Guido Fernolend

Nur Spaß

Mein Kumpel und ich legen unsere Jacken ab. Es gibt hier keine richtige Garderobe, wir verstauen sie einfach in einem etwas ruhigeren Eck. Die meisten Leute hier kennen wir, wenn auch manche nur vom Sehen. Jedenfalls machen wir uns keine Sorgen darüber, dass etwas wegkommen könnte. Wir befinden uns in einer typischen Kleinstadtkneipe. Allerdings nicht in einer derer Kneipen, in denen immer die gleichen traurigen Gestalten sitzen, die einem nach ein paar Jacky-Cola ihre gesamte Lebensgeschichte erzählen. Wobei ich zugeben muss, dass ich mir hin und wieder vorstelle, irgendwann selbst eine dieser traurigen Gestalten zu sein. Heute aber, haben wir uns für eine Lokalität entschieden, die vor allem von jüngeren Leuten besucht wird. An diesem Abend ist sie ziemlich gut gefüllt, fast alle Tische sind besetzt. Am Tresen, den wir sowieso schon priorisiert hatten, ist noch genügend Platz für uns frei. Wir setzten uns und bestellen das erste Bier. Über die Musikanlage läuft „Journey“. Mit wippendem Fuß zur Musik der Achtziger, schmeckt der erste Schluck Bier gleich viel besser. Ich frage mich, ob die jungen Leute das genauso sehen, oder ob sie lieber etwas Moderneres hören würden. Etwas nachdenklich aber beschwingt blicke ich mich im Lokal um. Neben einigen bekannten Gesichtern, zieht vor allem ein Tisch meine Aufmerksamkeit auf sich. Eine Gruppe von, wenn ich mich nicht irre, vier jungen Mädels schart sich darum. Keine von ihnen kommt mir bekannt vor. Sie scheinen gut drauf zu sein, es wird viel gelacht, sie amüsieren sich gut. Es stapeln sich bereits einige leere Gläser auf ihrem Tisch. Eine von ihnen sticht mir besonders ins Auge. Sie ist die Aktivste von allen. Sehr aufgedreht, fast schon überdreht. Ihr Smartphone scheint an ihrer rechten Hand angewachsen zu sein. Es muss so sein, denn ihre zierlichen Finger reichen kaum aus, um das Gerät zu umschließen. Sie macht permanent Selfies. Mal gemeinsam mit der einen mal mit der anderen Freundin, und zwischendurch, der Bezeichnung entsprechend, nur von sich selbst. Das Ganze vollführt sie in einer fließenden, sich ständig um den Tisch herum wirbelnden Bewegung, mit der Anmut einer Balletttänzerin. Zur Krönung kommt sie schließlich vor dem Tisch zum Stehen, streckt einen Arm in die Luft, mit dem Anderen ihr Smartphone von sich. Die Hüften schwingend und die Lippen zu „don’t stop believin’“ bewegend, filmt sie sich selbst mit ihren Freundinnen als Hintergrund.

Ich beschließe meinen Kumpel in meine Entdeckung einzuweihen.

„Hey, schau mal an dem Tisch dort drüben. Kennst du die?“

Mein Kumpel blickt schon fast zu auffällig, an den Tisch hinüber, an den ich seine Aufmerksamkeit lenke.

„Meinst du die Mädels da? Nö, noch nie gesehen.“

„Schau mal die Kleine an, die da ständig rumhüpft. Ziemlich hübsch, oder?“

Er mustert das Zielobjekt etwas intensiver.

„Ja schon, und das weiß die auch. Schau mal wie die sich bewegt, und wie sie angezogen ist. Das ist eine von Denen, die unbedingt Aufmerksamkeit erzeugen wollen.“

„Naja, meine hat sie jedenfalls.“

Ich lasse mir meine Entdeckung nicht schlechtreden. Keine Frage, an Temperament scheint es ihr nicht zu mangeln. Ich mag das. Ich mag Menschen die nicht davor zurückschrecken sich so zu zeigen wie sie sind. Die nicht den Anspruch haben, es jedem recht zu machen. Vielleicht mag ich sie gerade deshalb, weil ich mich selbst nicht zu diesem Menschenschlag zählen würde. Ich versuche nicht zu starren. Wende mich immer wieder meinem Bier zu. Doch meine Blicke haben sich schon einige Male mit denen der Kleinen gekreuzt. Da mein Kumpel bereits nach seinem ersten Bier austreten muss, bleibe ich alleine am Tresen zurück. Plötzlich höre ich das ersten Mal ihre Stimme.

„Bitte noch zwei Pina-Colada und zwei Wodka-E!“

Sie ist es. Sie ist es tatsächlich. Sie stellt vier leere Gläser neben mir auf dem Tresen ab. Überraschenderweise ohne Smartphone in der Hand.

„Ist das normal, dass man sich die Getränke hier selber holen muss?“, dieses Mal spricht sie mich an. Ich drehe mich zu ihr rüber und stütze mich dabei halb instinktiv, halb willentlich, so am Tresen ab, dass mein Bizeps möglichst vollumfänglich zur Geltung kommt. Mein eng geschnittenes Poloshirt erledigt den Rest.

„Naja, es ist ziemlich viel los“, entgegne ich. „Bist du das erste Mal hier?“

„Ja, ich bin erst vor ein paar Wochen hierhergezogen. Meine Freundinnen besuchen mich heute. Wir hatten eine kleine Einweihungsfeier, und jetzt machen wir hier weiter.“

„Aha, verstehe“, ich grinse sie verstohlen an, „das erklärt, warum ihr schon so gut drauf seid.“

„Was muss das muss“, antwortet sie. „Wie wärs? Willst du mit rübergekommen? Ich stell dich meinen Freundinnen vor.“

Das Angebot kann ich nicht ablehnen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich bestelle mir ein weiteres Bier und helfe ihr dabei die Getränke an den Tisch zu bringen.

Ich befinde mich im Paradies. Ihre Freundinnen sind klasse. Sie sind nicht nur nett, sondern eine ist auch noch hübscher als die andere. Doch die Kleine bleibt mein Favorit. Sie hat etwas Besonderes an sich. Ich kann nur noch nicht genau sagen was es ist. Ich versuche mein Bestes zu geben. Die Stimmung ist hervorragend. Die Zeit vergeht wie im Flug. Irgendwann fällt mir mein Kumpel wieder ein. Ich hatte ihn völlig vergessen. Erleichtert stelle ich fest das er Kollegen getroffen hat, bei denen er jetzt am Tisch sitzt. Ich widme mich wieder ausgiebig meinen neuen Bekanntschaften. Wir konsumieren noch einige Getränke. Ich bin gut in Form. Es gelingt mir, mich von der Stimmung mitreißen zu lassen. Ich genieße meine Stellung als Hahn im Korb. Die Musik wird etwas dancelastiger. Nicht meine Richtung. Doch die Kleine, die schon die ganze Zeit über nie lange sitzen bleiben kann, zerrt mich immer wieder auf die Tanzfläche. Wobei es hier nicht wirklich eine Tanzfläche gibt. Wir schaffen uns einfach eine. Ich bin kein guter Tänzer. Das brauche ich aber auch nicht zu sein. Die Initiative geht von ihr aus. Sie tanzt mal vor mir, mal hinter mir, mal neben mir und amüsiert sich dabei über meine etwas holprigen Moves. Sie hingegen bewegt sich wie eine Göttin. Immer wilder tanzt sie um mich herum und stößt dabei mit ihrem Gesäß an meinen Schoß, oder lässt mir ihre Haare ins Gesicht wehen, wenn sie eine Pirouette vor mir dreht. Ich versuche mit ihr mitzuhalten. Ich mache mich zum Affen, doch das ist mir egal. Ich finde sie umwerfend. Sie ist das pralle Leben.

Zwischendurch gehen wir einige Male gemeinsam nach Draußen zum Rauchen. Normalerweise rauche ich nicht viel, erst recht nicht wenn ich was trinke. Alkohol und Nikotin in Kombination vertrage ich nicht. Für sie mache ich eine Ausnahme. Heute vertrage ich alles. Es ist kühl draußen. Wir bleiben nicht länger als nötig. Wir nutzen die Zeit um uns zu unterhalten. Sie ist sehr offen und direkt. Sie erzählt mir von ihren Geschwistern, ihren Eltern, auch einige sehr persönliche Dinge, und das, obwohl sie mich erst seit ein paar Stunden kennt. Doch so fühlt es sich nicht an. Es kommt mir eher so vor, als würden wir uns schon lange kennen. Als wären wir alte Freunde, die sich nur eine Zeit lang aus den Augen verloren, und jetzt wieder gefunden haben.

Ich lasse sie alleine wieder hineingehen. Ich trenne mich ungern von ihr, doch ich muss dringend auf die Toilette. Meine Sneaker geben schmatzende Geräusche von sich, als ich den verklebten Fliesenboden betrete. Die Toilette ist leer. Ich begebe mich ans Urinal und beginne mich zu erleichtern. Ein Typ tritt ein und stellt sich direkt neben mich.

„Respekt Mann! Nicht übel die Kleine. Heute Nacht wird wohl noch ein Rohr verlegt?“

Mein erster Gedanke ist: Alter, Ernsthaft? Alle Pissoirs sind frei und du stellst dich direkt neben mich? Und dann quatschst du mich auch noch an während ich am Pissen bin? Doch meine Wut ist schon verflogen bevor Sie sich entfalten kann. Irgendwie schmeicheln mir seine Worte. Der vibe ist also echt. Wir sind aufgefallen. Ich habe es mir nicht nur eingebildet. Ich fühle mich geehrt. So muss sich ein Schauspieler fühlen, oder ein Musiker, wenn er nach seinem Auftritt, von einem Fan ein Kompliment erhält.

Als ich den Schankraum wieder betrete, erwartet sie mich bereits. Mit hochgestreckten Armen, sich zum Rhythmus der Musik bewegend, grölt sie mir entgegen: „Wohhhooooooooo“. Sie hat die Manieren eines Seemanns, gepaart mit der Grazie eines Rehleins. Wir stehen bereits wieder im Mittelpunkt. Die Show geht weiter. Irgendwann beschließe ich meinen Kumpel wieder mit einzubeziehen. Ich habe ihn doch arg vernachlässigt. Ich gehe zu ihm hinüber.

„Und? Was sagst du? Hast du uns gesehen?“

„Ja“, meint er, „ihr zwei seid wie ein Autounfall, man will nicht hinsehen, aber man kann auch nicht wegsehen.“

„Alter! Freu’ dich halt für mich. Ich glaube ich habe gerade meine Traumfrau gefunden.“

„Ich glaube eher, du rennst gerade mit offenen Augen in eine rotierende Kreissäge. Aber hey, tu’ was du nicht lassen kannst.“

Scheiß auf ihn, denke ich mir, der kriegt sich schon wieder ein. Ich gehe wieder in Richtung des Mädels Tisches. Die Kleine stürmt mir entgegen. Sie springt mir um den Hals und klammert sich um meine Schultern. Mit ihren Beinen umschließt sie meine Hüfte. Es gelingt mir gerade noch das Gleichgewicht zu halten. Die Frau ist vollkommen wahnsinnig. Ich spüre ihren warmen, bebenden Körper an meiner Brust. Ich bin hin und weg. Mit dieser Frau könnte ich mir alles vorstellen. Ich sehe uns schon auf zwei Harleys die Route66 runterbrettern, in Neuseeland eine Schaffarm betreiben, in Schottland Galloway Rinder züchten, oder einfach nur gemeinsam alt werden, mit zwei Kindern und einem Hund, in einem Reihenmittelhaus.

„Wir haben noch eine halbe Stunde“, brüllt sie mir ins Ohr.

„Mein Freund holt mich und meine Freundinnen gleich ab.“

Ich stelle sie vor mir ab.

„Dein Freund?“, entgegne ich reflexartig, ohne wirklich zu begreifen was da gerade in meinen Gehörgang gedrungen ist.

„Ja, mein Freund. Seinetwegen bin ich hierhergezogen. Hatte ich das nicht gesagt?“

„N-nein“, stammle ich vor mich hin. „Ich glaube nicht. Nicht wirklich.“

Mir wird übel. Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn. Ich hätte weniger rauchen sollen. Meine Knie scheinen mein Gewicht kaum noch tragen zu können. Ich muss hier weg. Wortlos gehe ich in das ruhige Eck und ziehe mir meine Jacke über. Als ich mich umdrehe, steht sie direkt vor mir.

„Was ist los, willst du jetzt gehen?“

„Ich dachte wir …, ich dachte da wäre …“, ich finde nicht die richtigen Worte.

„Was denn? Was soll da sein? Wir hatten Spaß. Das ist alles. Was dachtest du denn?“

Ich komme mir vor wie der größte Idiot. Wie konnte ich mich nur so täuschen? Sie steht nur wenige Zentimeter vor mir. Sie ist bezaubernd. Wie kann etwas, dass sich so richtig anfühlt dennoch falsch sein? Mein rationaler Verstand ist mit der Situation überfordert. Etwas Anderes übernimmt die Kontrolle. Ich fasse ihr an die Hüfte und ziehe sie an mich. Ich küsse sie. Sie stößt mich von sich und blickt mich wütend an. Ich rechne mit einer Ohrfeige, oder einem Tritt in die Eier. Stattdessen packt sie mich am Kragen meiner Jacke und zieht mich zu sich runter. Ich wehre mich nicht dagegen. Wir küssen uns erneut. Wild und intensiv. Sie schmeckt nach Red Bull und kaltem Rauch. Ich verliere mein Zeitgefühl. Erneut stößt sie mich von sich. Wir stehen uns gegenüber und sehen uns in die Augen. Beide unfähig zu begreifen was gerade geschieht. Schließlich wendet sie sich von mir ab. Sie kehrt an ihren Tisch zurück, kramt ihr Smartphone hervor und versenkt ihren Blick darin. Ich zupfe meine Jacke zurecht. Ich gehe an ihrem Tisch vorbei, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich trete hinaus in die Nacht. Genug Spaß für heute.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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