Wolfgang Hoor

Wltraut

 

Waltraut

Es ist nicht witzig, wenn man was geschenkt bekommt, was man sich gar nicht gewünscht hat. Hans erlebte das in den Sommerferien 1950. „Du bist ein ordentlicher, braver Junge und hast wieder mal ein gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht“, lobten ihn seine Eltern. „Da haben wir uns was ganz Besonderes für dich ausgedacht: einen Urlaub auf einem Bauernhof.“

Hans schaute seinen Vater skeptisch an. „Ja freust du dich denn gar nicht?“ Hans war ein braver Junge und freute sich, wie man sich zu freuen hat, wenn etwas so Großartiges für einen beschlossen worden ist, und er erfuhr, dass er am Wochenende auf einen Bauernhof gefahren würde mit vielen vielen Tieren und dass er da die ganzen großen Ferien bleiben dürfe.

Es ist schwer, sich erfreut zu zeigen, wenn man sich nicht freut. Hans freute sich nicht. In den großen Ferien waren alle anderen Jungen aus dem Haus und aus seiner Klasse zu Hause. Wie oft könnte er in den Ferien Fußball spielen und geheime Erkundungen bis zur Saar hin machen, auch in den fürchterlich gefährlichen Bruchwiesen, wo, seiner Mutter zufolge, die „Mokscher“ lauerten, schwarze französische Soldaten aus Afrika, die es auf weiße Kinder abgesehen hatten. Was für ein Nervenkitzel jetzt schon! Und er wäre nicht dabei!

Auf dem Weg nach Oberleuken, wo sich dieser Bauernhof befand, musste er ein paar Tränen verdrücken. Nur die Tatsache, dass er zum ersten Mal in einem Auto sitzen und über Land fahren durfte, half ihm, die Sache schön zu finden. „Aber da sind doch auch ganz viele Jungen und da spielt man doch auch Fußball“, wollte er wissen. „Nehme ich an“, beruhigte ihn der Vater. Aber nichts davon stimmte. Der Bauernhof lag weit abseits vom Dorf, die Bauernfamilie, die ihn freundlich begrüßte, hatte keine Kinder, und sein Vater fuhr mit seinem kleinen Bruder bei hereinbrechender Dunkelheit schnell wieder weg.

Hans kam sich abgeschoben vor. Die Leute mussten sich anstrengen, wenn sie mit ihm hochdeutsch reden wollten, untereinander redeten sie ein unverständliches Platt. Und dann sein Bett: oben im zweiten Stock musste er sich mit einem riesigen Plumeau abquälen, wie er noch nie eins gesehen hatte, und draußen, 100 Meter vom Hauseingang entfernt, war das Plumpsklo, in dem es fürchterlich stank und in dem die Fliegen einen Höllenlärm machten. „Bevor du ins Bett musst, gehst du am besten noch mal aufs Klo“, sagte die Bäuerin. Ja, was wäre, wenn er in der Nacht müsste? Um Himmels willen nicht in der Nacht auf dieses Klo!

Die Bäuerin, die ihn in Empfang genommen hatte, führte ihn am nächsten Tag herum. „Hier die Ziegen darfst du streicheln, so oft du willst, am Morgen darfst du die Eier suchen, die die Hühner immer vor uns verstecken, und die zwei Kühe hier kannst du morgen auf der Weide sehen, das wird dir bestimmt Spaß machen.“ Die Frau war freundlich, er nickte und freute sich über ihre Freundlichkeit.

Natürlich erkundigte sich Hans auch nach den Jungen und dem Fußball. Die Frau lachte. „Alles können wir dir hier nicht bieten. Hier auf dem Land leben nur wenige Familien. Da ist nichts mit Fußball. Die Jungen müssen in dieser Zeit ihren Eltern helfen, da hat man keine Zeit für Fußball.“ Hans hatte es geahnt. Diesmal konnte er seine Tränen nicht zurückhalten. Die Frau streichelte über sein Haar, sie sagte nichts mehr Tröstliches. Wo war er nur gelandet?

Am Nachmittag, als er dabei war, sich mit den Ziegen anzufreunden, rief ihn die Bäuerin. „Da ist jemand für dich!“, sagte sie und führte ihn an der Hand zur Hauseingangstür. Vor der Tür stand ein Mädchen mit langen braunen Haaren, einem einfachen dunklen Rock, der bis über die Knie ging, und auf dem Kopf hatte es eine helle Kappe. Es musste zwei oder drei Jahre jünger sein als er. Es war Hans sehr unangenehm, dass sie ihn musterte und dann kicherte und dann auf ihn zuging und sagte: „He du, bist du der Hans? Ich bin die Waltraut.“

Hans machte ein ziemlich dummes Gesicht, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. „Ich komme aus Saarbrücken“, sagte er schließlich. „Das ist eine große tolle Stadt.“ Die Waltraut lachte. Sie hatte schöne Zähne und lustige Augen. „Gefallen dir die Ziegen?“, wollte sie wissen. Er nickte. Sie hielt den Kopf ein bisschen schief, und da erkannte er sie: Sie sah ganz anders aus, aber sie war in Wirklichkeit die Becky aus dem Tom-Sawyer-Film. Genauso falsch-freundlich stand sie vor ihm, und er hasste sie.

„Ich spiele gern im Bach“, sagte die falsche Waltraut. „Da gibt es Krebse und Fische.“ Sie stellte ihre Tasche auf den Boden und zog aus ihr ein paar Stiefel. „Mein Papa sagt, die könnten dir passen. Probierst du’s mal?“ Hans hätte ihr die Stiefel am liebsten an den Kopf geschmissen, aber er sah, wie die Bäuerin ihm freundlich zunickte und da blieb ihm nichts anderes übrig, als jetzt auch den netten Jungen zu spielen. Die Stiefel passten. „Papa sagt, dass neuerdings Forellen im Bach sind. Wenn du die mit der Hand fängst, bist du der Größte. Das hat nämlich noch niemand geschafft.“ Hans nickte nur und nahm einen von den Eimern, die die Bäuerin ihnen hingestellt hatte.

Und dann ging es über holprige Wege in den Wald und dann zum Bach. Der Bach war ganz schön breit, da konnte man nicht von einem Ufer zum anderen springen. „Du musst mir nachgehen“, sagte Waltraud. „Es gibt Stellen, da geht einem ganz plötzlich das Wasser bis zum Bauch. An anderen Stellen geht es dir nur bis zu den Knöcheln, und da sind die besten Stellen, um die Dickköpfe zu fangen.“

Im Bach war Hans auf Waltraut angewiesen. Sie kannte die Wege, sie wusste, wo man nicht hintreten durfte, manchmal musste man von Stein zu Stein springen. Und einmal stand ihm das Wasser fast bis zur Stiefelöffnung ganz oben. Da musste er schon höllisch aufpassen, und auch der Untergrund war steinig und unberechenbar, und einmal wäre er sogar fast hingefallen. Das war schon ein bisschen ein Abenteuer. Während er abwechselnd den Boden absuchte und Waltraut betrachtete, die ihn ganz sicher durch den Bach führte, begann er das Bachabenteuer interessant zu finden. Zu Hause gab es nirgendwo einen so sauberen Bach, in dem man spielen konnte.

Er hatte einmal erzählt bekommen, dass man Hunden, die einen verfolgen, entkommen kann, wenn man durch ein Wasser flüchtet und damit seine Spur verwischt. Und darum rief er Waltraut zu: „Achtung, die Hunde.“ Das verstand Waltraut natürlich nicht. „Wir wären auf der Flucht“, rief er, „und die Hunde wären hintern uns her.“ – „Du spinnst“, rief Waltraut. „Und wir müssten was zu essen finden“, kommandierte jetzt Hans. „Wenn wir nichts finden, gehen wir elend zugrunde.“

Waltraut blieb einen Augenblick stehen. Offensichtlich verstand sie nicht, was mit Hans los war. „Wir suchen doch nur Dickköpfe“, sagte sie kopfschüttelnd. „Das meinst du, aber wir sind verraten worden und jetzt müssen wir gucken, wie wir überleben können und du wärst die Anführerin, weil du dich hier auskennst.“ - Es dauerte eine Weile, bis Waltraut plötzlich rief: „Ach so. Wir spielen Räuber und Gendarm.“ – „Natürlich“, rief Hans zurück. „Jetzt hab ich’s kapiert“, war Waltrauts Antwort.

Und jetzt machte es richtig Spaß. Waltraut kannte die richtigen Stellen. Dickköpfe können schlecht schwimmen. Es war leicht, sie unter einem Stein zu finden und in den Eimer plumpsen zu lassen. Später gingen sie mit ihren Eimern zu einer Stelle am anderen Ufer, wo sie Holz aufschichteten und dann nahmen sie immer einen Dickkopf in die Hand taten so, als würden sie ihn über einem Feuer braten; dann taten sie so, als würden sie ihn essen, dann ließen sie ihn wieder in den Eimer gleiten.

Schließlich schütteten sie die Dickköpfe wieder ins Wasser und flüchteten vor den Verfolgern und suchten eine Stelle nach einer Biegung des Baches, wo sie erneut den Verfolgern entrinnen konnten. Es war ein herrliches Spiel, und plötzlich merkte der Hans, dass die Waltraut die Waltraut war und nicht die Becky, und sie wollte ihn auch nicht küssen und wollte ihn auch nicht allein für sich haben.

Dann stellten sie sich vor, er würde eine Fußballreportage machen, und Waltraut musste so tun, als würde sie mit dem Ball von rechts aufs Tor losstürmen. Weil sie keine Ahnung vom Fußball hatte, konnten beide kaum mehr aufhören zu lachen, und Waltraut sagte, so müssten sie immer spielen, und er versprach es ihr.

Aus Waltraut wurde der beste Freund, den er je gehabt hatte, und die Ferien in Oberleuken wurden die schönsten in seinem Leben.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.02.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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