Norbert Schimmelpfennig

Reisetasche mit fraglicher Aufschrift

Hat mich also mein Träger auf der Bank am Bahnhof abgestellt. Mich, die grau-schwarze Reisetasche. Richtig sehen konnte ich ihn nicht mehr, die Sonne ging erst langsam auf, hinter dem Bahnhofsgebäude.

Trotzdem liefen schon haufenweise Menschen umher, aber noch achtete kaum jemand auf mich. Erst mit der Zeit sahen die Menschen in Uniformen, die dauerhaft hier zu sein scheinen, immer wieder auf mich, zuckten manchmal mit den Schultern. Dies führte langsam dazu, dass auch andere Menschen, mit Koffern oder anderen Reisetaschen, auf mich blickten.

Ein paar Hunde bellten allerdings dabei, und auch eine Katze hat mich schon angefaucht.

Langsam stieg die Sonne über dem Bahnhofsgelände empor und beleuchtete mich zeitweise. In gewisser Weise schön bei dieser Kälte. Dabei kam auch die Aufschrift auf meiner Vorderseite zur Geltung: Assel.

Dazu zuckten viele Passanten mit den Schultern, fragten sich wohl, was dies auf einer Reisetasche zu suchen hatte.

Meine Rückseite hingegen kann keiner der Menschen so richtig sehen, weil sie von der Rückenlehne der Bank weitgehend verdeckt ist. Dort ist eine Faust abgebildet, daneben die Aufschrift Pack. Irgendetwas hatte auch der Mensch, der mich hierher trug, in mich hinein gepackt.

 

 

So weit bis jetzt.

Mittlerweile ist die Sonne am Untergehen, und noch immer ruhe ich auf dieser Bank. Ein paar der Menschen in Uniformen sehen jetzt noch häufiger zu mir hin, und andere Menschen mit Koffern oder anderen Reisetaschen machen es ihnen für einen Moment nach.

Meine Maße sind 30 mal 48 Zentimeter. Dieses Verhältnis von ungefähr 1:1,6 empfinden die Menschen als schön. Darum sehen auch so viele Passanten auf mich. Ganz anders die Spinne, die sich vorhin neben meiner Bank an einem Faden von oben herunterließ. Deren Beine waren sehr lang im Verhältnis zu ihrem Körper, weshalb einige Menschen vor ihr zurückschreckten.

Schließlich fasst mich einer der Menschen in Uniform an und öffnet mich.

Dann zuckt er zusammen, als er die Drähte in mir sieht und die Bilder von den Menschen und den Fäusten und den Mittelfingern.

Ein Passant neben diesem uniformierten Menschen meint dazu:
„Die Assel des Rassismus! Wobei – Asseln sind doch auch nur Lebewesen, die von irgendetwas leben müssen. Ebenso wie die Spinne dort in der Ecke, und die noch längeren Spinnen in unserem Keller. Motive wie unsere Rassisten kennen sie wohl kaum!“

Hastig sagt der uniformierte Mensch:
„Solche Überlegungen können Sie später anstellen – wir müssen den Bahnhof schnellstens räumen lassen!“

Kurz darauf ertönt eine Ansage, und die Menschen rennen in die Richtung, aus der ich heute Morgen hierher getragen wurde.

Dann kommt ein vollkommen verhüllter Mensch auf mich zu, will mit einer Zange in mich hinein fassen.

Doch vorher gibt es einen Knall, und der verhüllte Mensch springt einen Schritt rückwärts – soll dies meine Mission auf diesem Bahnhof gewesen sein?

Allerdings explodiere ich nicht, und auch keiner der Menschen ist verletzt. Der Knall kam nur von einem Tablet und einem damit verbundenen Lautsprecher, die beide in mir versteckt sind.

Dafür geht etwas mit meiner Gestalt vor: Aus ihr entsprießen sieben drahtige, lange und dünne Arme, in den sieben Farben des Regenbogens – ein bisschen wie bei einer Spinne, die auf den Rücken gefallen ist.

Jetzt löschen meine sieben bunten Arme die Inschriften auf meiner Rückseite weitgehend aus. Wird wohl die Absicht meines Trägers gewesen sein?

 

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