Adrian Braissant

Delta: 16. Flucht

Zehn Minuten später ging Andy irgendwo am Rande von Thun eine Allee entlang und war froh, nicht mehr neben dem verrückten Arno Im Wagen zu sitzen.

Es hatte zu regnen begonnen. Die Straßen waren naß und die vorbeifahrenden Autos wirbelten Gischtwolken hinter sich auf, außerdem war es widerlich kühl. Andy umklammerte die Griffstücke der Krücken und wünschte sich, seine naßkalten Hände in die Taschen stecken zu können. Wie gerne säße er gerade jetzt irgendwo in einer warmen Stube, vielleicht vor einer riesengroßen Tasse sitzend, aus der süßlich der Duft heißer Schokolade stieg.

Träumend schloß er die Augen und sah auf einmal ein lebendiges Feuer in einem Kamin knistern. Kaum wagte er es zu glauben, aber er fühlte ganz deutlich die Wärme auf seiner Haut prickeln. Noch während sich langsam ein gemütlicher Wohnraum um ihn öffnete, fühlte er, wie sich behutsam ein Arm um seine Schultern legte. Überrascht fuhr er herum und sah erstaunt in Toms liebe Augen. Er saß direkt neben ihm und lächelte ihn an.

Auf dem runden Holztisch vor ihnen lag aufgeschlagen das Album. Andy sah die Fotos von Dad und Tom auf der Akademie. Es war so wunderbar, so schön wie Andy sich das immer so sehr gewünscht hatte, er war zu Hause.

 

Ein Auto zischte vorbei. Verwirrt riß Andy die Augen wieder auf und stoppte. Nur eine Armlänge vor ihm wuchs der dicke Stamm eines Ahorns aus dem Boden. Wie ein blindes Huhn wäre er kurzum da reingelaufen. In den paar Schritten, die er mit geschlossenen Augen getan hatte, war er doch tatsächlich völlig vom Weg abgekommen.

Er lehnte sich an den Stamm und schloß noch mal die Augen. Er wollte nur zurück zu Tom und konzentrierte sich so fest er konnte, aber es gelang nicht. Alles war verschwunden, und es blieb dunkel um ihn.

Enttäuscht wischte er sich eine nasse Strähne aus der Stirn und blinzelte in den Nieselregen. Wann würde er bei Tom sein? Konnte er es überhaupt noch schaffen?

"Reiß dich zusammen! Jetzt hast du's schon bis hierher geschafft, dann schaffst du's auch noch weiter. Tom hat gesagt: 'Wo ein Wille ist, da gibt's auch einen Weg'. Ich will weiter! Ich will zu Tom! Ich will!" dachte Andy und trieb sich vorwärts.

Er wußte, jeder auch noch so kleine Schritt brachte ihn weiter. Viele kleine Schritte ergaben einen Kilometer, so kam er Tom Schritt für Schritt immer näher. Er wußte, daß es so war.

Unweit sah Andy eine größere Kreuzung. Dort gab es sicher Straßenschilder, dachte er, und der Gedanke munterte ihn auf Nun würde es nun endlich möglich sein, sich zu orientieren, um dann gezielt weiter- marschieren zu können.

Andy hastete vorwärts. Rechts auf der gegenüberliegenden Straßenseite breitete sich hinter einem hohen Maschenzaun eine gepflegte Sportanlage aus. Der Rasen war frisch gemäht und leuchtete saftig grün.

Links entdeckte Andy durch den sich langsam goldgelb verfärben- den Blätterwald, immer deutlichere Umrisse eines großen Gebäudes. Die Fassade war in einem bleichen Gelb verputzt, wobei die Fenster wie große dunkle Löcher darin saßen. Andy vermutete, daß es ein Schulhaus sein mußte.

Die Mittagsglocken läuteten, der Geschmack von gutem Essen lag in der Luft. Andy war nur noch wenige Schritte vor der Kreuzung, da bogen eben zwei Jungen auf Fahrrädern strampelnd in die Straße ein und fuhren schwankend heimwärts. Wenig später überquerte eine Gruppe Mädchen und Jungen im Regenmantel vermummt die Straße und kamen näher. Andy zauderte einen Augenblick. Brauchte er wirklich keine Begegnung zu fürchten?

Ausgeschlossen. leer kannte ihn niemand. Es konnte nicht sein. Keiner würde wissen, daß er auf der Flucht war. Jetzt war er nur noch einer unter vielen, er hatte es geschafft!

Beherzt schwang er sich auf den Krückstöcken vorwärts, dabei war er krampfhaft bemüht, nicht aufzufallen. "Einfach alles ganz so machen wie die anderen", dachte er. Aber wie machten es die anderen?

Er fühlte, wie sie ihn anstarrten. Oh, ja! Zwei Mädchen hatten sich eben nach ihm umgedreht.

"Zum Teufel, was mache ich falsch? Ich darf nicht auffallen!"

Andy spürte, wie ihm die Röte aus dem Kragen stieg.

"Wenn die mich so sehen, dann wissen sie Bescheid!" schimpfte er mit sich und eilte schnell vorwärts.

Niemand begegnete ihm jetzt mehr. So folgte er der Fassade des Schulhauses und erreichte den gedeckten Pausenplatz an der Kreuzung Säulenbögen, aus weißem Stein gemauert, säumten an einer Seite den Gebäudevorsprung. Andy beschloß, hier unterzustellen, auszuruhen und sein Brot und die Salami zu essen.

Gedankenversunken setzte er sich auf eine Stufe vor den Eingang und nahm das schwammig gewordene Brot aus der Kapuze. Sehr appetitlich sah es ja nicht mehr aus, aber wer Hunger hatte, aß alles. Andy zog die Salami aus der Tasche und roch daran. Der wunderbar kräftige Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenfließen. Ja, sie war noch vollkommen in Ordnung, dachte er gierig und begann mit seinem Taschenmesser die mehlige Haut abzuschälen.

Das Brot schmeckte noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Er brachte kaum mehr als zwei Bissen davon hinunter. Es schmeckte teils nach dem Imprägnierungsmittel seines Anoraks, teils nach dem Zigarettenrauch vermischt mit allen möglichen Abgasen. Um den üblen Geschmack zu übertönen, nahm Andy vier Scheiben Salami auf eine Viertelscheibe Brot.

 

Auf einmal entdeckte Andy, daß er von ein paar Jungen beobachtet wurde.

"Was bist du denn für einer?" fragte der eine und schob sich lässig einen Kaugummi in den Mund.

Andy stand auf, dabei fiel ihm Ferdy vom Schoß. "Ich heiße Andy, und du?"

"Guck mal, ein Klugscheißer!" sagte ein anderer und versteckte sich hinter seiner Mappe, auf der eine Menge farbiger Abziehbilder klebten.

"Bist wohl neu in der Gegend, he?" fragte der mit dem Kaugummi in mitleiderregendem Ton, worauf seine vier Kameraden verklemmt kicherten.

Andy nahm Ferdy auf und wollte gehen, er hatte ein ungutes Gefühl.

"Halt, halt, Hosenscheißer, so schnell geht das nicht!" rief der Junge mit dem Kaugummi barsch. "Hast du Geld?"

Eingeschüchtert schüttelte Andy den Kopf. Er ahnte sehr wohl, was ihm kurz bevor stand und versuchte, langsam an der Hauswand entlang wegzuschleichen.

"Na, dann laß mich mal nachsehen!" rief der Junge mit dem Kaugummi und schnalzte mit der Zunge.

Jetzt humpelte Andy, so schnell ihn die Stöcke trugen, der Kreuzung zu. Zwei große Schritte hatte er wie Sprünge zurückgelegt und setzte nun zum dritten an.

Dicht hinter sich hörte er das Schnaufen der Verfolger. Sie kamen schnell näher. Schon überholte ihn einer der Jungen und stellte ihm ein Bein. Andy strauchelte und stürzte. Die Kniescheiben schmetterten schmerzend auf den rauhen Asphalt. Die Stöcke wirbelten durch die Luft und klirrten zu Boden.

Lautes Grölen brach los. Der Junge mit den vielen Aufklebern auf der Mappe warf sich blitzschnell auf ihn und hielt ihn am Boden fest. Der Junge mit dem Kaugummi durchwühlte inzwischen flink Andys Taschen und fand auch das Geld.

"Was tut ihr da! Laßt den Jungen los! Sofort!"

Die Jungen stoben wie wild davon, als wäre ein ganzes Rudel Jagdhunde hinter ihnen her.

Andy hatte Wuttränen in den Augen. Warum konnten die anderen ihn immer so leicht überwältigen? Er war eine Null, oh ja! Ein richtiger Schwächling, der nicht mal imstande war, auf sein Geld aufzupassen.

Er rieb sich die Knie und begann die Krückstöcke zusammenzusuchen. Erst jetzt bemerkte er die junge Frau, die nun auf ihn zu trat. Sie hatte dunkelblondes, welliges Haar und braune Augen. Andy schätzte, daß sie ungefähr so alt war, wie Mum jetzt sein müßte.

"Danke", sagte er scheu, als sie ihm Ferdy übergab und wollte gehen.

"Du bist doch nicht von hier, oder?"

Andy schnaufte, drehte sich um: "Nein, ich bin nur auf der Durchreise.“

"Ah - so. Wohin?"

„Bern...“

"Wohnst du da?"

Andy schüttelte den Kopf. Warum nur interessierten sich die Erwachsenen so sehr dafür, wo er wohnte? War es derart ungewöhnlich, wenn ein Junge irgendwohin wollte, wo er nicht wohnte?

"Wie heißt du denn?"

„Andy.“

"Gut, Andy, ich bin Fräulein Lücker und gebe hier Unterricht. Die Buben von vorhin gehen alle in meine Klasse. Haben sie dir was weggenommen?“

Andy nickte.

„Geld?“

Wieder nickte Andy.

"So was auch. Bevor wir uns hier noch erkälten, sollten wir lieber zu mir gehen. Ist nicht weit. Gleich da drüben im Reihenhaus. Eben wollte ich Mittagessen machen. Ich würde dich gern dazu einladen, wenn du willst. Du könntest mir in aller Ruhe erzählen, was war und dich ein wenig aufwärmen. Vielleicht hört es sogar inzwischen auf zu regnen. Na, was sagst du?“

Andy nahm gerne an. Er war froh, endlich in die Wärme zu kommen und seinen durchnäßten Anorak ausziehen zu können. Außerdem hatte er noch immer großen Hunger. Warum sollte er also ablehnen?

 

Die Wohnung war sehr gemütlich eingerichtet. Gleich von Anfang an hatte es Andy bei Fräulein Lücker gefallen. Sie war einfach anders, sie hatte ihn vom ersten Moment an für voll genommen und nicht versucht, sich bei ihm einzuschmeicheln.

Beim Vorbeigehen hatte er einen flüchtigen Blick in ihr Arbeitszimmer werfen können, als sie die Schulhefte ihrer Schüler auf ihren Arbeitstisch gelegt hatte. Dabei waren ihm sofort die vielen Bücher aufgefallen, die sich in den Regalen stapelten. Andy fand das ganz toll.

Fräulein Lücker nahm ihm nun den Anorak ab und hängte ihn an einem Bügel über die Badewanne.

"Mach es dir inzwischen gemütlich, wo du willst. Ich bin in der Küche.“

Andy ging ins Wohnzimmer und bewunderte die vielen Bilder an den Wänden. Er schätzte, daß Jolanda Lücker eine leidenschaftliche Fotografin sein mußte. Beinahe jedes Bild trug in der linken unteren Ecke die Initialen J.L..

Am besten gefielen ihm die Bildserien von den vier Jahreszeiten. Einmal war es ein Baum, dann ein Waldrand, eine Stadt und ein Thunerseeufer.

Eine andere Wand war geradezu übersät mit Aufnahmen von Kindern aller Altersstufen.

"Sind das Klassenfotos?" rief Andy in die Küche.

"Ja, einige", kam die Antwort zurück. "Sind aber auch noch andere darunter, Zufallstreffer. Sogar welche aus Zeitschriften."

Plötzlich verkrampfte sich Andys Herz. Da hing doch tatsächlich eine Aufnahme von ihm unter Glas an der Wand. Sein Film-T-Shirt flatterte im Wind und er saß zusammen mit John Collins auf der Hebebühne eines der Film-Lkws. Im Hintergrund eine Kamera und einige Leute von der Technik. Das Foto war kurz vor seiner Entführung gemacht worden. Oh, er konnte sich noch sehr deutlich daran erinnern, wie er in die Sonne blinzeln mußte.

"Woher haben Sie das Foto?" rief Andy ganz außer sich, hängte den Rahmen vom Nagel und humpelte in die Küche.

"Moment, ich mach's etwas leiser", rief Fräulein Lücker, ging zum Transistorradio auf dem Kühlschrank und drehte den Regler etwas zurück.

Inzwischen war Andy angehumpelt gekommen und hielt ihr das Bild hin.

"Nun, da hat mal was in einem Jugendmagazin über einen neuen Film gestanden. Ach, wie war das noch? Ah - ja, ich habe es in einem Papierkorb gefunden. Wird wohl eine Schülerin weggeworfen haben. Ich fand das Foto gut, warum?" Sie stockte, sah aufs Bild, dann zu Andy, wieder aufs Bild und wieder zu Andy und stammelte: "Was, du!? Ist so was möglich? Hab' ich dich gar nicht wiedererkannt." Fräulein Lücker vergaß für einen Moment in ihrem Topf zu rühren.

Andy bereute mit einmal, daß er sie darauf aufmerksam gemacht hatte und wurde verlegen.

"Das ist ja ein Ding. Du bist es tatsächlich!" Im nächsten Moment verstummte das Gedudel im Kofferradio, ein Signal ertönte: "Und hier folgt eine wichtige Durchsage der Polizei: Vermißt wird seit heute morgen acht Uhr der kleine Andy Carson. Der Junge ist elf Jahre alt, hat dunkelblondes Haar und braune Augen..."

In diesem Augenblick ließ Andy vor Schreck das Bild aus seiner Hand gleiten. Wilde Panik ergriff ihn, er kannte nur noch eins: Flucht!

Mit gewandter Schnelligkeit lief er auf den Krücken zur Wohnungstüre, riß sie auf und war verschwunden, noch ehe Fräulein Lücker begriffen hatte, was eigentlich geschehen war.

 

Es regnete noch immer. Andy kümmerte sich nicht darum. In panischer Angst lief er vorwärts, immer weiter, er mußte weg von hier, noch bevor sie ihn kriegen konnten. Er überquerte die Straße, ohne sich umzusehen. Da zerriß ein ohrenbetäubendes Kreischen die Luft. Die Bremsen eines Lasters schnaubten. Der Fahrer, gleichermaßen erschrocken wie Andy, hob drohend die Hand und betätigte sein Zweiklangpreßlufthorn. Lautes Dröhnen ertönte.

Für einen Augenblick konnte Andy sich nicht von der Stelle rühren. Seine Hände zitterten und waren eiskalt. Kreideweiß stand der Schreck ihm ins Gesicht geschrieben. Gebannt mußte er immerzu den blitzenden Mercedesstern auf dem unheimlich monströsen Kühlergrill anstarren, der dicht vor ihm wie eine Wand aus dem Boden wuchs.

Die Kabinentür flog auf und der Lastwagenfahrer kletterte aus dem Führerhaus. Jetzt endlich überwand Andy die Lähmung, raffte sich auf und jagte, die Krücken kaum noch gebrauchend, wie ein aufgescheuchtes Reh davon.

Sein Bein begann zu schmerzen. Andy war gezwungen zu verlangsamen und stützte sich wieder mehr auf seine Krücken. Ob ihn wohl jemand verfolgte? Der Lastwagenfahrer? Andy unterdrückte das Atmen und lauschte, das Blut pochte in seinen Ohren.

Zu gern hätte er sich schnell vergewissert, daß er allein war, aber er durfte nicht stehenbleiben. Zuviel Zeit würde er dabei verlieren, und gerade das konnte er sich in seiner Lage keinesfalls leisten.

Die Anstrengung machte ihm sehr zu schaffen. Jeder Atemzug stach wie ein scharfes Messer durch die Kehle in seine Lungen. Es war Zeit, sich nach einem Ort umzuschauen, an dem er eine Weile in Sicherheit verschnaufen und dabei einen klaren Kopf bekommen konnte.

Andy brauchte nicht lange zu suchen. Rechts von ihm kam ein weiterer, großer, gelbverputzter Bau zum Vorschein. Die Grundmauern waren aus den selben weißen Steinquadern gemauert wie die Stützbögen des Pausenplatzes am Schulhaus an der Kreuzung. Mit der Kraft der Verzweiflung stemmte er sich gegen die schwere Holztüre, sie bockte störrisch.

Mühsam, und wie Andy schien, äußerst schwerfällig, gab die Tür schließlich doch nach. Ein Zug warmer, irgendwie vertrauter Luft strömte ihm entgegen. Er roch den süßlich-herben Geruch der frisch gebohnerten Fußböden. Unverwechselbar, es war der gleiche Geruch wie in Sonnegg, das er hier roch.

Andy hastete durch die hohen Gange und probierte an jeder Tür, sie zu öffnen. Er hatte kein Glück, alle waren sie verschlossen.

Ermattet warf er sich schließlich auf einen der langen Bänke an der Wand und horchte. Keine Schritte harten durch die Gänge. Beruhigt lehnte er sich an die bis auf halbe Höhe mit Holz getäfelte Wand und stieß sich den Kopf an einem der schwarzen Kleiderhaken, die in mehreren Reihen untereinander ins Holz geschraubt waren. Nicht einmal eine Maus hörte er jetzt herumkrabbeln. Es herrschte unheimliche Stille. Er war allein. Wirklich allein.

Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf- "Die Mappe! Ferdy!"

In der Panik hatte er den Anorak bei Fräulein Lücker im Bad hängenlassen.

"Oh, nein!" Ohne die Mappe war jegliche Flucht sinnlos. Dieses Material durfte niemals in falsche Hände geraten, er tat es für Dad. Delta mußte zur Strecke gebracht werden, jetzt war er da, um abzurechnen. Er hatte es Frau Kasens geschworen - sie zählte auf ihn!

Andy warf den Kopf in die Hände und schluchzte: "Alles wie ich es auch mache, verpatze ich. Ich bin zu nichts gut. Dad würde sich meinetwegen schämen. Unzuverlässig, unbrauchbar und total beschissen. Jawohl, genau das bin ich! Alex hatte schon recht, ich bin ein Taugenichts... unbrauchbarer Schrott. Oh, ich hasse mich... Ich hasse mich!" schrie Andy mit sich heiser überschlagender Stimme laut heraus und schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel.

"He - was hast du?" fragte plötzlich eine zarte Stimme.

Überrascht blickte Andy auf. Ein Mädchen, ungefähr in seinem Alter, mit glattem, fast weißblondem Haar, stand neben ihm und hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. Es blickte ihn aus tiefblauen Augen an und wiederholte geduldig die Frage.

Andy wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und sah dann steif zu Boden. Eigentlich war ihm unendlich peinlich, vor einem Mädchen zu plärren. Doch was spielte das jetzt noch für eine Rolle?

"Hast du Streit mit deinen Eltern?"

"Nein", stammelte Andy und wühlte in den Hosentaschen nach einem Taschentuch.

"Bist du der Junge, den sie überall suchen?"

Jetzt schnellte Andy hoch, als hätten ihn hundert Spritzen auf einmal gestochen. Aber ein messerscharfer Stich zügelte ihn und er sank sogleich mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf die Bank.

"Keine Angst, ich verrate dich nicht. Warst du wirklich beim Film?"

"Woher weißt du das?"

"Die Anja, meine Freundin, und ich, wir haben alles über dich gesammelt. Mensch, wenn ich ihr das erzähle..."

"Was willst du ihr erzählen?"

"Schscht - eben habe ich was gehört... Hier kannst du unmöglich bleiben. Mein Vater macht jeden Moment seine Runde."

"Dein Vater?"

"Ja, er ist Hauswart hier. Komm mit. Ich habe ein Versteck. Dort bist du sicher."

Sie nahm Andys Hand und zog ihn mit sich fort.

Andy hatte jetzt schon einige Übung im Umgang mit den Krucken, und so konnte er verhindern, daß sie laut klapperten, während er dem Mädchen folgte.

"Wie heißt du eigentlich?" flüsterte Andy.

"Kerstin. Und du bist Andy, nicht? Ich muß unbedingt ein Autogramm von dir haben, Anja wird vor Neid erblassen."

"Ein Autogramm? Was ist das? Wohin gehen wir eigentlich?"

"Wart's ab", sagte Kerstin hastig und kicherte vergnügt.

Andy ließ sich von ihr durch die Gänge und über die Treppe hinunter in den Keller führen. Plötzlich blieb Kerstin vor einer Türe stehen, grub einen alten Schlüssel aus ihrer Rocktasche und schloß eine grau gestrichene Metalltüre auf

"Hier", sagte Kerstin, "das ist der Papierkeller. Ich zeig dir mein Versteck."

Es war ein großes Kellergewölbe, das nur schwach von zwei Deckenlampen beleuchtet wurde. Zeitungsbündel lagerten hier zu Blocks aufgestapelt. Die meisten Blocks waren so hoch, daß Kerstins blonder Schopf nur noch knapp dahinter zu sehen war. Zwischen den Blocks zogen sich Verbindungswege wie Straßenschluchten.

Andy folgte Kerstin durch den Irrgarten in die hinterste Ecke, dort hatte sich Kerstin so eine Art Hütte gebaut. Sie räumte rasch einige Zeitungsbünde weg, dann kam ein Eingang zum Vorschein.

Gebückt folgte Andy ihr durch einen schmalen halbrunden Eingang in einen annähernd runden Raum. Er war sehr geräumig und gegen oben hin offen. Andy erinnerte es irgendwie an ein unfertiges Iglu, der Eingang sah jedenfalls ganz so aus.

"Du bist der erste, der mein Versteck kennt. Gefällt's dir?" fragte Kerstin und schaute ihn prüfend an.

"Ja. Ganz toll", sagte Andy und bewunderte die liebevolle Einrichtung.

"Ich muß jetzt zurück. Mutter wartet nicht gern mit dem Mittagessen. Ich bringe dir was mit. Bitte bleib so lange hier."

Andy nickte, während er sich auf eine Bank aus Zeitungsbündeln setzte.

"Wenn es dir langweilig wird, ich habe eine Menge Zeitschriften", sagte Kerstin und wies mit dem Finger in eine kleine Nische.

Andy fand dort lauter Frauenzeitschriften, in denen jede Menge Ratschläge für den Haushalt, Kochrezepte und Strickmuster ausführlich beschrieben waren. Der Klatsch über die Königinnen interessierte Andy auch nicht besonders, so blätterte er mehr oder weniger gelangweilt in den verschiedenen Zeitschriften herum, bis er ganz zuunterst im Stapel eine angegraute Tageszeitung entdeckte. Er legte sie auf den Schoß und schlug die erste Seite auf.

"Top moderner US. Aufklärer abgeschmiert. Pilot Phil Carson rettete Bevölkerung vor Katastrophe und starb den Heldentod. Sabotage nicht ausgeschlossen."

Mit Tränen in den Augen starrte Andy auf das Foto, das Dad in voller Fliegermontur zeigte.

Unter dem Foto las Andy: "Der mutige Phil Carson bezahlte seine Heldentat mit dem Leben. Nachdem er seinen Freund aus der bereits brennenden Maschine geschleudert hatte, steuerte er die nahezu unkontrollierbar gewordene Rockwell RA-5 C Vigilante aufs Meer hinaus."

Andy fraß sich durch den Artikel. Neues war darin nicht zu finden.

Niemand wußte damals, was zu dem rätselhaften Absturz geführt hatte. Lediglich Vermutungen wurden laut. Es hieß, man würde den Fall untersuchen.

Und heute? Heute wußte Andy, daß es Sabotage war, er hatte sogar die Beweise dafür!

Andy griff sich in die Haare: "Herrgott noch mal, warum habe ich die Jacke auch ausgezogen. Ich muß die Mappe zurückholen, ich muß, egal wie!"

Die Zeitung steckte er sich in die Hose und kroch durch den Eingang. Wenn er jetzt ging, war Kerstin bestimmt traurig.

Dad ging vor, entschied Andy hart und drückte die Klinke. Die Tür klickte trocken, ließ sich jedoch nicht öffnen. Er rüttelte mit aller Kraft daran, es half nichts. Kerstin hatte ihn eingeschlossen.

 

Die Zeit dehnte sich unmenschlich. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... das waren Sekunden, Andy kamen sie vor wie Minuten und Minuten wuchsen zu Stunden. Wieviel Uhr konnte es sein? Brauchte man wirklich so lange zum Mittagessen?

Ein Mädchen mußte bestimmt abtrocknen, vermutete er. Das zog die Sache natürlich zusätzlich in die Länge. Vielleicht war Kerstin auch auf einen Sprung zu ihrer Freundin gegangen, sie wollte ihr doch von ihm erzählen...

Es klickte im Schloß, die Tür sprang auf. Kerstin war allein und trug einen Teller in der Hand.

"Warum hast du mich eingeschlossen!"

"Weil... Ich hatte solche Angst, du würdest nicht mehr da sein."

"Wie spät ist es?"

"Halb zwei. Möchtest du nicht etwas essen? Ich mußte warten, bis alle weg waren, ich wollte dir doch was mitbringen.“

Andy roch würzige Tomatensauce und sah auf den Teller Nudeln. "Komm, wir gehen ins Versteck. Da kannst du in Ruhe essen und mir alles erzählen", sagte Kerstin und steuerte der Ecke zu.

Die Nudeln schmeckten wie in einem teuren Restaurant. Andy schlang sie hinunter wie ein hungriger Löwe. Als er den Teller leer gegessen hatte, erzählte er Kerstin alles von Anfang an. Sie saß ihm gegenüber auf einem roten Teppichrest und hörte verträumt zu. Nicht einmal hatte sie ihn unterbrochen. Zum Schluß zeigte Andy ihr noch die Zeitung mit dem Foto von Dad und sagte: "Ich muß diese Mappe wiederkriegen. Kennst du Fräulein Lücker?"

Kerstin seufzte gedehnt und sagte: "Ja. Sie ist die einzige Lehrerin, zu der man wirklich gern in die Schule geht. Sie ist nicht wie die anderen. Sie wird dich niemals verraten, das schwöre ich dir."

"Du meinst, wir könnten einfach zu ihr hingehen und die Mappe holen?"

"Warum nicht?"

Andy schnellte hoch: "Na, dann laß uns gehen!"

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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