Heinrich Baumgarten

Kaliper-Episode

Ich sehe den kleinen vierjährigen Heinrich, wieder einmal allein zu Hause.

Es muß spät abends oder nachts gewesen sein, da er uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und Hoheit über die gesamte Wohnung genoß und auskostete.

An diesem Tage hatte er vor, Mutters kleine Wunderkristalle näher zu untersuchen. Sie wurden in der Küche aufbewahrt in einem kleinen, runden Döschen, das - soweit er sich nun erinnert - mit glänzend-buntem Papier beklebt war. Etwa streichholzschachtelgroß, aber eben rund.

Die besagten darin befindlichen Kristalle waren violett, und sie strömten einen starken Geruch aus, den er nirgendwo anders erlebt hatte.

Wenn Mutter Fleisch aufbewahren wollte, tat sie es in eine Emaille-Schüssel, bedeckte es mit Wasser und fügte dann, vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, die kaum in das Döschen passen wollten (denn Mutter hatte recht große Hände) eine winzige entnommene Menge der Wunderkristalle dazu.

Augenblicklich färbte sich das Wasser tief violett, so daß vom Fleisch in der Schüssel kaum noch etwas zu sehen war. Es gab wohl noch keinen Kühlschrank in ihrem Haushalt, oder es war halt eine von Mutters Hygiene-Marotten, die sie den chemischen Weg wählen ließ.

Heinrich war vorsichtig, denn er argwöhnte, daß sein Untersuchungsobjekt in mancherlei Hinsicht mächtig war. Die Färbekraft, der starke Geruch, das kantige Gefühl zwischen den Fingern. Jetzt fehlte nur noch das Geschmackserlebnis zur vollendeten Sinnenfreude.

Also ins Bad mit der Probe - wie damals mit der Leimflasche, die auf den Fliesen umkippen durfte und ohne Nachwirkungen, weil spurlos gereinigt werden konnte, für den Jungforscher blieb.

Vor das Waschbecken gestellt, Fingerspitze mit Wunderkristall vorsichtig auf die Zungenspitze gegeben - dann Brechreiz der ersten Sorte.

Heute weiß Heinrich, bei der Substanz handelte es sich um Kaliumpermanganat, KMnO4. Zwei Metalle und vier Sauerstoff-Ionen in der Verbindung. Daher der metallische Geruch und der widerliche Geschmack. Und die desinfizierende Wirkung des Sauerstoffs.

Mund gründlich gespült, Waschbecken entfärbt, Hände geschrubbt - gerettet...

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinrich Baumgarten).
Der Beitrag wurde von Heinrich Baumgarten auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Heinrich Baumgarten als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Moto - Feuer der Liebe von Elke Anita Dewitt



Dieser Liebesroman vermittelt Einblick in Brauchtum des kriegerischen Volksstammes der Massai ...

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wahre Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Heinrich Baumgarten

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Arbeitsloses Geld von Heinrich Baumgarten (Essays)
Leben im Korridor von Norbert Wittke (Wahre Geschichten)
Vom Engel, der Anders war von Anschi Wiegand (Gute Nacht Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen