Adrian Braissant

Delta: 15. Draussen

Max, wie Doktor Ärni die mit dunklem Leder bespannte Untersuchungsliege nannte, stand inmitten eines hellen, vor Sauberkeit glänzenden, Raumes. Eine Vielzahl komplizierter Einrichtungen reihten sich entlang der Wände. Kleinere Geräte und Instrumente waren in großen Glasschränken verstaut oder lagen in Ablagen geordnet bereitgestellt, so daß Doktor Ärni nur die Hand danach auszustrecken brauchte.

Ein seltsamer Geruch stieg Andy in die Nase. Obwohl er glaubte, ihn wahrscheinlich noch nie in seinem Leben gerochen zu haben, flößte er ihm dennoch Unbehagen, ja sogar Angst ein. Möglicherweise war es der Zahnarzt, Doktor Baumgarten, der halbjährlich die Zähne der Jungen im Sonnegg kontrollierte, der die Furcht vor Ärzten und Krankenhäusern zusätzlich geschürt hatte.

Andy erinnerte sich noch sehr wohl an seine Worte: "Diejenigen, die durch Nachlässigkeit, Unsauberkeit oder Faulheit vom Zahnteufelchen heimgesucht werden, können euch sehr bald erzählen, wie ich die Bestie in meiner Praxis wieder austreiben

Dani war einer derjenigen gewesen. Was er von den langen Bohrern, den großen Zangen und Spritzen erzählte, hatte allen kalte Schauer über den Rücken gejagt. Die meisten Jungen gingen nachher sofort ihre Zähne putzen, um ganz sicher zu sein, keinen Teufel an ihren Zähnen nagen zu haben.

Schwester Martha entfaltete ein schneeweißes Tuch und warf es über Max. Doktor Ärni legte Andy auf die Liege und ging zum Händewaschen. Während Schwester Martha nachher den Überwurf zurecht- knöpfte, fragte Doktor Ärni: "Willst du nicht deinen Mantel ablegen?"

"Nein! Bitte, darf ich ihn anbehalten?" flehte Andy eindringlich.

Doktor Ärni schmunzelte und sagte: "Nun, wenn du dich nicht davon trennen kannst, bitte. Du mußt darin schwitzen."

Schwester Martha rollte den Verbandstisch herbei. Andy musterte ihn eingehend und stellte mit tiefem Unbehagen fest, daß sich darauf solche Dinge wie Klemmen, Tupfer, Pinzetten, große und kleine Scheren, jede Menge Häkchen und Nadeln, Heftpflaster am Band, Binden und Salben fein säuberlich auf einem weißen Tuch ausgelegt befanden. Jedoch das Schlimmste war die klobige Glasspritze, deren Nadel ihn teuflisch anblitzte.

"Muß ich 'ne Spritze ... ?"

"Wenn ich nähen muß? Du wirst sie kaum spüren. Sie wird dir den Schmerz nehmen. Weißt du, das Nähen würde dir viel mehr weh tun als die Spritze", beruhigte ihn Doktor Ärni sanft und schob seine helle Hornbrille auf die Nase. Dann setzte er sich auf einen Stuhl, der so ähnlich aussah wie ein auf Rollen montierter Barhocker, blendend weiß gestrichen und aus massivem Stahl gefertigt.

"So, Andy, nun laß mich mal sehen. Wenn ich dir weh tue, dann schrei."

Andy hob den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten. Er fühlte heißen Schweiß aus den Poren fließen und erwartete gefaßt den ersten Schmerz.

Doktor Ärni griff sich eine lange Schere vom Verbandstisch und begann, den Stoff des rechten Hosenbeins behutsam aufzuschneiden. Andy spürte die kalte Metallklinge sich stetig der heißen Wunde nähern und biß die Zähne zusammen.

"Was hat dich erwischt? Ein Hund?" fragte Doktor Ärni.

Andy schwieg und nickte mit zusammengekinffenen Augenlidern. Der plötzliche Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen als Doktor Ärni den Verband löste, der bereits mit der Wunde verklebt war.

"Sag mal, damit bist du herumgelaufen? Das muß wirklich sehr schmerzhaft gewesen sein. Alle Achtung! Bist ein tapferer Junge", sagte Doktor Ärni, und Schwester Martha reckte interessiert den Kopf.

Nun holte sich Doktor Ärni eine hohe Spraydose vom Verbandstisch und schüttelte sie kräftig durch. Andy hörte im Inneren des Behälters eine Kugel auf- und abklirren.

"Schwester, eine Tetanus bitte."

Schwester Martha nickte freundlich und ging zu einem Glaskasten. Sie klappte den Deckel auf und entnahm eine kleine Ampulle mit durchsichtiger Flüssigkeit.

Die Spraydose versprühte zischend eine orangerote Flüssigkeit. Sie wirkte neutral und kühlend. Doktor Ärni besprühte damit Andys ganzes Bein, bis hinauf zum Knie. Doch Andy sah nicht hin, ihn beschäftigte viel zu sehr die dünne Kunststoffspritze, mit der Schwester Martha nun die Flüssigkeit aus der Ampulle zog.

Andy rätselte fieberhaft, welche wohl mehr weh tat, die große oder die kleine Spritze?

Schwester Martha schloß den Kasten wieder und legte die Spritze neben die große auf den Verbandstisch. Argwöhnisch betrachtete Andy die glänzenden Nadeln und hätte am liebsten ganz darauf verzichtet. Doch wenn schon eine, dann würde er sich am ehesten für die kleine entscheiden.

"Was hast du da für ein schönes Pferdchen? Wie heißt es?" fragte Schwester Martha plötzlich und trat zu ihm hin.

"Ferdy", antwortete Andy und spürte im selben Moment einen Stich in sein rechtes Bein fahren.

"Und das war es auch schon. Hat es weh getan?" fragte Doktor Ärni freundlich und legte die große Spritze weg.

Andy schüttelte verneinend den Kopf, obwohl ihn die gespritzte Flüssigkeit unter der Haut arg brannte. Im Gegensatz zum schneidenden Schmerz, der aus der Wunde kam, war dieses Brennen viel leichter zu ertragen. Zumindest wurde es nicht, oder nur unwesentlich, stärker, um einige Minuten später komplett abzuebben.

Wie versprochen ließ daraufhin auch der Schmerz in der Wunde mehr und mehr nach, und das Bein wurde schwerer und schwerer. Bald spürte Andy nichts anderes mehr als ein feines Kribbeln.

"Ich glaube, wir können", sagte Doktor Ärni und fuhr Andy mit der Hand über die klare Stirn. "Wenn's nicht mehr geht, dann sagst du's, gell.“

Andy preßte die Lippen zusammen und starrte an die Decke. Doktor Ärni setzte sich wieder auf seinen Hocker und begann, Nadel und Faden zu gebrauchen. Andy verzog vorbeugend das Gesicht, aber da kam kein Schmerz. Sein Bein war wie mit einer dicken Lederschicht überzogen, die der Doktor nun zusammennähte. Lediglich hin und wieder ein Zupfen und ganz in der Ferne so etwas wie ein leichtes Stechen, sonst war alles taub.

"Siehst du, Ferdy", sagte Andy erleichtert, "nun werd' ich bald wieder laufen können."

"Nicht so stürmisch. Bis die Fäden raus sind, solltest du dein Bein unbedingt schonen", betonte Doktor Ärni streng, ohne sich abzuwenden.

"Wie lange wird das dauern?"

"So ungefähr zehn Tage."

"Was? Aber ich muß..."

"Ich weiß", unterbrach ihn Doktor Ärni sanft und klebte ein breites Pflaster über die mit schwarzglänzenden Fäden verknüpfte Wunde.

Schwester Martha hob Andys Bein leicht an, während Doktor Ärni zwei, drei hauchdünne Gazestreifen auf die Wunde legte. Zum Abschluß wickelte er dann noch eine straff gezogene Binde aus elastischem Stoff ums Bein und fixierte sie.

"So, fertig", sagte Doktor Ärni zufrieden.

"Jetzt mach' die Hose auf und drehe dich vorsichtig auf den Bauch. Die kleine Spritze wirst du kaum spüren."

"Brauche ich die denn wirklich?" fragte Andy scheu.

Doktor Ärni lächelte: "Ja, sie ist gegen Wundstarrkrampf. Der kann tödlich sein und ist überaus schmerzhaft."

Andy sah sofort die Dringlichkeit ein und tat, wenn auch widerwillig, was der Doktor von ihm verlangte. Noch bevor er sich den unabwendbaren Stich in allen Details ausmalen konnte, war er bereits Geschichte. Allmählich verwandelte sich der lokale, messerstichartige Schmerz in Muskelkater und breitete sich unaufhaltsam über den gesamten Muskel aus.

Doktor Ärni klebte ein kleines Pflaster über die Einstichstelle und gab Andy einen sanften Klaps auf den Hintern: "So, nun hast du's endgültig überstanden. Siehst du, die Welt ist deswegen nicht untergegangen.“

Schwester Martha sammelte die gebrauchten Instrumente ein und legte sie in eine Metallschale. Beim Hinausgehen sagte sie: "Und jetzt besorge ich dir eine neue Hose. Du willst doch bestimmt bald nach Hause, nicht?"

Nach Hause? Wo war das eigentlich? Etwa im Internat? Nein, niemals! Das war kein Zuhause. Lediglich ein Aufenthaltsort, an dem man bleiben mußte, bis man nach Hause durfte.

"Wo wohnst du?" fragte Doktor Ärni, während er die Hände wusch.

Andy befühlte den Verband am Bein und tat so, als hätte er die Frage nicht gehört.

"Na, ja, egal. Du sagst es mir später, nicht? Bis dahin kannst du gerne bei uns bleiben. Einverstanden?"

Andy zog seine Hose hoch und stieß dabei ein seufzerartiges "Dankeschön" hervor.

"Nein, nein! Zieh sie gleich ganz aus", rief Schwester Martha von der Tür und schwenkte eine Jeanshose. "Ich leg sie dir im Zimmer bereit."

Doktor Ärni ging zu einem der Schränke und holte zwei Krückstöcke hervor. Mit wenigen Handgriffen stellte er sie auf die richtige Höhe ein und sagte: "Wenn du auf die Toilette mußt, dann nur mit diesen hier?"

Andy nickte, und Doktor Ärni lud ihn wieder auf die Arme. Er trug ihn in ein kleines Zimmer, in dem eine Couch an der Wand stand. Sie erinnerte Andy stark an Max, doch war sie etwas breiter und stand außerdem nur auf sehr kurzen Holzbeinen.

Ein schlanker Schreibtisch aus dunklem Holz stand links neben dem Fenster, in der rechten Ecke rankte eine buschige Zimmerlinde. Der Rolladen vor dem Fenster war heruntergelassen.

"Manchmal schlafe ich hier. Es ist zwar nicht so bequem wie ein Bett, aber doch ganz angenehm. Versuch ein wenig zu schlafen."

Doktor Ärni legte die Krücken neben der Couch auf den Boden und rückte den Bürostuhl neben die Liege. Die Jeans war über die Lehne geschlagen. Andy setzte sich auf, zog den Anorak aus und hängte ihn um den Stuhl. Doktor Ärni verließ das Zimmer durch eine zweite Tür, die in einen hellen Nebenraum führte. Andy schaute ihm nach, dann ging das Licht aus. Er schlief erschöpft ein.

 

Allmählich drang das Tageslicht durch die Ritzen des Rolladens. Andy erwachte sanft aus ruhigem Schlummer, als er nebenan Doktor Ärni sprechen hörte.

„... er sagt, er heiße Andy Carson... Oh, ich schätze ungefähr zehn oder höchstens elf.. dunkelblondes Haar, rehbraune Augen... wie? Ausgerissen? Wo... Sonnegg? Aha, ich hatte schon so eine..."

Andy hatte genug gehört. Während er hier geschlafen hatte, hatte der Doktor herumtelefoniert. Kurzum wußte auch Herr Roth Bescheid. Er war verraten!

Andy setzte sich auf und tastete mit der Hand nach dem Verband. Das Gefühl war wieder da, doch die Wunde schmerzte kaum. Nur wenn er drückte kam ein messerscharfes Stechen.

Flink angelte Andy sich die Jeans und zog sie, noch auf dem Bett liegend, an. Sie war zwar nicht neu, aber roch frisch gewaschen und paßte außerdem wie angegossen. Wem sie wohl gehört haben mochte?

,Andy versuchte, den Gedanken zu verdrängen, stieg vorn Bett und nahm die Krückstöcke auf.

Und wenn die Hose nun einem kranken Jungen gehört hatte? Einem, der hier gestorben war? Er griff in die Taschen, sie waren leer.

Vom Stuhl holte er den Anorak und öffnete lautlos die Türe zum Flur. Mit den Krücken kam er beachtlich schnell vorwärts, aber sie klapperten ziemlich laut. Womöglich lag es daran, daß er noch keine große Übung an Umgang damit hatte.

Von der Notaufnahmepforte drangen Stimmen zu ihm. Schritte hallten und kamen immer näher. Andy sah gehetzt um sich. Es gab keinen anderen Ausweg, er mußte wieder zurück ins Zimmer flüchten.

Atemlos kurbelte er den Rolladen hoch und blickte hinaus. Der Himmel war bedeckt, es sah aber nicht nach Regen aus.

Das Fenster ließ sich ohne weiteres öffnen. Andy schaute hinunter. "Kaum zwei Meter", dachte er und setzte sich auf die Fensterbrüstung.

Scheppernd schlugen die Krückstöcke auf den harten Boden. Andy hängte sich an die Brüstung und ließ sich dann fallen. Es war gut gegangen. Bei der Landung hatte er nicht versucht, das ganze Gewicht mit den Beinen abzufangen, sondern er hatte sich auf den Rücken abrollen lassen, wie ein Fallschirmspringer.

Schnell klemmte Andy die Krücken unter die Arme und humpelte ums Haus, dem Besucherparkplatz zu. Wahrscheinlich war es bald Mittag, von der Küche strömte ein wunderbar würziger Bratengeruch aus. Andy genoß jeden Atemzug. Nur zu gerne hätte er davon gekostet, aber er mußte dringend weg. Herr Roth war ihm gewiß längst dicht auf den Fersen.

Andy schlich sich außen am Notfalleingang vorbei und erreichte kurz später den Lieferantenparkplatz. Sofort fiel ihm ein grüner Lieferwagen auf, dessen hintere Ladetüre verführerisch weit offen stand. Andy blickte um sich, kein Mensch war weit und breit zu sehen.

Vorsichtig schlich er um den Wagen. "Blumenexpress Thun" stand in geschwungener Aufschrift geschrieben. Und mit einem Mal wußte Andy, was er zu tun hatte. Er stieg in den Laderaum, zwängte sich hinter einen leeren Blumenkorb. Lange war es ruhig.

Doch dann vernahm er eine laute Stimme. Schritte näherten sich. Andy duckte sich. Ein Mann warf einen weiteren leeren Korb in den Laderaum, die Krückstöcke klirrten. Andy gefror das Herz in der Brust.

"Gibt’s denn so was? Los, raus da! Was hast du hier drin verloren?"

.Andy schob die Krücken vor, kroch aus dem Laderaum und stotterte: "Ich... ich muß nach Thun. "

"ls' ja okay, Kleiner. Ich tu‘ dir nichts“ Er kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Ich bin zwar kein Taxi, aber was soll’s. Hättest dich nicht einzuschleichen brauchen. Das kann Arno verdammt nicht haben.“

Etwas verwirrt schaute Andy den jungen, unsauberen Mann mit den fettigen, schulterlangen Haaren an, doch dieser würdigte ihn keines Blickes mehr. Er ließ die Ladetüre zuknallen und ging um den Wagen zur Fahrertür.

„Nun schlag mal keine Wurzeln, Kleiner...“

Der Anlasser nuckelte kratzig, der Motor sprang, eine blaue Rauchfahne ausstoßend, schließlich an.

Noch immer stand Andy wie angewurzelt an der selben Stelle, als plötzlich die Beifahrertür aufflog und Arno rief: "Was is‘ nun? Willst du mit oder brauchst du eine Spezialeinladung?"

"Ich komme!" rief Andy, humpelte so schnell es ging zum Wagen und stieg ein.

Kurze Zeit später schwenkte der Lieferwagen in die Hauptstraße ein. Arno griff ins Handschuhfach und holte eine Zigarettenschachtel hervor. Nervös versuchte er sich eine Zigarette anzustecken, wozu er mindestens drei Streichhölzer verbrauchte. Als wäre es düngend benötigte Medizin, sog er dann den bläulichen Dunst tief in seine Lungen. Andy beobachtete, wie der Rauch beim Ausatmen wieder aus der Nase strömte. Er mußte schon beim Anblick beinahe husten. Schnell sah er darum woanders hin, aber der beißende Rauch verfolgte ihn, er brannte in den Augen, stach ihm in die Nase und reizte ihn zum Niesen.

"Tut mir leid, Kleiner, aber wenn ich fahre, dann muß ich eine rauchen. Falls es dir zuviel wird, kannst du jederzeit aussteigen", brummte Arno gereizt.

Andy entschuldigte sich und schüttelte entschieden den Kopf. Er wollte sich gedulden. Es konnte wer weiß wie lange dauern, bis er wieder eine so günstige Gelegenheit hatte, mitzufahren. Alles, was er jetzt zurücklegte, mußte er nicht mehr laufen. Dieser Gedanke half über vieles hinweg. Auch über die kreischenden Gitarren, die nun in schmerzender Lautstärke aus dem Lautsprecher vor ihm dröhnten.

Der Wagen fuhr sehr schnell. Offenbar kannte Arno die Strecke. Obgleich er demnach wußte, wo und wann er ein langsameres Auto überholen konnte, klebte er mit der Stoßstange wie besessen am Vordermann und schimpfte gestikulierend über ihn.

Zweimal überholte Arno so gefährlich, daß Andy die Augen schloß, um das entgegenkommende Auto nicht auf sich zurasen zu sehen.

"Je schneller es vorwärts geht, desto besser", versuchte Andy sich dauernd einzureden, aber insgeheim empfand er Angst, große Angst, diesem Verrückten auf Tod und Verderben ausgeliefert zu sein.

Verkrampft saß er im Sessel, hielt sich am verfransten Rest eines Sicherheitsgurts fest und betete. Gewiß, Tom fuhr auch sehr zügig, jedoch niemals mit zu großem Risiko. Tom fuhr sicher, während dieser Arno hier mit dem Feuer spielte. Mit seinen halsbrecherischen Manövern forderte er das Schicksal geradezu heraus.

"Blumenexpress", erinnerte sich Andy und fand, daß Höllenexpress viel zutreffender wäre. Krampfhaft bemühte er sich, nicht mehr nach vorne zu schauen, statt dessen blickte er zum Seitenfenster hinaus. Er sah die Viehzaunpfosten am Straßenrand wie Streichhölzer vorbeiflitzen. Geländer, Bäume, Gartenzäune und Büsche flogen vorbei als schreite er mit Siebenmeilenstiefeln durch das Land der Zwerge.

Arno schaltete unvermittelt zurück und ließ den Motor grell aufheulen. Blitzschnell scherte er aus der Kolonne und versuchte vor einer unübersichtlichen Kurve noch zwei Wagen zu überholen.

Entsetzt sah Andy einen Reisebus aus der Kurve schießen. Eine Hupe schmetterte rauh. Scheinwerfer blendeten. Reflexartig schlug Andy die Hände vors Gesicht und preßte den Kopf in den Schoß.

Arno riß das Lenkrad herum. Reifen quietschten. Haarscharf schwenkte der Lieferwagen leicht schleudernd wieder in die Kolonne ein. Andy schlug mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe. Der gerade überholte zweite Wagen mußte scharf bremsen und hupte. Dann dröhnten nur noch die Gitarren aus dem Lautsprecher.

Andy hob langsam den Kopf und schaute verdattert durch die gespreizten Finger seiner Hände. Er blickte zu Arno auf und sah ein besessenes Grinsen in dem hageren Gesicht. Es war so unheimlich kalt und fremdartig wie das jenes Teufels in Menschengestalt auf der Bibelzeichnung in der Sonntagsschule.

"Na, so schnell hast du die Strecke noch nie zurückgelegt, was!"

"Haben Sie's eilig?"

"Nein - du etwa?"

"Eigentlich nicht", sagte Andy. Im selben Moment wurde ihm klar, wie unnötig seine Antwort war.

Wenige Kilometer später stockte das kreischende Quietschen der Gitarren. Für Andy bedeutete es eine große Wohltat, nicht so für Arno, der die "Musik" wohl so sehr brauchte wie seine Zigaretten.

Wüste Flüche ausstoßend, rüttelte er grob am Kassettengerät und verbog dabei einen Teil des Haltebügels. Ein-, zweimal jaulte der Ton wieder kurz auf, dann war endgültig Schluß.

Beinahe schäumend würgte Arno die verklemmte Tonbandkassette aus dem Laufwerk. Das Band hing in langen Streifen heraus, es hatte sich im Abspielgerät verheddert.

Arno fackelte nicht lange. Brutal zerrte er an der Kassette und riß das Band mit scharfem Ruck aus dem Geräteinneren. Wüst schimpfend schleuderte er die demolierte Kassette kurzerhand durch das heruntergekurbelte Seitenfenster auf die Straße.

"Mach dich mal nützlich, Kleiner. Im Handschuhfach liegen Kassetten. Gib mir die mit den Stones. Sie hat einen roten Nagellackfleck auf der Hülle. Na, mach schon!"

Finster sah Arno zu Andy rüber und machte dabei einen gefährlichen Schwenker nach rechts. Nur um Haaresbreite verfehlte er die Leitplanke, aber das schien ihn nicht besonders zu beeindrucken.

"Ja - die ist's. Steck sie rein."

Andy versuchte es, doch die Kassette paßte nicht auf Anhieb in die Öffnung.

"Mensch, bist du bedeppert! Hat man dir noch nicht einmal das Wichtigste beigebracht? Herrensöhnchen..."

Eingeschüchtert ließ sich Andy die Kassette aus der Hand reißen. Woher hätte er denn wissen sollen, wie man eine solche Musikkassette einschob? Eben hatte er doch zum ersten Mal in seinem Leben eine in der Hand gehabt!

"Sag mal, hat dir dein Alter etwa auch vergessen zu zeigen, wie man pinkelt?"

Jetzt spürte Andy Wuttränen in seine Augen treten. Wie konnte dieser schmierige Kerl nur so von Dad reden? Er hatte ihn doch gar nicht gekannt - noch nie gesehen.

"Dir hätte Dad noch lange etwas vorgemacht. Du kannst tausend Jahre lernen und wirst trotzdem nie so gut wie er oder Tom!" schrie Andy in Gedanken Arno an und warf ihm einen bösen Blick zu. Aber ebensogut hätte er dies wirklich herausschreien können. Bei dem gesteigerten Lärm hätte sowieso keiner was gehört.

Aber Andy wußte, er mußte dankbar sein, von diesem widerlichen Kerl mitgenommen worden zu sein, und der Gedanke ließ erneut Wut in ihm aufflammen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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