Heinrich Baumgarten

Beim Betrachten meiner Schreibhand

Als Schattenriß habe ich Dich soeben abgebildet. Wir kennen uns schon so lange, daß ich Dich einfach weiter duze.
Ganz zu Anfang, als Du  von der Spiel-, Bastel-, Sammel- und sonst wie –hand zur schreibenden mutieren solltest/mußtest, warst Du gelegentlich verkrampft, da Dir die Führung des Griffels auf der Schiefertafel ungewohnt schwierig und anstrengend erschien. Später warst Du oft blau getintet, da die Nachkriegsmaterialien (Zeitungsränder, unbedruckt, und spiralig gedrehte Glasfeder) immer wieder zu Mißgeschicken führten. Die Tinte, die Dich damals erstmals verunzierte, war quasi selbstgemachte. Aus Tabletten, die in Wasser aufgelöst wurden, entstand eine Art mittelblau-schwarze Schreibjauche, deren Dauerhaftigkeit sich auf Dir stärker zeigte als auf dem Schreibuntergrund, der eher gefleckt/befleckt als mit Buchstaben und Wörtern bedeckt wirkte. Von Worten wußten wir damals noch nicht allzu viel.
Die Zeiten änderten sich, ein erster Füllfederhalter wurde Dir anvertraut, nicht ohne daß mir und Dir sorgsamster Umgang damit ans Herz/ in die Finger gelegt wurde.
Du warst gut – technisch – und beschertest gute Zeugniszensuren im „Schreiben“. Auch mit dem Rechtschreiben kamst Du gut zurecht, was mich zunächst wunderte. Warst Du das wirklich? Eher wir beide zusammen, denke ich heute. Muß so gewesen sein – würde sonst keinen rechten Sinn ergeben.
Jahre ging es mit uns beiden so weiter. Versuche, den Füller durch anderes Gerät abzulösen, zeigten unterschiedlichen Erfolg beziehungsweise brachten uns in Schwierigkeiten. Eine etwa mit Bleistift – selbst in Deiner gewohnt guten Qualität – gefertigte Hausaufgabe erregte schon mal Mißfallen eines standesbewußten Gymnasialsacks und zwang uns, die gemeinsam erbrachte Leistung zum zweiten Mal zu liefern. Aber wir haben’s überstanden und eroberten auch den Kugelschreiber als Gerät.
Nicht nur Auftragsarbeiten leistetest Du für mich, sondern hattest auch reichlich Gelegenheit zur Kür beim Brief- und Zettelchen-Schreiben. Und irgendwann kam es dazu, daß Du einerseits Hilfe bekamst, andererseits dem innigen Kontakt mit Papier und Stift entfremdet wurdest. Als ich begann, mich mit der Schreibmaschine zu befassen, kam Dir die linke Schwester, ansonsten des Schreibens absolut unkundig und ungeübt, zu Hilfe. Zunächst nur als Transportarbeiterin beim Zeilenwechsel, später als Referentin für linksseitige Buchstabentasten. Wie Du weißt, war uns das Zehn-Finger-System quasi versagt, da wir ja Klavier spielten. Und Akkorde auf der Tastatur…Na ja. Mit dem Adler- oder Vier-Finger-Suchsystem kommen wir immer noch gut zurecht, und wenn der Strom ausfällt, darfst Du bei Kerzenlicht wieder „stiften“. Beim Umgang mit dem Computer-Keyboard bist Du – trotz der nach wie vor gültigen Arbeitsteilung mit Deiner linken, linkischen Schwester – doch die wichtigere geblieben; denn die „Enter“-Taste ist ganz die Deine. Du bestimmst den Zeilenwechsel, bestätigst, betätigst die Maus, klickst mit der linken oder rechten Maustaste, bisweilen gar doppelt. Dir obliegt das Entfernen, Einfügen, Verschieben von Text. Du bist halt nach wie vor meine Schreibhand und wirst es auch bleiben, da kannst Du ganz sicher sein. Was Du tust, nimmt niemals überhand, aber Du behältst die Oberhand, und das ist allerhand. Jetzt, da ich dies für Dich ausdenke und Du es Dir für Dich aufschreibst, wird mir zum ersten Mal so recht deutlich, was wir seit über einem halben Jahrhundert miteinander getrieben haben. Denkst Du nicht auch manchmal, daß Du nicht nur schreibst, sondern ein eigenes Leben entwickelt hast aus unserem Erleben? Bedürfnisse hast und artikulierst? Mich manchmal in einen Kaufrausch lockst, wenn uns Gelschreiber, Silber- und Goldstifte den Mund wäßrig, die Finger feucht werden lassen? Wenn ich  den Rechner gar nicht einschalten mag, sondern einfach mal ein Post-It mit einer kleinen Notiz versehen will, Du Dir einen Textmarker nimmst und mir etwas zeigst, was ich sonst überlesen oder falsch verstanden hätte? Du bist mir so vertraut und auch neu – jetzt eben sogar ein wenig unheimlich…

Das haben wir gestern zu Papier gebracht und eben auf den Rechner übertragen. Dir wird aufgefallen sein, daß wir einige Änderungen und Ergänzungen geplant, erlaubt und vollzogen haben. Traurig? Empört? Ich habe nichts gespürt, und Du offenbar auch nicht; denn Du hast Deine Arbeit in gewohnter Weise an anderem Werkzeug verrichtet – willig, zuverlässig, unverzüglich. Wenn zwei das Gleiche tun, so ist es nicht Dasselbe. Das gilt auch für Wiederholungen. Die Anforderung an wissenschaftliche Experimente sind Wiederholbarkeit und Vorhandensein gleicher Voraussetzungen und Bedingungen. Schwer, schier unmöglich erscheint mir das. Aber wir haben hier kein Experiment durchgeführt, sondern uns in neuer Kooperation geübt.
Wie geht es nun weiter mit uns beiden? Wird Dir und mir die Zweigleisigkeit der Tätigkeiten „von der Hand“ gehen, werden wir handlungsfähig bleiben? Werden wir gelegentlich Verhandlungen oder Händel miteinander führen? Wie werden wir es künftig „handlen“, wenn wir handeln wollen? Mit dem Stift handgreiflich-konkret arbeiten oder es tasten-prothetisch dem Rechner überlassen, die Zeichen zu codieren und zu transkribieren? Es ist doch ein Paradoxon, einen computererstellten Text als Manuskript zu bezeichnen. Manu scriptum – das mit der Hand Geschriebene - hat sich von seiner Herkunft entfernt und seine Grundbedeutung verloren. Preisgegeben, unbilligerweise.  Wir wissen Bescheid, da wir miteinander noch regen Umgang pflegen, ungeachtet der Mechanisierung, Digitalisierung und sonstigen Entfremdung, die uns  zur neuen Natur gemacht worden ist oder noch bevorsteht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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