Adrian Braissant

SPACE

Vielleicht bin ich Ihnen schon einmal aufgefallen? Nein, natürlich nicht unter meinem richtigen Namen, denn im Computernetz hat jeder so seinen eigenen Decknamen. Meiner ist Hacky. Wie ich zu diesem Namen kam? Nun, das hat etwas mit meinem Verhältnis zu Computern zu tun. Irgendwie kriege ich es immer hin, das Letzte aus den Dingern rauszukitzeln, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ehrlich, ich tue das nicht mit böser Absicht, es ist nur so, daß verschlossene Systeme mich reizen, denn es gibt immer eine Schwachstelle. So kam es, daß ich rein zufällig ein paar Zeilen zu lesen bekam, die trotz ihrer Kürze mein ganzes Interesse weckten. Sie stammten von einem Jungen, der, wie sich bald herausstellte, ganz in meiner Nachbarschaft wohnt.  Bestimmt ist er mir zuvor schon auf der Straße oder beim Einkaufen begegnet. Doch wer merkt sich schon die zahlreichen Gesichter?

   Wendelin Bucher war zwölf und auf dem besten Weg, in meine Fußstapfen zu treten, was seinem Vater, einem erfolgreichen Makler, lange verborgen blieb. Der Junge wartete stets, bis seine Eltern aus dem Haus waren, um sich völlig ungestört hinter Vaters Computer setzen zu können. Sie waren ziemlich oft abends weg. Wendelin stellte keine Fragen, er hatte schnell gelernt, die Stunden vor Mitternacht zu nutzen. Das war seine Zeit, da die Eltern nie vorher nach Hause kamen. So auch an jenem Sommerabend, als alles begann, als er gespannt in seinem Zimmer horchte, bis der Kombi seiner Eltern endlich die Einfahrt verließ und hinunter auf die Quartierstraße rollte. Wendelin wartete noch eine Weile, um wirklich sicher zu gehen, daß sie nicht noch etwas vergessen hatten. Dann stieg er die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer seines Vaters, zog die Vorhänge zu und knipste die Tischlampe an. Überlegen ließ er sich in den komfortablen Sessel vor dem Arbeitstisch fallen und schaltete den Computer ein. Unzählige Male hatte er seinem Vater dabei zugesehen, wie er sich mit dem Modem übers Telephon zur lokalen Brücke wählte, die ihm den Zugriff ins Computernetz ermöglichte. Selbstverständlich brauchte er dazu immer ein Paßwort, das Wendelin jedoch bald raus hatte. Es bestand aus seinem Vornamen in Verbindung mit seinem Geburtsdatum. In fast richtiger Reihenfolge stand es auf der Rückseite seines Fotos geschrieben, das sein Vater neben dem von seiner Mutter auf dem Schreibtisch stehen hatte.

   Wendelin ließ wie immer den Computer wählen. Zahlreiche Meldungen huschten über den Bildschirm. Er brauchte sie nicht einzeln zu lesen, denn inzwischen beherrschte er den Computer besser als sein Vater, der einfach nicht das richtige Gespür für die Maschine entwickelte. Sie war für ihn bloß ein Werkzeug, während Wendelin von ihr magisch angezogen wurde.

   Im Handumdrehen gelangte Wendelin ins Netz und schaltete sofort in den Converse Mode, um zu sehen, was gerade lief. Dieser Mode war für alle gedacht, die Kontakt zu Mitbenutzern suchten, also zum direkten Gespräch. Das Netz ermöglichte den weltweiten Austausch von Gedanken, Bildern, Musik, Daten und Programmen, einfach von allem, was sich irgendwie in digitale Form bringen läßt. Im Gewirr der vielen Benutzer fiel Wendelin einer auf, den er schon oft im Netz beobachtet hatte. Dieser nannte sich Space und suchte heute zum ersten Mal neue Kontakte. Wendelins Herz schlug höher, denn dieser Space hatte unheimlich gute Sprüche drauf und wußte eine Menge Dinge. Kürzlich hatte Wendelin beobachtet, wie dieser sich mit einem anderen Netzbenutzer über Computer unterhielt. Dabei hatte Space diesem viele technische Ratschläge gegeben, was eindeutig darauf schließen ließ, daß Space ein gewiefter Computerfreak sein mußte.

   „Hallo Space, hier tippt Booster in Wiesental. Wie komme ich an?“

   Es dauerte kaum dreissig Sekunden, bis auf Wendelins Bildschirm ein Smily lachte: „Tagchen Booster, siehst gut aus. Uh - ist das vielleicht 'ne Hitze. Warst Du heute schwimmen?“

   „Hier läuft 'ne Klimaanlage, kann also nicht klagen. Ja, wir hatten wieder einmal Pflichtschwimmen ...“

   „Bist Du gut?“

   „Es geht, weil es gibt immer bessere ...“

   „Wie wahr. Verrätst mir Deinen Vornamen, Booster?“

   Wendelin zögerte. Es war unüblich, seinen richtigen Namen preiszugeben, das wußte jeder. Verriet er ihn jedoch nicht, war Space vielleicht sauer. Das wollte Wendelin wiederum auch nicht riskieren. Da kam ihm die rettende Idee: Wenn er den Namen verschleiert durchgab, verstieß er nicht gegen den Kodex. Space war schlau, er fand bestimmt raus, daß jede Nummer für die Stelle des betreffenden Buchstabens im Alphabet stand. Für Wendelin war die Methode nicht neu, er benutzte sie auf seinen Spickzetteln. Wurde er je im Unterricht damit erwischt, konnte der Lehrer ihm den Betrug nicht so ohne weiteres nachweisen. Mit der Zeit erlangte Wendelin gar die Fähigkeit, so Texte mühelos aufzuschreiben und ebenso fließend wieder zu lesen. Er tippte also „23 5 14 4 5 12 9 14“ in die Tastatur und wartete gespannt auf die Reaktion. Nichts, aber auch gar nichts geschah. Space verstummte. Schon begann sich Wendelin zu ärgern, hatte er zuviel gewagt?

   „Komischer Name. Eh - klingt etwas verstaubt. Komm, faxe mir mal ein Bild von Dir rüber, damit ich sehe, ob Du wirklich bist. PCX wäre gut ...“

   Irgendwie war die Bemerkung Wendelin peinlich. Ja er fühlte sich bloßgestellt. Um dies Space nicht wissen zu lassen, suchte er so schnell wie möglich zu antworten und tippte: „Was willst Du damit?“

   „Ansehen, Booster, einfach ansehen - was denkst Du?“

   „Das wird aber dauern. Muß erst einscannen ...“

   „OK“

   Aufgeregt schaute sich Wendelin um. Wo sollte er so schnell ein passables Bild von sich auftreiben? Das Foto auf der Identitätskarte? Er klaubte den Ausweis aus der Tasche und strich ihn glatt. Nein, das funktionierte nicht, das Foto war total zerknittert und zu klein. In der Hektik stieß Wendelin das Aufstellbild seiner Mutter um, das dicht neben seinem auf dem Schreibtisch stand, und griff sich lachend an den Kopf. Sofort löste er sein Bild aus dem Rahmen und las es mit dem Handscanner in den Computer ein. Kontrast und Farbe stimmten, obgleich man sich darüber streiten konnte, wie vorteilhaft er aussah. Aus Zeitmangel ließ er es gelten, komprimierte die Daten, bereitete sie zur Übertragung auf und schaltete zurück ins Computernetz.

   „Space - aufgepaßt, meine Daten kommen ...“

   Wendelin wartete und wartete. Die Daten mußten angekommen sein, das wußte er, sonst hätte er eine Systemmeldung vom Netz erhalten, daß der angegebene Benutzer nicht vorhanden sei. Ungeduldig setzte Wendelin zum Nachhaken einen Text auf, als plötzlich ein Smily auf dem Bildschirm erschien, gefolgt von der Systemnachricht, daß Space soeben ausgelogged habe. Wendelin schimpfte lauthals. Hatte er irgend etwas falsch gemacht? Frustriert meldete auch er sich vom Netz ab, stellte den ursprünglichen Zustand auf dem Computer wieder her, um keine Spuren zu hinterlassen, und schaltete das System aus. Er konnte es nicht begreifen und ärgerte sich darüber, etwas verbockt zu haben, ohne genau zu wissen, was es wirklich war. Doch vor allem fühlte er sich verletzt, weil Space jetzt über ihn Bescheid wußte, während er keine persönlichen Daten von ihm hatte. Verdammt, warum bloß ließ er sich so einfach reinlegen? Wendelin grübelte lange darüber nach, bis er schließlich, kurz nach Mitternacht, in seinem Bett einschlief.

 

Am nächsten Morgen wachte Wendelin viel zu früh auf, war schweißnaß und fühlte sich ausgebrannt, fast krank. Ständig hatte er das Gefühl, noch mit einem Bein im letzten Traum zu stecken. Seine Gedanken wirbelten herum, wie bunte Blätter im Herbstwind. Erstaunlicherweise erinnerte er sich an viele Einzelheiten außerordentlich klar. Da war dieses große, helle Haus mit der Glasschiebetüre zum Garten, wo eine Blumenpracht herrschte, wie er sie niemals zuvor gesehen hatte. Der zart süßliche Duft der Blüten durchströmte das ganze Haus. An der Sonne auf dem Vorplatz im Garten saß ein Junge im Rollstuhl. Er mußte in seinem Alter sein. Dieser Junge tippte auf einem Computer den Namen Space ...

   Wendelin stellte sich unter die kalte Dusche und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Der Traum ließ ihn nicht los. Desorientiert zog er sich schließlich an und tapste die Treppe hinunter in die Küche. Seine Mutter packte ihm das Pausenbrot ein. Sie schien ihm überhaupt nichts anzumerken. Wendelin schlenderte zur Schule und dachte an diesen seltsamen Jungen, den er so deutlich vor sich gesehen hatte, daß er ihn hätte berühren können, und an Space, der offenbar der Schlüssel zum Ganzen darstellte.

   Zu allem Unglück war heute eine Mathematikprobe angesetzt, von der Wendelin wußte, daß er sie verpatzen würde. Doch als die Aufgaben vor ihm lagen stellte er plötzlich fest, daß er sie mühelos lösen konnte, und dies sogar in der Hälfte der vorgegebenen Zeit. Die Lehrerin war sichtlich überrascht, als er seine Arbeit verfrüht ablieferte. Sie blickte immerzu auf die Lösungsblätter und vergaß ganz, die der anderen einzusammeln.

   Wendelin spürte deutlich eine starke Präsenz, so, als wohnte eine weitere Seele in seinem Körper, die die seine nicht verdrängte, doch oftmals zu seinen Gunsten überstimmte. So wurde dieser Schultag zum besten in seiner ganzen bisherigen Karriere.

 

Ausgerechnet an diesem Abend gingen seine Eltern nicht aus. Wendelin saß in seinem Zimmer und brütete. Er mußte unbedingt herausfinden, wie Space über ihn dachte, sonst würde er diese Nacht kein Auge zumachen können.

   Als er seine Eltern früh zu Bett gehen hörte, hielt er es in seinem Zimmer nicht mehr aus. Er schlich leise die Treppe hinunter, zog die Türe hinter sich vorsichtig ins Schloß und setzte sich mit laut pochendem Herzen an die Tastatur. Kurzum meldete er sich im Netz an, schaltete den Converse Mode ein, wo er umgehend die aktuelle Benutzerliste ausgeben ließ. Space befand sich bereits unter den ersten zehn Einträgen!

   Wendelin wartete das Ende der Liste nicht ab, sondern schickte sogleich eine Meldung los. Das anschließende Warten schien ihm dann schier endlos. Endlich kriegte er von Space drei Punkte geschickt. Wendelin schnappte aufgeregt nach Luft und schrieb: „Space - bist Du da?“

   „Hallo Booster. Gut geschlafen?“

   „Ne!“

   „War die Nacht so schlimm?“

   „Echt!!!“

   „Schade.“

   „Kann heute nicht lange bleiben. Meine Eltern sind im Haus ...“

   Jetzt ging die Türe auf. Wendelin wirbelte herum. Sein Hals schnürte sich zu.

   „So ist das also.“ Vater stützte die Hände in die Hüften. „Hatten wir nicht gestern erst ausgemacht, daß du inskünftig fragst, bevor du den Rechner benutzst?“

   Wendelin zögerte, schüttelte den Kopf, konnte sich an absolut nichts erinnern.

   „Warum mißbrauchst du mein Vertrauen?“

   „Aber ...“

   „Nein, Wendelin, da hilft kein Aber.“ Eine ganze Weile sah er ihn unschlüssig an. Endlich sagte er: „Du hast mich bitter enttäuscht“ und verließ das Büro.

   Verwirrt schaltete Wendelin die Anlage direkt an der Steckleiste aus, ohne noch mal auf den Monitor zu schauen. Für den Moment hatte er jegliches Interesse am Computer verloren. Er schämte sich. Mit hängendem Kopf ging er nach oben, zog sich aus. Selbst sein Spiegelbild im Bad konnte er nun nicht ertragen, ließ die Toilette aus und legte sich gleich ins Bett. Hoffentlich war das nur ein schlimmer Alptraum, der irgendwann - bald - zu Ende ging.

   Wendelin konnte wieder nicht einschlafen. Zu viele Gedanken ließen ihn keine Ruhe finden. Einmal fiel er beinahe aus dem Bett, hatte gar die Orientierung verloren, knipste aufgeregt das Licht an, ließ es brennen und döste schließlich ein. Allmählich löste sich die Wirklichkeit auf wie Rauch im Wind. Wunderbare Zufriedenheit durchströmte ihn. Er fühlte seine Glieder nicht mehr, bekam Angst, riß die Augen auf, starrte an die weiße Decke. Aber es war nicht die Decke, die er da anschaute, es war die Wand, und er stand jetzt vor dem Bett und blickte hinunter auf seinen eigenen Körper, der noch immer reglos dalag. Völlig außer sich versuchte Wendelin den starren Körper wachzurütteln, griff jedoch statt dessen widerstandslos durch ihn hindurch, verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber haltlos in tiefschwarze Finsternis.

 

Langsam glitt er aus bleiernem Schlaf an die Oberfläche. Wendelin erwachte, rieb sich die Augen: Was war das für ein Alptraum gewesen? Er streckte sich erleichtert. Irgendwie hatte er kein Gefühl in den Beinen. Er versuchte sie zu bewegen, strengte sich an, hob den Kopf, um zu sehen, ob sich die Decke bewegte.

      Nichts tat sich, nicht einmal Ameisenlaufen spürte er in den Füßen. Angst stieg in ihm empor. Er versuchte, sich aufzusetzen, um nach seinen Beinen zu greifen. Es gelang ihm nicht. Er geriet in Panik. Schreiend riß er die Decke weg, fiel aus dem Bett, als endlich jemand das Zimmer betrat.

   „Mark! Wach doch auf ...“

   Die weißblonde, schlanke Frau im bunten Sommerkleid war etwa im Alter seiner Mutter. Sie setzte sich zu ihm auf die Bettkante und zog ihn an sich. Erst als sie ihn wieder losließ erkannte Wendelin, daß er in einem völlig fremden Zimmer aufgewacht war.

   „Hast du wieder schlecht geträumt?“ fragte sie sanft.

   Wendelin nickte verstört.

   Sie strich ihm übers Haar, drückte ihn an sich und sagte: „Es ist gerade sieben Uhr. Möchtest du aufstehen?“

   „Welcher Tag ist heute?“

   „Heute?“ Sie sah ihn forschend an. „Gestern war Freitag. Heute ist demnach Samstag. Sag mal, Schatz, geht es dir auch wirklich gut?“

   Wendelin zuckte die Schultern. Klar doch, alles war in Ordnung, bis auf die Kleinigkeit, daß er keine Ahnung hatte, wer er war. Er kannte die Frau nicht, die sich offenbar als seine Mutter sah, hatte auf einmal einen anderen Namen, konnte nicht mehr gehen und mußte sich bei den einfachsten Verrichtungen helfen lassen. Oh ja, sicher, alles war in bester Ordnung ...

   Marks Mutter nahm ihn auf, half ihm bei der Morgentoilette, dabei sah er sich im Spiegel und erlitt beinahe einen Herzkrampf. Er staunte hinein, blinzelte, ohrfeigte sich, um sicher zu gehen, denn dieser Junge im Spiegel war nicht er. Es war der Junge aus dem Traum!

   Als er fertig angezogen war, setzte ihn Marks Mutter in den Rollstuhl und fuhr ihn in sein Zimmer zurück.

   „Ich mache uns schnell Frühstück“, sagte sie und ging.

   „Ist gut“, seufzte Wendelin ergeben und sah sich in seinem Zimmer um. Dieser Mark hatte einfach alles. Viele, viele Bücher, TV, Video, CDV, Radio, CD, DAT und - und - und ... Wendelin sperrte die Augen weit auf: In der Ecke stand ein Traum von einem Computer.

   Fasziniert versuchte Wendelin, sich zum Computer hin zu manövrieren, doch er kam mit dem schwerfälligen Rollstuhl nicht klar. Das Ding gehorchte ihm nicht. Wendelin wurde ungeduldig, stieß und zerrte wütend an den Rädern, kippte und fiel zu Boden. Sein Kopf polterte auf das Parkett. Ein dröhnender Schmerz durchzuckte ihn. In den Beinen jedoch blieb alles ruhig, obwohl sie verdreht im Stuhl eingeklemmt waren. Wendelin versuchte, sich zu befreien, aber die Beine stellten sich derart widerspenstig an, daß er sie am liebsten abgeschnitten hätte, so nutzlos waren sie für ihn geworden.

   „Mark, was machst du für Sachen!“ Marks Mutter eilte zu ihm hin, befreite ihn und setzte ihn in den Stuhl. Hinterher mußte sie ihm den rechten Knöchel verbinden, der bereits derart angeschwollen war, daß der Fuß nicht mehr in den Hausschuh paßte. Sie schien solche Unfälle gewohnt, machte kein Aufhebens. Nur wenig später frühstückten sie gemeinsam auf dem Vorplatz vor dem Wohnzimmer im herrlich duftenden Garten, den Wendelin sofort als denjenigen aus dem Traum wiedererkannte. Daraufhin gingen sie gemeinsam einkaufen, aßen beim Italiener eine Pizza und kehrten erst nach einem ausgiebigen Spaziergang heim. Inzwischen hatte Wendelin den Umgang mit dem Rollstuhl geübt und nutzte den ersten unbeaufsichtigten Moment, um sich auf den Computer zu stürzen.

   Das System meldete sich, Wendelin verstand zwar nicht alle Einzelheiten, doch gelang es ihm rasch, sich ins Computernetz zu wählen. Bald stellte er fest, daß auch Space drin war, ja, sogar nach ihm suchte. Wendelins Herz klopfte wie wild: „He Space, wo bist Du?“

   „Tagchen Booster, oder soll ich jetzt Mark zu Dir sagen?“

   „Was soll das?“

   „Booster, es ist so toll bei Dir. Deine Eltern sind wunderbar. Stell Dir vor, wir waren heute schwimmen. Dein Vater ist echt gut drauf.“

   „Was hast Du mit mir gemacht!“

   „Sachte, sachte. Das Buch. Du mußt Dir unbedingt das Buch mit dem schwebenden Körper anschauen. Da steht alles drin ...“

   „Space, bitte, sag mir, daß alles bloß ein Traum ist.“

   „Ein Traum? Und wie es einer ist! Es war immer mein größter Wunsch, auszubrechen; einmal so zu sein, wie alle anderen Jungen; herumzutollen, frei zu rennen, sich ungehindert auf und davon zu machen.“

   „Aber - was wird nun aus mir?“

   „Gefällt es Dir bei meiner Mutter nicht?“

   „Oh doch, sie ist sehr lieb, nur ...“

   „Wendelin, ich bitte Dich, laß mir nur dieses eine Wochenende ...“

   „Kann ich dann wirklich wieder zurück?“

   „Ehrenwort ...“

   Wendelin überlegte und tippte zögernd: „OK“, hernach trennte er die Verbindung, um es sich nicht doch anders zu überlegen. Er schaltete den Computer aus, lehnte zurück: Hatte er zuviel gewagt? Was war das für ein Buch, in dem die Erklärung stand? Langsam wandte er sich um, sah erschlagen auf die Bücherwand. Wie sollte er da nur etwas finden? Sein Blick streifte durch die Regale und blieb schließlich an einem Buch, das etwas hervorgezogen war, hängen. Es befand sich in für ihn gut erreichbarer Höhe. Wendelin zog es heraus und klappte es auf. Das Buch war bestimmt sehr alt, in dunkles Leder gebunden, mit einer Schnalle versehen, mit der man es verriegeln konnte. Als Buchzeichen fand Wendelin sein Bild eingelegt, das er Space damals gefaxt hatte. Das Buch selbst handelte von Astralreisen. Es stellte eine genaue Anleitung zur Verfügung, erklärte aber auch, welche Gefahren lauerten. Reich illustriert mit Zeichnungen, enthielt es viele Angaben von Leuten, die es selbst schon ausprobiert hatten. Einige berichteten von Besuchen bei ihren eben verstorbenen Verwandten, während andere große Entfernungen in Bruchteilen von Sekunden überwanden, um bei ihren Angehörigen zu weilen, jedoch ohne, daß diese sie sehen konnten. Physikalische Grenzen schien es keine zu geben, man war ja körperlos, und gerade darin bestand offenbar die größte Gefahr: Der verlassene Körper war empfänglich, konnte von einem anderen Geist beseelt werden, der im Verborgenen nur darauf wartete, in ihn hineinzuschlüpfen. Oh ja, solche Erlebnisse gab es auch. Einige Astralreisende berichteten übereinstimmend von einem bösartigen Geist, der zum ewigen Dasein zwischen dem Leben und dem Tod verdammt, sie hatte daran hindern wollen, in ihren Körper zurückzukehren, um selbst hineinzufahren.

   Wendelin erschauderte, klappte das Buch zu und blieb eine Weile reglos im Bett liegen, bevor er sich wagte, die Nachttischlampe auszuknipsen. Mark mußte es irgendwie geschafft haben, ihn aus seinem Körper zu locken. Aber wie? Von einer solchen Möglichkeit hatte nichts in dem Buch gestanden.

   Mark war sehr intelligent, er mußte sich das zusammengereimt haben. Zeit zum Grübeln hatte er genug. Wendelin überlegte: Was war, wenn es diesmal nicht funktionierte? Was, wenn Mark gar nicht mehr zurückwollte? Würde er, in Marks Fall, zurückkehren wollen? Wendelin mußte eingestehen, daß er jetzt, da er beide Seiten kannte, an Marks Stelle Mühe gehabt hätte, den voll funktionsfähigen Körper wieder zurückzugeben. Das machte ihm große Angst. War Mark stark genug, zu seinem Wort zu stehen?

 

Der Sonntag morgen brach an und Wendelin hatte noch keine Sekunde geschlafen. Er fühlte sich erschöpft und wäre gerne aufgestanden, um herumzulaufen. Was ihm blieb, war, sich im Bett herumzuwälzen und abzuwarten, bis Marks Mutter ihn aufnahm. Gut, er hätte sie rufen können, aber tat sie nicht so schon genug für ihn? Wendelin schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle.

   Gegen neun Uhr schaute Marks Mutter endlich herein. Sie zeigte sich erstaunt darüber, daß ihr Siebenschläfer bereits wach war. Wieder zog sie ihn an. Wendelin schämte sich, kam sich vor wie ein kleines Kind. Marks Mutter war schon toll, wie sie das alles packte.

   Wo war Marks Vater? Wendelin erinnerte sich nicht, ein Bild von ihm im Haus gesehen zu haben. Fragen konnte er sie selbstverständlich nicht, aber er wollte hinterher Mark fragen - oh ja, er wollte Mark unbedingt einmal besuchen. Seine Adresse hatte er sich gemerkt, das war kein Problem.

   An diesem Nachmittag beschlossen Marks Mutter und er, im nahen Park ein Picknick zu machen. Am Bach unter den mächtigen Bäumen gab es einen Ort, wo Marks Mutter schon oft hingegangen war. Er kannte die Stelle natürlich noch nicht und freute sich gerade deswegen, mit ihr dorthin zu gehen. Der Park war so groß, daß sich die Besucher rasch verteilten. Im Halbschatten breitete Marks Mutter eine bunte Decke aus. Es war gemütlich. Sie plauderten miteinander, diskutierten über Gott und die Welt. Wendelin war dabei fast glücklich, denn seine Eltern nahmen sich niemals so viel Zeit für ihn. Darum beneidete er Mark sehr.

   Etwas später machte Marks Mutter ein kleines Nickerchen. Wendelin versuchte sich inzwischen im Rollstuhl, denn seine Übungen mußte sie ja nicht unbedingt mit ansehen. Er kam immer besser zurecht, wurde langsam übermütig. Kurzerhand beschloß er, eine kleine Exkursion auf den nahen Damm zu unternehmen, der wie ein mächtiger Keil weit in den Bach hinaus ragte. Wendelin raste die kleine Böschung hinunter auf den glatten Beton zu. Viel zu spät erkannte er den klaffenden Spalt, der sich quer über den Damm zog. Die kleinen Vorderräder verfingen sich augenblicklich darin. Der Stuhl bockte und Wendelin stürzte kopfüber in den an sich harmlosen Bach. Da er jedoch seine Beine nicht bewegen konnte, versank er fast augenblicklich im Wasser. Schreien konnte er nicht mehr. In wilder Todesangst kämpfte er um sein Leben. Das Wasser war trüb, er konnte nichts sehen, nur Dunkelheit umgab ihn, die gegen oben hin heller wurde. Der Bach wollte ihn verschlingen, es gab kein Entrinnen. Seine Widerstandskraft brach, er entschwebte in den Raum zwischen Leben und Tod.

 

Der Radiowecker spielte Wendelins Lieblingslied. In vertrauter Umgebung erwachte der Junge und öffnete die Augen. Er fühlte sich etwas abgespannt, war aber heilfroh, schließlich doch diesem übermächtigen, bösen Traum entronnen zu sein. Es war Montag, und er mußte zur Schule. Als Wendelin auf den Wecker sah, war es aber erst sechs Uhr; viel zu früh, um aufzustehen. Dennoch schwang er sich aus dem Bett, stand, ging, ja hüpfte triumphierend herum. Später eilte er ins Badezimmer und überprüfte sein Spiegelbild. Ja, den kannte er. Jetzt war alles in Ordnung - war wirklich alles in Ordnung? Flink zog er sich an, wollte unbedingt hinaus, herumtoben, genießen, daß er wieder war wie früher. Als er zufällig in die Taschen seiner Jeans griff, fand er da einen kleinen Zettel, arg zerknüllt, aber trotzdem leserlich.

   „Wenn Du diese Zeilen liest, hat alles geklappt. Die Zeit bei Dir war wunderschön. Wie Du Dir denken kannst, fiel es mir nicht leicht, Deinen Körper wieder zu verlassen. Aber jetzt weiß ich wenigstens, wie es ist, ein richtiger Mensch zu sein. Dafür danke ich Dir. Noch was: Das Problem wegen des Computers habe ich, na, sagen wir, bereinigt. Du kriegst den Deines Vaters, er kauft sich einen neuen. Bis dann, tschüs - Mark.“

   Von diesem Moment an, wußte Wendelin nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Verbissen versuchte er sich an die Adresse von Mark zu erinnern, blätterte Telephonbücher durch, rief mit seinem neuen Computer unentwegt im Netz nach Space, bis ich ihn eines Tages darauf ansprach. Da er, wie bereits gesagt, nicht weit von mir weg wohnt, kam er gleich zu mir herüber, um mich um Hilfe zu bitten. Zusammen haben wir wirklich alle uns bekannten Register gezogen, in Datenbanken herumgewühlt, um Marks Schicksal zu erfahren, doch bisher ohne Erfolg. Als letzte Hoffnung beschlossen wir, Wendelins Geschichte aufzuschreiben.

   Können Sie uns vielleicht weiterhelfen? Ist es nicht denkbar, wenn auch zugegeben etwas weit hergeholt, daß Mark noch rechtzeitig gerettet worden ist?

Die Geschichte wurzelt in der Anfangszeit des Internets. Gut möglich, dass sie bei den einen oder anderen
alte Erinnerungen weckt.
Adrian Braissant, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.02.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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