Heinrich Baumgarten

Die erste Fähre nach drüben

Es ist 07.00 Uhr morgens am 24.12.1989. Heiligabend. Ich bin vorbereitet, um 08.30 mit der Fähre "nach drüben" zu fahren. Drüben, das ist, solange ich hier wohne, das jenseitige Elbufer mit seinem Grenzzaun, seiner Menschenleere, mit DDR-Patrouillenbooten, von deren Besatzung man nur die Feldstecher vor den Gesichtern zu sehen bekam.
Wir können nun nach drüben, nachdem die von drüben seit dem 09.11. zu uns herüber durften. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht fassen, benennen kann. Freude mischt sich darin, aber auch Verwirrung, ein wenig Furcht, Ungläubigkeit. Werde ich bald erwachen und feststellen müssen, daß ich nur geträumt habe? Daß alles nicht gilt? Daß sich ein Wunsch verselbständigt hat?
Aber weshalb pessimistisch sein? Ich will daran glauben, mich nicht unterkriegen lassen...
Ich möchte froh sein, mich dem Gefühl hingeben, daß auch einmal etwas geschehen ist, was sich jeglicher Erwartung und Wahrscheinlichkeit zum Trotz eingestellt hat. Laßt es wahr sein, laßt es gut sein, gut bleiben, gut werden.
Natürlich war ich viel zu früh an der Fähre, wunderte mich unterwegs noch, daß Klaus Lübke seinen Laden offen hatte. Ach ja, es ist Sonntag, und BamS und WamS wollen an den Mann (die Frau) gebracht werden. Übrigens vermißt man seit dem 9.11. die sogenannten Anführungsstriche bei der Erwähnung des anderen Staates deutscher Nation. Merkwürdig; aber irgendeine Konzern-Strategie wird schon dahinterstecken. Man denke an den potentiellen Markt bei den Sogenannten... Wie mag sich eine gesamtdeutsche BILD-Zeitung wohl lesen?
So wie heute morgen etwa :"Frohe Weihnacht, Deutschland!" ?
Wie dem auch sei, ich schlenderte durch den Nieselregen, der eingesetzt hatte, der Anlegestelle zu. Einige Figuren standen schon auf dem Beton der Slip-Anlage und unterhielten sich. Auf der Fähre brannte Licht, und jemand erledigte letzte Arbeiten an Bord, bis die erste Fuhre des Tages bewältigt werden sollte.
Nach und nach erschienen bekannte und unbekannte Gesichter. Viele der Ankömmlinge trugen Plastiktaschen, an deren Ausbeulung zu erkennen war, daß sie Flaschen enthielten; hier und da lugten mit Weihnachtspapier umhüllte Pakete heraus. Auch ich hatte Naschwerk dabei, das ich mir schon anläßlich des ersten Besucherstroms von DDR-Bürgern  nach Bergen an der Dumme mitgenommen hatte. Damals erschien es mir dann jedoch plötzlich ein wenig albern, mich am Straßenrand zu postieren und etwas in vorbeirollende Trabis hineinzureichen. Aber an diesem Morgen war es wohl angebracht, ein paar Kleinigkeiten als Gastgeschenke zur Verfügung zu haben, da ich selbst hinüberfuhr. Zum erstenmal über die Elbe nach drüben, zum erstenmal von drüben auf Hitzacker schauen können. Vor kurzem noch ein exotischer Gedanke. Vielleicht, hoffentlich, werden wir uns künftig häufiger exotische Gedanken machen dürfen.

Wir legen ab, verdammt noch mal. Darf das wahr sein? Es geht los, egal , ob die Angst bleibt, auf der Mitte der Elbe durch ein Patrouillenboot der DDR gestoppt oder gar beschossen zu werden. Gewohnheit, du verdammtes Stück Dummheit!
Jeder versucht, einen Platz zu finden, von dem aus ein Blick nach vorne möglich ist. Kopflastig wird die Fähre; aber Mike schafft es souverän, Kurs auf die Anlegestelle zu halten. Was ich vorher davon sehe, ist der Buhnenkopf, den ich seit 30 Jahren angestiert habe als den jenseitigen Teil der Unterbrechung, die so leicht hätte überwunden werden können, wenn es nach mir gegangen wäre.
Auf dem Buhnenkopf wimmelt es von Menschen wie Fruchtfliegen, die sich auf einer Bananenschale niedergelassen haben. Unwillkürlich denke ich auch an die Traubenform eines Bienenschwarmes, der am Ast eines Baumes hängt. Dies Bild wird akustisch untermauert durch das Gebrumm des Schiffsdiesels und die Vibrationen, die er in den Leibern der Passagiere erzeugt. Im Näherkommen, fasziniert von dem, was mich gleich erwarten wird, vergesse ich nicht, einen Blick zurückzuwerfen auf Hitzacker. Der Weinberg sieht wirklich hübsch aus, und die Aussichtsterrasse des Kurhauses, wo eine große Grenzübersichtstafel die Touristen seit Jahren über Verlauf und Anlage der innerdeutschen Grenze informiert, erinnert an das Halbrund eines Freilichttheaters. Aber ich nehme aus dieser ungewohnten Perspektive auch zum ersten Mal wahr, was die Windhose mit den Bäumen des Weinbergs gemacht hat. Ein Toupet müßte her.
Mein Blick pendelt zwischen dem Hitzackerschen Ufer und "drüben" hin und her - gleichermaßen Ungewohntes präsentiert sich den Augen, fasziniert, irritiert.
Das jenseitige Ufer kenne ich bisher nur als Heimat von Augen-Wesen, bewaffnet mit Feldstechern, Teleobjektiven. Nun soll ich es mit meinen übrigen Sinnen erforschen dürfen?!
Ja, die Augen werden ihre Bedürfnisse, die ständig gestiegen sind mit dem Fortschritt der Phototechnik, sicherlich befriedigen können. Aber wie wird die Luft dort drüben sein, will meine Nase wissen: wie hört sich das Drüben an, fragen meine Ohren; wie geht es sich dort, möchten meine Beine wissen. Auch die Füße melden sich, wie sie sich radfahrenderweise auf den Pedalen fühlen mögen, wenn es dort über Straßen/Wege/Pfade/Radfahrwege(?) geht. Und die Zunge meldet sich. Sie kann, gemessen an den anderen Sinnes-Terminals, relativ gelassen bleiben, da die Hälfte ihres Aufgabenbereichs als kompatibel vorausgesetzt werden kann: Auch dort darf sie Deutsch sprechen, ohne ihren Wirt in Verlegenheit zu bringen. Aber sie hat ja die anderen 50% ihrer Funktion dort noch zu erfahren, muß sich informieren darüber, wie es dort schmeckt. Ich habe zwar zum Frühstück etwas gegessen, aber immerhin. Ich lasse sie, wenn sie meint, es nötig zu haben. Warte nur, wart es ab, sei nicht so gierig. Sie behauptet, nicht von Gier geleitet zu sein, sondern lediglich gespannt.
Und drüben wird der Buhnenkopf, Anlegestelle der Fähre, immer größer, über und über mit Menschen bedeckt, Menschen, die schauen, winken, warten, erwarten. Uns erwarten. Wir sind nahe genug zu sehen, daß die Pflasterung der Anlegestelle den gleichen Zustand aufweist wie auf unserer Seite, nachdem sie jahrzehntelang nicht genutzt werden konnte.
Das Bild der Menschentraube hat sich geändert: Der Buhnenkopf ist gesäumt von Figuren, in der Mitte ist ein breiter Gang frei. Daher auch die Möglichkeit, mir Gedanken über die Beschaffenheit des Pflasters zu machen.

Die Elemente der Menschentraube bekommen Konturen, Geschlecht, Gesichter. Viele halten Flaschen und Gläser in den Händen. Die Fähre hat angelegt, die stählerne Klapp-Gangway wird hinuntergelassen und schleift kreischend auf den Steinen, als die Passagiere dem Bug zuströmen und das ganze Gewicht des Fahrzeugs ihr auflastet.
Die ersten  verlassen die Fähre, aber es gibt kein Strömen von Bord. Warum, erfahre ich, als ich selber den Fuß an Land setze. Hände strecken sich uns entgegen zum Gruß, anschließend gleich eine Flasche oder ein Glas anbietend. "Rotkäppchen"-Sekt, zum erstenmal live, Weinbrand, Klarer. Ich kann später nicht sagen, wieviele Hände ich geschüttelt, wie oft ich ein dargebotenes Glas welchen Inhalts auch immer geleert, wie oft ich dankend abgelehnt habe. Zunge, wie ist dir? Oft hast du "Guten Tag" sagen können oder "Danke" auf ein herzliches Willkommen. Und du hast schmecken können, daß die anderen Deutschen gut Trinkbares zu bieten haben.
Hinter den letzten Passagieren, die von Bord gekommen sind, vereinigen sich die beiden Menschensäume von den Rändern des Buhnenkopfes und pumpen uns alle freundlich der Deichkrone zu.  Dort angekommen, spüre ich angenehme Wärme und Leichtigkeit im Kopf, wie sie nur Alkohol erzeugen kann.
Den Deich kannte ich seit Jahrzehnten nur vom Sehen; aber nun, beim Überschreiten, sehe ich zum ersten Mal die Weite der Marschwiesen, die mir auf unserer Seite vertraut ist. Nichts Neues also, wie ich mir auch gedacht habe. Zum erstenmal sehe ich auch den unteren Teil der Gebäude direkt hinter dem Deich, deren Dächer sonst nur zu sehen waren von unserer Seite. Und am jenseitigen Fuß des Deiches steht neben seinem VW-Camping-Bus mein Freund Klaus Lehmann. Er hat es wahrhaftig geschafft, schon am Abend vor der offiziellen Öffnung für uns Wessies nach drüben zu kommen. Toll. Ich freue mich für und über ihn...

Nicht unerwartet und daher auch nicht neu ist der Anblick der mecklenburgischen Landschaft. Aber neu ist für mich etwas, was ich weder verhindern kann, noch will: daß mir Tränen in die Augen schießen. Halbblind erklimme ich einen der wartenden Busse und wundere mich beim Einsteigen, wie wohl ältere Menschen die hohe Erststufe nehmen können.
Bitter heißt das jenseitige Ufer, wie uns jahrzehntelang der Informations-Pavillon der Zoll- Behörde gelehrt hat. Der nächste Ort, etwa vier Kilometer vom Ufer entfernt, ist Kaarßen. Dorthin werden uns die Busse fahren.
Dorf-Gasthof, wie man ihn kennt, wenn man auf dem Dorf wohnt. Kapelle, zischendes Freibier und auch Kaffee und Kuchen. Eh kein Kuchen-Fan, lasse ich mich mit Bier verwöhnen. Ich kann was ab, wie wir Norddeutschen sagen. Ist das eigentlich etwas Gutes oder etwas Schlechtes?

Wir verschwesterten und verbrüderten uns, wie man das auch wohl bei einer Karnevalsveranstaltung tut. Die meisten der Erstpassanten von West nach Ost sind in der Folgezeit nicht mehr hinübergefahren. Es war halt schön und galt als schick, dabeigewesen zu sein, und damit hatte sich der Abstecher vom Lebensplan schon ausgezahlt.
Himmel, Arsch und Zwirn, dachte ich mir. Soll das für die Leute alles gewesen sein?
Erst viel später durfte ich lernen, daß das in keiner Weise mein Bier sein sollte.
Aber damals machte es mir schon eine Menge Gedanken. Fast täglich ließ ich mich übersetzen und radelte auf den mit Profil-Löchern versehenen Betonplatten den Deich entlang. Nach vollbrachter Tagesleistung kam ich mir vor wie ein Gorilla. Hände greifen Lenker. Lenker fühlen Unebenheiten. Unebenheiten machen Radfahrer müde.
Schönes Rondell. Es gibt schlimmere Kreisel, manchmal gar Teufelskreise genannt.
Nichts derart. Ich war froh und glücklich, wenn ich von Kaarßen bis Dömitz geradelt war und dann irgendwann wieder zuhause ankam. Diese Art der physischen Erschöpfung vermisse ich heute.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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