Adrian Braissant

Delta: 13. Der Aufbruch

Ein frischer Wind fegte in sanften Böen über den grauen Asphalt. Es war beinahe fünf Uhr, als Andy sich heimwärts machte. Wie eine Maschine setzte er einen Fuß vor den anderen und nahm dabei seine Umgebung kaum richtig wahr. Er mußte Frau Kasens hassen, er mußte es tun - sie hatte Mitschuld an Dads Tod!

Behutsam befühlte Andy die kleine schwarze Ledermappe, die nicht viel größer war, als sein Rechenheft in der Schule, und ließ sie dann wieder in die Tasche seines Anoraks gleiten. Die Mappe enthielt Aufzeichnungen aller Tätigkeiten der Organisation, die während ihrer Anstellung als Sekretärin über ihre Abteilung liefen, Dokumente, die alles enthüllten, hatte Frau Kasens betont. Sie habe immer alles aufbewahrt. Niemand anderes dürfe sie in die Finger kriegen, nur Tom oder Sam. Bei ihnen sei sicher, daß sie nicht zu Delta gehörten.

Andy wußte genau, wenn er jetzt patzte, gab es keinen Trostpreis. Nie im Leben würde er mehr imstande sein zu beweisen, was damals wirklich geschehen war. Es wäre aus und vorbei, für immer. Niemand würde je erfahren, welch tapferer Held sein Dad war.

Frau Kasens hatte die Dokumente mit einer scharfen Bombe verglichen, bei der man niemals genau wisse, wann sie zünde.

„Wenn Tom nur wüßte...“ dachte Andy und kraxelte die Böschung zum Park empor, schob sich unter dem rostigen Maschenzaun hindurch und huschte hinter einen Haselnußstrauch. Erst als er ganz sicher war, daß nichts Ungewöhnliches sich tat, rannte er los.

Keuchend stürmte er in den Keller und erschrak, als Murrli plötzlich neben ihm vorbei unter eine Sitzbank lief.

Mit großen, gelbgrün leuchtenden Augen und hin- und herwedelnder Schwanzspitze beobachtete Murrli ihn interessiert beim Umziehen.

Kaum war Andy in die Hausschuhe geschlüpft, schaute er reglos dasitzend zu ihr rüber, da stelzte Murrli mit steil aufgerichtetem Schwanz aus ihrem Versteck und strich ihm liebkosend mit gesträubten Schnurrhaaren um die Beine.

Andy streichelte sie. Murrli reckte den Kopf seiner Hand entgegen und stampfte mit den Vorderpfoten unentwegt auf und ab.

"Aber Murrli, ich habe doch keine Zeit dich zu..."

Aber Andy ließ sich dennoch überreden, hob das Fliegengewicht auf die Arme und vergrub sein Gesicht in ihrem Fell. Lange schmuste er mit ihr herum und konnte schier kein Ende finden.

Murrli rieb ihren Kopf an ihm und schmiegte sich immer von neuem wieder an seine Brust. Dabei schnurrte sie in hohem Sington derart laut, daß jeder Hund es bestimmt als Knurren aufgefaßt hätte.

Schon oft hätte Andy Murrli gerne mit auf sein Zimmer genommen, doch das war streng verboten, Keine Tiere durften mit in die oberen Stockwerke genommen werden. Auch Murrli machte keine Ausnahme. Sie hatte ihr Lager im angenehm warmen Heizungskeller, aber Andy fand das keineswegs befriedigend, denn sie war dort sehr einsam und allein. Dabei brauchte auch Murrli jemand, der sie hie und da streichelte und ihr zeigte, daß er sie gern hatte!

Plötzlich durchbrach wildes Gejohle die Stille. Die erste Gruppe kehrte heim. Murrli sprang auf und flüchtete in den Heizungskeller. Andy schoß in den Duschenumkleideraum und zwängte sich hinter die Türe. Vorsichtig beugte er sich zum Schlüsselloch und spähte hindurch.

Wäre er nur früher nach oben gegangen, dachte er reuig. Alles hätte so schön geklappt.

Aber es dauerte keine Minute und Andy hatte einen rettenden Einfall: Was war, wenn er sich nun einfach unter die Jungen mischte, zur Treppe ging und sich dann lautlos davonmachte? Womöglich würde er nicht mal auffallen.

"Es ist die einzige Chance", entschied er rasch und tat es. Er hatte sich nicht getäuscht, keine Seele schenkte ihm Beachtung als er ging, um die Treppe hinaufzuhasten. Ein günstiger Umstand kam ihm allerdings zu Hilfe: Fräulein Jung schalt gerade einen Jungen und lenkte somit im richtigen Augenblick alle Aufmerksamkeit auf sich.

Oben im Zimmer hechtete Andy aufs Bett und bemühte sich, die Anzeichen gewesener Anstrengung schnellstens zu verwischen. Wie sollte er Herr Roth erklären, warum er außer Atem war?

Schon bald näherten sich die vertrauten Schritte. Herr Roth klopfte und betrat das Zimmer. Andy krallte die Hände in die Decke, er konnte die Spannung beinahe knistern hören. Hatte Herr Roth sein Verschwinden bemerkt?

Lange geschah nichts. Andy konnte die Spannung kaum noch ertragen und mußte sich mit roher Gewalt zwingen, keinen aufgeregten Eindruck zu machen. Er kniff sich derart in den Oberschenkel, daß er glaubte, aufschreien zu müssen.

Lautes Gelächter drang nach oben, als die ersten Jungen aus dem Keller kamen. Herr Roth zog die Augenbrauen zusammen und stieß mit einem Fußtritt die Zimmertüre zu.

"Nun, Andy?" sagte er schließlich und ließ sich auf einen weißen Holzstuhl mit wackeliger Lehne nieder, als erwarte er ein langes Gespräch.

Eine endlose Pause folgte. Andy spürte, wie sich kalter Schweiß sekundenschnell auf seiner Haut verteilte. Er zog die Decke höher.

"Hast du es dir überlegt? Bist du schon ein richtiger Mann, der zu seinen Fehlern stehen kann?"

Obwohl sich Andy durch diese Worte sehr dazu verleitet fühlte anzunehmen, daß seine Abwesenheit nicht aufgefallen war, so glaubte er gerade jetzt, besonders deutlich in Herrn Roths Augen zu lesen: "Mich legst du nicht so schnell aufs Kreuz, Freundchen."

Womöglich war es seine Taktik. Vielleicht wartete er nur auf eine verräterische Geste, ein unüberlegtes Wort?

"Na gut. Wie der Herr wünscht", sagte Herr Roth mit einem steifen Lächeln in den Mundwinkeln und ging hinaus.

Er hatte das Zimmer kaum verlassen, da stand er wieder unter der Tür. Sein Lächeln war nun breiter geworden. Er schwenkte einen weißen Umschlag und meinte: "Mit leerem Magen kann man dir schlecht zumuten, deine Post zu lesen... Schade." Dann drehte er sich auf dem Absatz um, ohne Andys Reaktion abzuwarten, und schritt zügig davon.

"Halt... Sie können doch nicht...“, rief Andy verzweifelt und stockte. Immer deutlicher trat ihm ins Bewußtsein, daß er es sehr wohl konnte, dies und noch viel mehr!

Andy fühlte sich betrogen. Aus der Ohnmacht bedingungslosen Ausgeliefertseins wuchs sehr bald eine blinde Wut. Andy prügelte schonungslos mit den Fäusten gegen die Wand, bis er mit zerschlagenen Händen erschöpft in verzweifeltes Weinen ausbrach.

Was konnte er schon tun? Er war ja nur ein kleiner Junge, einer, der keinerlei Rechte besaß, einer der froh sein mußte, daß er überhaupt hier im Internat aufgenommen wurde, einer der sonst nicht gewußt hätte, wo er bleiben sollte.

"Oh Mum, Dad - ich will zu euch!"

Andy hatte sein Gesicht im Kissen vergraben und hielt die Luft an. Ein Stechen in seinen Lungen schmerzte tief, aber er wollte nicht mehr atmen. Er wollte so lange warten, bis er bei Mum und Dad im Himmel war.

Andy würgte und verkrarmpfte die Hände, da stieß er auf etwas Weiches. Es war Ferdy. Er erschrak.

"Was wird aus ihm?"

Der Junge riß den Kopf aus dem Kissen und drückte Ferdy keuchend an sich.

"Nein, ich lasse dich nicht allein! Nie im Leben! Ich habe es Tom versprochen."

Unter lautem Poltern ging plötzlich die Türe auf und Dani stürzte ins Zimmer: "He, du Eule. Was ist denn mit dir los? Es gab prima Käseschnitten zum Abendbrot."

"Ich muß hier weg", hauchte Andy kaum hörbar und wiederholte sich.

"Ist doch Quatsch. Wer regt sich gleich so auf. Nur wegen der Lappalie..."

"Ist mir egal. Ich muß hier weg. Roth hat einen Brief von Tom. Er will ihn mir nicht geben."

"Gib's doch einfach zu."

"Ich kann nicht. Ich war's nicht..."

"Ach komm, das kann doch jedem mal passieren."

"Nein! Wenn ich's dir doch sage!" keuchte Andy und warf die Decke energisch zurück.

"Wer war es dann?"

"Stephan."

"Bist du sicher?"

"Er hatte Schmutz an den Hausschuhen gehabt..."

In diesem Moment wirbelte Dani auf den Flur hinaus, packte Stephan, der eben an der Tür gelauscht hatte, und bugsierte ihn unsanft ins Zimmer. Stephan jedoch war gefaßt und schlug Dani mit voller Wucht ins Gesicht. Dieser machte taumelnd einen Schritt rückwärts und hielt sich die blutende Nase.

Auf diesen Moment schien Stephan nur gewartet zu haben. Er stürzte auf Andy los, riß ihm Ferdy aus der Hand und schmetterte ihn in eine Ecke. Andy wehrte sich mit aller Kraft der Verzweiflung, aber unterlag.

Stephan schüttelte ihn in blinder Wut am Hals und schlug seinen Kopf unaufhörlich gegen die Wand. Es polterte laut, und Andy heulte im Schmerz.

Dani hatte sich inzwischen etwas gefaßt und wollte Andy helfen. Laut schreiend griff er Stephans Kragen und zerrte mit all seiner Kraft. Einige Knöpfe sprangen vom Hemd, aber Stephan schien das nicht aufzuhalten. Wie besessen schlug er auf Andy ein, der sich kaum noch wehrte. Sein Gesicht war ganz rot.

"Was ist da los!" dröhnte Herrn Roths Stimme. Er stürzte ins Zimmer.

Stephan hielt inne und schrie im Zorn: "Dieser Schwächling gibt mir die Schuld!"

"Woran?

"Die Box..."

"Und, hast du?"

"Neeiin!" schrie Stephan mit kreischender Stimme. Er wollte sich gerade erneut auf Andy werfen.

Aber Herr Roth zögerte keinen Moment und griff in den blonden Schopf.

"Auch wenn er unrecht hat, berechtigt das dich noch lange nicht, ihn so zu schlagen. Hör auf!" brüllte er und haute Stephan zwei kräftige Ohrfeigen runter, eine links und eine rechts. Mit einem wuchtigen Fuß- tritt verwies er ihn in sein Zimmer, dann wandte er sich Andy zu und brummte trocken: "Weiß Gott, was plötzlich in dich gefahren ist. Du kommst vorerst in den Keller. Vielleicht bringt dich das zur Vernunft."

Andy folgte ihm willenlos wie ein Schatten, ohne einen Blick auf Danis verblüfftes Gesicht zu werfen.

Im Magazin bekam er zwei Decken und eine zusammengerollte Matratze, bevor es weiter in den Keller ging.

"Ich werde dich jetzt einschließen. Du läßt mir keine andere Wahl." Herr Roth verließ den Duschenumkleideraum mit finsterem Gesicht.

Die Türe schnappte zu, der Schlüssel drehte sich im Schloß, blieb aber stecken. Andy war allein, allein mit sich und seinen Gedanken, allein mit seiner Angst.

Gegen zehn Uhr nachts erwachte Andy unvermittelt aus leichtem Schlaf Er war überzeugt, ein bedrohliches Geräusch vernommen zu haben. Aber statt dessen hörte er nur einen Wasserhahn, der in der Dusche tropfte, sonst war alles still. Doch da kam es wieder!

Was war, wenn es leise Schritte waren? Er blickte mit weit aufgerissenen Augen durch die Dunkelheit. Schwaches Licht drang durch die Ritzen in der Tür. Konnte es sein, daß es hier unten spukte?

Es klickte im Schloß.

"Wer ist da?" rief Andy vor Angst beinahe zitternd.

Keine Antwort kam. Nur das Quietschen des Schlüssels, der langsam im Schloß umgedreht wurde. Andy verkroch sich in die hinterste Ecke, zog die Füße hoch und schlang die Arme um die Beine.

Plötzlich sprang die Türe auf. Eine Hand fuhr über den Schalter, das Licht ging an.

"Habe mir gedacht, du willst bestimmt nicht ohne Ferdy gehen", sagte eine vertraute Stimme leicht heiser.

Andy blinzelte in den grellen Schein und sah Dani im rotgepunkteten Pyjama vor sich stehen.

"Danke", hauchte er etwas verwirrt und klammerte sich an Ferdy.

"Roth fährt auf‘m falschen Dampfer. Ich glaube, im Grunde weiß auch er, daß du's nicht warst."

"Wie meinst du das?"

"Hast du denn nichts gemerkt? Der bestraft dich doch nur, um den anderen zu beweisen, daß du nicht sein Liebling bist!"

"ls' gar nich' wahr!"

"Und wenn doch? Sieh mal, du baust so selten Mist und hast sogar in dem Film mitmachen dürfen, da glauben die anderen bestimmt, du würdest bevorzugt."

"Aber ich habe mich nicht darum gerissen..."

"Natürlich nicht. Ich weiß das, und er weiß es auch. Aber du durftest eben mitmachen und wurdest dazu noch sehr gelobt. Da mußten solche Spinner wie Stephan doch neidisch werden."

"Vielleicht hast du recht. Aber ich muß trotzdem gehen."

"Ich glaube, ich würde auch gehen, obwohl mein Alter mich deswegen gründlich verhauen würde. Aber du hast ja keinen ... Eh - ich meine, wohin willst du denn gehen?"

"Zu Tom.“

 "Aber du weißt nicht, wo er wohnt."

"In jeder Stadt gibt es ein Telefonbuch..."

"Schon klar", beruhigte Dani ihn und grub in der aufgenähten Brusttasche seines Pyjamas. "Bevor ich's vergesse: Hier hast du etwas Geld. Mein Alter hat es mir für meine gute Note im Rechnen gegeben. Aber du wirst es bestimmt viel besser gebrauchen können. Kannst es mir ja irgendwann mal zurückgeben, wenn du willst. Schreibst du mir?"

"Sicher. Aber wolltest du nicht für eine Uhr sparen?"

"Ach, weißt du, das hat Zeit."

Andy griff kurz entschlossen an sein Handgelenk und schnallte die Taucheruhr ab.

"Da, nimm", sagte er. "Unterwegs würde sie sowieso kaputt gehen. Bei dir ist sie sicher. Wenn ich dir das Geld wiedergebe, kannst du sie mir zurückgeben."

"Oh - danke! Ich werde bestimmt gut darauf achtgeben", sagte Dani und betrachtete stolz die Leihgabe.

Andy wollte noch bis Mitternacht warten, ehe er sich auf den Weg machte. Dani konnte nicht so lange bleiben, er war müde und fror. Sie gaben sich die Hand, dann ging Dani nach oben. Andy blickte ihm schwermütig nach, wie gerne hätte er ihn darum gebeten, mitzukommen. Sie wären zu zweit gewesen und es wäre ihm dann so manches viel leichter gefallen.

Eine ganze Weile strich Andy ziellos durch den Keller. Obwohl fest entschlossen, hatte er dennoch Angst, diesen Schritt zu wagen. Wie würde die Welt da draußen ihn erwarten, welche Gefahren lauerten auf ihn?

Mit sanfter Gewalt drehte Andy den Schlüssel im Schloß der Tür nach draußen und drückte auf die abgegriffene Klinke. Irgendwie hatte er gehofft, die Tür würde nicht aufgehen, sie würde vielleicht klemmen und ihn zurückhalten. Doch sie tat es nicht. Mit einem leisen Stöhnen gab sie bereitwillig nach.

Feuchtkühler Nachthauch wallte in den Keller. Fröstelnd schloß Andy die übergeworfene Wolldecke enger um sich und wagte nur zögernd einen Schritt vor das Haus.

Ungewöhnlich laut knirschte der Kies unter seinen Hausschuhen. Wenn nur keiner deshalb erwachte, dachte er und stand frierend in der Dunkelheit. Er blickte hinauf in die Wolken. Sein warmer Atem hauchte weißen Nebel. Kein Stern funkelte am nächtlichen Himmel.

Ganz schwach drang aus dein Tal das stählerne Rattern von Eisenbahnwaggons zu ihm herauf. Nur ein Güterzug, der talwärts rollte, aber für Andy bedeutete es weit mehr als das. Es war ein Zug, der ihn zu Tom bringen konnte.

Andy ging zurück ins Haus und schloß die Tür zu einem Spalt. Er mußte unbedingt die Turmuhr vom Dorf schlagen hören. Sie sollte ihm sagen, wann die Zeit zum Gehen nahte.

Mühsam wie ein alter Mann legte er sich auf seine Matratze nieder und wickelte sich in die rauhen Decken. War es wirklich richtig, was er vorhatte?

Eine ganze Zeit ließen ihn diese Gedanken keine Ruhe finden, und Andy versank ins Grübeln. Wann und wo würde er das nächste Mal wieder schlafen können? Bei dieser Kälte konnte er sich niemals draußen hinlegen. Vielleicht konnte er sich in einen Bahnhof schleichen und in einem Wartesaal übernachten?

Langsam begann die Wirklichkeit um ihn herum zu verschmelzen. Er hatte das Gefühl, in einem riesigen Watteberg zu versinken, als der Schlaf ihn übermannte.

 

Erst die Kälte brachte ihn aus unruhigem Schlaf langsam der Realität wieder näher. Andy zitterte am ganzen Leib.

Von viel künstlichem Nebel umhüllt, der wie klebrige Farbe aus stickig rauchenden Nebelkanonen quoll, sah Andy Tom, der in Zeitlupe auf ihn zustürzte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Arme ihm entgegengestreckt, schien Tom einer furchtbaren Dunkelheit entfliehen zu wollen.

Andy versuchte sich aufzurichten, er wollte ihm in die Arme rennen, doch irgendeine grausame Macht hielt ihn zurück.

"Tom, hier bin ich!" schrie er verzweifelt, aber es klang so unverständlich wie ein Grunzen.

Als wäre es Rauch, der im Wind vergeht, begann der Traum sich langsam aufzulösen. Andy wollte das nicht geschehen lassen, aber es war nicht aufzuhalten.

Die Glocke dröhnte und verhallte dumpf in der Ferne, es war bereits drei Uhr in der Früh.

Erschrocken schoß Andy hoch und rieb sich die vertränten Augen. Tom, er hatte ganz deutlich Tom gesehen. War er verletzt?

Andy faltete die Wolldecken ordentlich zusammen und legte sie aufs Fußende der Matratze. Frierend stieg er in seine Kordhose. Er hatte Hunger, sehr großen Hunger.

Nach einem tiefen Gähnen tappte er mit Ferdy in der Hand zur Treppe und stieg steif wie ein Storch Stufe für Stufe empor und betrat schließlich die Küche.

Ein Teekrug stand geradezu auffordernd auf dem Buffet. Andy ging hin und schlürfte gierig den noch handwarmen Rest Schwarztee. Plötzlich begann er zu würgen und verzog angewidert das Gesicht. In wenigen Schritten stürzte er zur Spüle und spuckte bitteres Kraut in den Trog. Allerdings konnte er nur einen kleinen Teil ausspucken. Das meiste hatte er bereits verschluckt.

Der Wasserhahn rauschte, und Andy trank einen tüchtigen Schluck. "Es hilft gegen Übelkeit", dachte er. Jedenfalls sagte das Marie, und sie wußte in solchen Dingen Bescheid.

Kaum war die Bitterkeit in seinem Mund verschwunden, kam der Hunger wieder. Hier mußte es doch wimmeln von Köstlichkeiten.

Aus einer Schublade holte sich der Junge ein großes Fleischermesser und säbelte einige Scheiben Dunkelbrot. Dazu verschlang er mit schier unbändigem Heißhunger etwas zu dick geratene Salamischeiben und trank Milch aus dem Holzbottich im Vorratsraum. Er aß so hastig, daß er Magenschmerzen bekam.

Das Teekraut würde bald wirken, dachte Andy, gluckste und ging daran, wieder aufzuräumen. Den Rest Brot und die Salami legte er in ein altes Küchentuch, knotete dies zu einem Bündel zusammen und schlich die Stufen zurück in den Keller.

Beinahe alle Zweifel und Ängste waren nun wie weggeblasen. Er hatte ein Gefühl, als läge ihm die Welt zu Füßen. Aus dem Schuhkasten nahm er die groben Arbeitsschuhe, warf sich den Anorak über und prüfte, ob die Mappe auch wirklich noch in der Tasche lag. Ferdy steckte er in die linke Tasche und bettete ihn so ein, daß er gerade auf die Straße gucken konnte. Nun konnte die Reise beginnen.

Ohne einen Blick zurückzuwerfen verließ Andy das Haus, frisch gestärkt, mit dem Bündel in der Hand und voller Hoffnung, Tom zu :finden.

Der Mond lugte groß und rund wie ein Fünf-Franken-Stück zwischen dunklen Wolken hervor, und Andy sah das Gesicht. Es lachte ihm zu, so als wolle es ihm sagen: "Viel Glück, mein Sohn, alles Gute!" Aber bald schon kam eine Wolke und hüllte ihn in Schweigen.

Erst vor Frau Kasens Haus blieb Andy einen kurzen Moment stehen. In einem der Fenster brannte ein schwaches Licht. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen ihrer Alpträume gehabt, vermutete er, nun konnte sie keinen Schlaf mehr finden. Es sei ihr Gewissen, hatte sie ihm gesagt, sie könne es nicht mehr ertragen.

Und mit einem Mal rannte Andy los, mit aus der Stirn gewehtem Haar und fest entschlossen, Tom zu finden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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