähnlichem waren total verrück, die konnte kein normales menschliches Lebewesen alleine flechten, und dann erst die Röcke! Bei Jungen wusste man wenigstens einigermaßen, wie sie unter den Hosen aussahen, und wenn sie kurze Hosen trugen, blieb nicht viel verborgen. Aber die Röcke verbargen alles. Wenn man das Glück hatte, ein lebendiges Mädchenexemplar kennen zu lernen, und man versuchte herauszufinden, wie es unter dem Rock aussah, dann war das eine Sünde und man kriegte mindestens eine Ohrfeige, wenn nicht was ganz anderes auf den Po.

Hans hatte eigentlich Glück. Er hätte Mädchen kennen können, er hatte Schwerstern. Aber die Schwestern von ihm waren vier, sieben und elf Jahre älter als er und da waren sie keine richtigen Mädchen mehr, sondern Backfische, wie sein Onkel sagte, oder junge Frauen und gehörten nicht mehr zu den Lebewesen, die Hans gerne gepresst und untersucht hätte. Die Mädchen, die Hans wie Blüten pressen und einkleben wollte, waren so alt wie er. Im Kommunionunterricht waren sie mit dabei, kicherten, ohne dass man herauskriegen konnte warum, und man dufte sie auch im Kommunionunterricht nicht an den Zöpfen ziehen.

Meistens interessierte sich Hans nicht für Mädchen. Sie waren auch draußen nur selten in greifbarer Nähe, und wenn die Jungen mit Begeisterung Fußball spielten, jubelten und heulten, wenn sie gewannen oder verloren und überhaupt außer Rand und Band geraten konnten, sah man nichts Vergleichbares bei den Mädchen. Sie waren soooo gesittet, dass sie in der Schule nicht mal den Hintern versohlt bekamen. Sie waren andere Wesen von einem anderen Stern, die man leider nicht in ein Album einkleben konnte, und eigentlich verstand Hans nicht, dass Frauen wie seine Mutter oder seine Tante oder auch seine großen Schwestern, die er sehr liebte, einmal Mädchen gewesen sein sollten.

Aber dann gab es bei den Jungen möglicherweise auch Verräter. Verräter an den anderen Jungen. Zunächst kannte er bei seinen Klassenkameraden und Spielkameraden keinen Verräter. Er wusste auch gar nicht, wie Verrat aussehen könnte. Aber dann lud ihn eines Tages seine Lieblingstante ins Kino ein. „Es spielte „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“. „Ein großartiger Film für Kinder“, sagte seine Tante und wuschelte Hans durchs Haar, „du wirst sehen, ein echter Film für Jungen, und die Jungen in dem Film trauen sich was zu, das passt bestimmt zu dir.“ Hans freute sich riesig.

Und der Tom, der im Film vorkam, gefiel ihm riesig. Er war ein Junge, dem immer was Neues einfiel und der mit den anderen eine Bande bildete. Sie stromerten durch die Gegend und badeten in einem großen Fluss und ihnen fiel immer was ein, wenn sich die Erwachsenen einmischen wollten, und dem Tom machte es nichts aus, wenn seine Tante ihm den Hintern versohlte. Er hatte einen Freund, der nicht zur Schule ging, Pfeife rauchte, total ungepflegt war, aber trotzdem riesig sympathisch war. O, so hätte er auch gern gelebt, Hans war begeistert. „Na“, flüsterte zwischendurch seine Tante. „Riesig“, flüsterte er zurück.

Alles war riesig, bis die Becky auftauchte, dieses kleine verlogene Biest, das es schaffte, aus dem Tom einen Verräter zu machen. Da waren plötzlich die Kameraden nicht mehr wichtig, da ließ er sich für eine Frechheit, die Becky auf ihre Tafel gemalt hatte, in der Schule versohlen, da machte ihn dieses Biest sozusagen zu ihrem Sklaven, und später, in einer Höhle, wo er sie endlich hätte los werden können, da setzte er sein Leben für sie aufs Spiel und rettete sie. Was für ein Mist. So kann es also einem Jungen gehen, wenn er ein Mädchen nicht in sein Album einklebt, sondern es an sich herankommen lässt.

Seine Tante wunderte sich nach dem Film, wieso plötzlich Hans den Film doof fand, und Hans wunderte sich über sich selbst, warum er seinen Unmut so frech zum Ausdruck gebracht hatte. Der Film hatte ihn misstrauisch gemacht. Ob wohl unter seinen Kameraden, die sich beim Fußball so begeistern konnten, auch vielleicht Toms dabei waren, die Verrat begingen?

Es dauerte eine Weile und viele Beobachtungen, bis er herausbekam, dass es auch in ihrem Hochhaus eine Höhle gab. Das Haus bestand aus einem Karree von 100 mal 250 Metern, und unter diesem Karree gab es eine Kellerflucht, die unter allen Wohnungen hindurchging. In dieser Kellerflucht sah er nach einem Fußballspiel seine größeren Freunde Ralf und Uwe verschwinden. Denen folgte er ins Dunkel hinein, ohne dass die es wussten. Dann war es schließlich dunkel wie in der Höhle, in der Tom und Becky gewesen waren. Er hörte Stimmen, Lachen, sah Kerzenlicht und - das war doch nicht möglich – Mädchenstimmen! Mädchenstimmen!

Hans flüchtete. Mehr wollte er nicht wissen. Er sperrte sich zu Hause in seinem Zimmer ein und schlug mit den Fäusten gegen seine Matratze. Verrat, Verrat! Die Tom-Krankheit gab es nicht nur im Film, die hatte seine Freunde angesteckt, die würde sicher noch mehr Jungen anstecken, die Tom-Krankheit war eine Seuche. O, er würde alles tun, dass er von dieser Seuche nicht infiziert würde. Alles.

Und er wusste noch nicht, wie sehr die Seuche sich ihm schon genähert hatte!

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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