Steffen Herrmann

Leben in Gambia, 1.Teil

Von den Ausländern wird ja viel geredet und geschrieben, meist in Form von Problematisierungen. Es gibt die Ausländerkriminalität, die Integrationsprobleme der Ausländer, die Ausländerclans, die ausländischen Drogenhändler und auf der anderen Seite die Ausländerfeindlichkeit und die Diskriminierungen. Aber es ist wenig davon die Rede, wie es ist, ein Ausländer zu sein. Sicher, es gibt auch Talkshows in diese Richtung und Gespräche mit ausländischen Bekannten, wie hören «Griechischer Wein» (zumindest die Älteren unter uns), aber das geht etwas am Kern der Sache vorbei: Ausländer zu sein ist im Grunde kein Problem, nicht einmal ein Thema, es ist ein Existenzmodus.

 

Ich habe erst jetzt diese Erfahrung gemacht, erst jetzt hat sich mir mehr oder weniger erschlossen, wie es ist, ein Ausländer zu sein.  Ich bin jetzt schon über fünfzig, also ist das nicht gerade eine frühe Erkenntnis. Es ist nicht so, dass ich nicht herumgekommen wäre. In meinen jungen Jahren habe ich längere Reisen (vier bis acht Wochen) nach Burkina Faso gemacht, ich habe für drei Jahre in Belgien gelebt und wohne seit zwanzig Jahren in der Schweiz. Bei meinen Reisen fühlte ich mich als Tourist oder allgemein als Reisender, in Belgien als multikultureller Europäer und in der Schweiz als in einem Land, dass so ähnlich wie Deutschland ist (wobei die Unterschiede schon interessant und aufschlussreich sind).

 

Aber nun bin ich seit drei Monaten in Gambia und es irgendwie anders. Ich bin hier mit meiner Frau (die aus Gambia ist) und unserem jüngsten Sohn, gerade drei Jahre alt geworden (ein Nachzügler). Die Anreise war aufregend. Portugal war zu dieser Zeit coronamässig in einer beeindruckenden exponentiellen Phase, ich hatte Befürchtungen, dass Flüge wegen erkrankter Piloten ausfallen würden. Ich hatte auch Befürchtungen, dass einer von uns sich den Virus zu dieser Zeit einfangen könnte, eventuell, ohne dass wir es bemerkten. Es ging soweit alles gut. In Lissabon hatte das Flugzeug Verspätung und wir hatten nur eine knappe Stunde zum Umsteigen. Dann mussten wir noch durch eine erneute Passkontrolle, wo eine lange Schlange anstand und alles sehr langsam vonstatten ging. Als wir endlich durch waren, hetzten wir durch die Gänge des Flughafens in Richtung Gate. Wir kriegten das Flugzeug, das mit einer soliden Verspätung startete.

 

Unser Leben hier in Gambia ist komfortabel. Wir wohnen in einer ruhigen Gegend, die fast dörflich ist. Die Hühner, die Ziegen und die Kühe, auch andere Tiere wie Hunde und Katzen spazieren durch die Strassen und suchen nach etwas zum Essen. Es gibt wenig Verkehr. Unser Grundstück ist tausend Quadratmeter gross, wir bewohnen den ersten Stock des Hauses, haben wohl an die zweihundert Quadratmeter. Oben auf der Veranda gibt es für mich ein grosszügiges Büro und ich throne da wie ein Direktor. In der Schweiz sitze ich beim Homeoffice meistens in der Küche, mit Kochgeräuschen und unser kleines Kind ist auch dabei.

Hier in Afrika haben wir Personal. Eine junge Frau arbeitet als Haushaltshilfe: Sie kocht, reinigt die Zimmer, wäscht die Wäsche und betreut auch bei Bedarf unser Kind. Ausserdem ist ein Mann dabei der unser Chauffeur ist und auch sonst etliches macht. Ob man dieses feudale Leben nun gutheisst oder nicht, jedenfalls ist unser Dasein hier komfortabler als in Europa.

 

Am nächsten Morgen gingen wir zum Kindergarten, um Jan (so heisst unser Kind) anzumelden. Günstigerweise befindet sich dieser Kindergarten direkt hinter unserem Haus, sodass wir kaum hundert Meter Weg dahin haben. Der Direktor dieser ‘African Children School’ bat uns in ein kleines Dienstzimmer und nahm die Daten auf. Es ging darum, für welchen Zeitraum er bleiben, ob er dort Mittag essen würde, was an Ausrüstung nötig war.  Wir sollten die Rechnung dann in einer Bank auf ein bestimmtes Konto einzahlen und mit der Quittung wiederkommen. Damit würde Jan dann angenommen sein. Die Rechnung setzte sich zusammen aus einer Anmeldegebühr, den Kleidungskosten, dem Beitrag für das Essen und dem Kindergarten selbst, insgesamt waren es knapp dreihundert Euro für die drei Monate. Das ist zwar nur ein zwanzigstel wie das, was wir in der Schweiz bezahlen würden, für die hiesigen Verhältnisse ist es aber schon recht teuer. Jede Einrichtung macht ihre eigenen Preise und die ‘African Children School’ gehört zum oberen Spektrum.

 

Was mir dabei auffiel, war die Normalität des Vorganges. Niemand war überrascht oder fand das irgendwie bemerkenswert, dass ein Kind aus Europa nun hier für mehrere Monate betreut werden würde (Es war in der Tat auch nichts Besonderes: Eine ganze Reihe von Kindern mit europäischen Eltern tummelten sich hier).

Nun gut, dachte ich, ich bin jetzt nicht im Touristenmodus hier. Ich lebe nun eine Zeitlang hier und mache die normalen Dinge des Lebens.

Ausländer sein, bedeutet also, dass du dort, wo du Ausländer bist, wohnst und als normaler Bestandteil des Lebens angesehen wirst und das tust, was auch andere hier tun.

 

Im Kindergarten läuft es nicht ganz so ab wie in den europäischen Einrichtungen. So gibt es Uniformen. Alle Jungen haben die gleiche Kleidung und die Mädchen ebenso. Der Freitag als Feiertag wird dadurch gewürdigt, dass es da eine andere Uniform getragen wird. Die Einheitlichkeit der Kleidung verleiht dem Ganzen eine institutionelle Note. Jede Einrichtung kreiert ihr eigenes Kleiderset und macht genaue Vorgaben. So mussten wir noch schwarze, geschlossene Schuhe und weisse Socken kaufen, das gehörte zur Kleidervorschrift. Die Uniformen dienen auch der Distinktion: nicht zwischen den Kindern, sondern zwischen den Schulen. Es gibt eine gewisse Neigung, die Kinder elegant und etwas umständlich zu kleiden (bei uns gehörte ein brauner Strickpullover dazu), was den Effekt hat, dass dann Dreijährige wie kleine erwachsene herumlaufen.

 

Am ersten Tag fragte mich die Kindergärtnerin, ob Jan schon zeichnen könne. Nein, erwiderte ich, er ist gerade drei geworden. Er wird hier einiges lernen, meinte sie. Als ich ihn Mittag abholte, war die Tür verschlossen. Ich klopfte, kurz darauf wurde geöffnet und Jan herausgeschickt. Am zweiten Tag war es ähnlich, am dritten Tag stand der Direktor auf der Veranda und rief zu mir herunter, dass ich an sich erst hier reindürfte, wenn die Tür geöffnet sei. Erst nach dem Pausen­klingeln würden die Eltern ihre Kinder abholen. Ich hatte das gar nicht gewusst, hielt mich dann in Zukunft aber an diese Regel, was mir als gelerntem Schweizer auch leicht fiel.

Aha, dachte ich: Ausländer sein, bedeutet, dass man aus Unwissenheit gegen Regeln verstösst, weil man die Gepflogenheiten nicht kennt.

 

Im Kindergarten, fand ich, übertrieben sie es. Jan hatte ein Malheft erhalten, das er mit nach Hause bekam und wo er Hausaufgaben zu erledigen hatte – die Kindergärtnerin erklärte mir jeden Tag, was er machen sollte. Jan ignorierte das schlicht und ich auch. Meine Frau legte dann den Stift in seine Hand und zog die Linien, die aufgegeben waren. Das ist ja nun auch nicht der Sinn, meinte ich.

 

OK, dachte ich und besann mich auf Hegel, das ist nun das Beispiel einer Negation. Die erste Stufe, also gewissermassen die afrikanische Grundvariante besteht darin, die Kinder mehr oder weniger sich selbst zu überlassen (schon Einjährige stromern hier unbegleitet – mitunter auch nahezu unbekleidet – durch die Wohngegend). Die Negation davon besteht dann darin, sie vollkommen in die Pflicht zu nehmen und eine Art Dauerbeschulung zu schaffen. In Europa sind wir nun einige Negationen der Negationen weiter, deshalb ist bei uns der Kindergarten kindgerechter.

Ausländer sein bedeutet also auch, kritisch auf das Land zu sehen, in dem man sich befindet.

 

Die Kindergärtnerin war eine toughe Frau, vielleicht dreissig Jahre oder etwas älter und attraktiv. Sie war allein verantworttlich für ein Dutzend Kinder zwischen drei und fünf, vielleicht sechs Jahren und sie hatte sie im Griff. Sie hatte eine freundliche Strenge und machte verschiedene Sachen mit ihnen. Einmal, als ich hereinkam, bauten alle etwas mit Legosteinen (natürlich nach Vorgaben), ein anderes Mal hatte sie eine Zeichnung des menschlichen Körpers an der Tafel und erklärte, wie die Körperteile hiessen.

Sie ging gegen drei oder vier nach Hause, ihr Weg führte an unserem Haus vorbei. Manchmal, wenn Jan draussen spielte, sah er sie. Er rannte jedes Mal zu ihr hin und begrüsste sie freundlich. Ich fand es bemerkenswert, was diese Frau leistete, im heimischen Kindergarten haben die Frauen einen entspannteren Job.

Ausländer sein, bedeutet auch, die Leistungen der hier Arbeitenden zu würdigen.

 

In den letzten Wochen begann Jan, Englisch zu sprechen, nicht viel (aber ich rede ohnehin nur Deutsch mit ihm). So belehrte er mich einmal, dass es ‘shoes’ hiesse und nicht ‘Schuhe’, von Zeit zu Zeit floss ein ‘this one’ in seine Worte ein. Die Kindergärtnerin hatte mir vorher gesagt, dass er vermutlich im letzten Monat beginnen würde, zu sprechen. Aber er verstand schon vorher und kommunizierte mit den anderen Kindern auch ohne Worte.  

Gegen Ende unseres Aufenthaltes äusserte Jan häufig den Wunsch, malen zu wollen. Er konnte jetzt den Buntstift richtig halten und er malte Formen aus, er zog Striche. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber er hatte etwas gelernt.

Na gut, dachte ich, so blöde, wie ich anfangs dachte, ist das System hier vielleicht doch nicht. Ausländer sein bedeutet also, seine Meinung ändern zu können.

Ich hatte hier schon viele Meinungen kassiert. Letztes Jahr zum Beispiel glaubte ich zu der Erkenntnis gekommen zu sein, dass es hier in Gambia vor allem an Professionalität mangele. Die Leute, so sagte ich mir, suchen nach Lösungen für ihre Probleme, aber es muss nicht die beste sein. Irgendeine Lösung reicht. Der Anlass für diesen Gedanken entstand an einem Abend, als ich eine Weinflasche öffnen wollte. Meine Frau war in Dakar, um etwas zu regeln und ich fand keinen Korkenzieher. Ich fragte den bei uns mit wohnenden Mann, ob er etwas habe, um die Flasche zu öffnen. Natürlich, meinte der, ohne zu zögern. Er krallte sich die Flasche, ging kurz raus, kam wieder mit einem Schraubenzieher und einem Hammer, womit er entschlossen den Korken bearbeitete, der auch rasch zerbröselte. Voila, Problem gelöst.

Dieses Jahr habe ich irgendwie eine andere Meinung. Sie bauen hier ordentliche Häuser, nähen schöne Kleider und das Essen schmeckt. Ich kann also nicht sagen, dass sie hier so speziell unprofessionell arbeiten.

Auch andere Erkenntnisse, was nun der spezielle Unterschied zwischen hier und Mitteleuropa ist, habe ich inzwischen fallengelassen. Dazu gehören: Dass Europäer hier als wandelnde Brieftaschen angesehen werden; dass sie alle nach Europa kommen wollen; dass sie hier natürlicher sind; dass sie hier einfachere Charaktere haben; dass es hier kaum psychische Krankheiten gibt; dass hier Armut herrscht; dass die Menschen hier unehrlicher sind …

Eines aber bleibt. Es bleibt hier anders, wobei ich aber immer weniger an etwas festmachen kann.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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