2. Das Dorf der Zentauren
3. Der Besuch bei Lisa
Ich bin Azrael, der Todesengel. Ich bin der Engel der Finsternis und kehre alles Licht ins Dunkel um. Mein weiter Umhang ist so schwarz wie das Universum, bevor es die Sterne sah. Meine Gedanken wandern von Geist zu Geist, von Seele zu Seele. Ich bin der Sammler der Seelen, ernte sie überall im Universum. Ich bin der Herbst der Schöpfung und das Zwielicht in Raum und Zeit.
Ich bin Azrael, der Engel des Todes und der Rache. Nie sah mich ein Mensch in meiner wahren Gestalt, es sei denn, ich kam, um ihm sein Leben zu nehmen oder seine Seele zu geleiten an den Ort, wo sie ihre Ruhe findet.
Die Menschen fürchten den Tod. Und diese Furcht übertragen sie nun auf mich.
Ich bin Azrael, der Engel des Todes und der Rache...
***
Es regnete in Strömen. Ein heftiger Wind peitschte durch die leeren Straßen der Kleinstadt, die wie ausgestorben da lag.
„Nein..., nein..., nein! Geh’ weg von mir! Lass mich los!“ sagte eine langsam erstickende Stimme, die von einer jungen Frau kam.
Rachel Blair war starr vor Entsetzen. Dicke Regentropfen klatschten ihr ins Gesicht. Sie wollte ihre schreckliche Angst in die von düsteren Regenschleiern verhangene Nacht hinausschreien, aber ihre Kehle war wie zugeschnürt. Trotzdem versuchte sie es. Doch der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Sie konnte nicht einen einzigen Laut von sich geben. Sie hatte das Gefühl, jemand hielt ihr den Mund zu.
Ihre Angst steigerte sich noch, als sie merkte, dass sie offenbar jemand festhielt. Oder war es nur der heftige Wind, der an ihrem völlig durchnässten Mantel zerrte? Sie konnte es im Moment selbst nicht sagen.
Hastig und mit vom Schrecken weit aufgerissenen Augen sah sie nach allen Seiten. Sie konnte aber niemanden sehen. Wer oder was hatte sie da nur ergriffen? Wieder starrte sie in die Dunkelheit, doch da war nichts.
Die junge Frau riss sich jetzt zusammen, unterdrückte ihre wachsende Furcht mit aller Gewalt, versuchte auf dem schmalen Gehsteig langsam weiter zu gehen und überlegte sich verzweifelt, wie sie sich auf andere Art und Weise bemerkbar machen könnte. Doch im Moment schien jeder Gedanke daran sinnlos zu sein, denn ihr Bewusstsein wurde immer stärker von einer schier grenzenlosen Angst überwuchert, die jeden Schrei und fast jeden Bewegungswillen unterdrückte.
Die einsam daliegende Straße war nur schlecht beleuchtet. Sie lag außerdem etwas abseits und noch dazu weit draußen am ruhigen Stadtrand. Hier fuhren nur wenige Autos vorbei und weit und breit war keine weitere Menschenseele zu sehen. Die Leute hielten sich bei diesem äußerst schlechten Wetter sowieso in ihren Wohnungen auf, sahen vielleicht noch Fernsehen oder schliefen bereits in ihren gemütlichen Betten.
Rachel Blair dachte daran, dass alles allein ihre Schuld gewesen war und beschimpfte sich innerlich selbst. Warum musste sie auch ausgerechnet mit ihrem alten Wagen eine Spritztour in die Berge unternehmen und warum hatte sie nicht auf den aktuellen Wetterbericht gehört? Auf dem Rückweg kam sie schließlich in diesen sintflutartigen Dauerregen, der bald jede Straße unter Wasser setzte. Dann gab es irgendwo einen Kurzschluss unter der Blechhaube ihres Oldtimers und der Motor starb von einer Sekunde auf die andere einfach ab. Trotz aller Bemühungen ihrerseits sprang der Vierzylinder nicht mehr an. Durch die unzähligen Startversuche entlud sich die Batterie immer mehr und am Ende fiel auch noch die gesamte Stromversorgung aus.
Schließlich entschloss sie sich dazu, den Rest des Weges bis zur nahgelegenen Kleinstadt, obwohl es immer noch sehr stark regnete, zu Fuß weiterzugehen, um Hilfe zu holen. Schon auf der einsamen Landstraße glaubte sie sich von etwas verfolgt, konnte aber nicht genau sagen, was es war. Als sie den Stadtrand erreicht hatte, wähnte sie sich endlich in Sicherheit. Aber das war ein Trugschluss, wie sich später herausstellte. Rachel hatte bisweilen den seltsamen Eindruck, in eine andere Welt hinein versetzt worden zu sein aus der es für sie offenbar im Augenblick kein Entrinnen gab.
Da! Etwas raschelte verdächtig im Gebüsch gleich neben ihr.
Wieder hatte die junge Frau das komische Gefühl, als würde sie von etwas nicht näher definierbaren heimlich beobachtet, verfolgt und mit jedem weiteren Schritt, den sie tat, schien dieses ominöse Etwas näher zukommen.
Plötzlich spürte sie wieder eine Berührung. Rachel Blair öffnete den Mund zu einem Schrei, aber anscheinend wollte jemand nicht, dass sie ihrer Angst eine Form verlieh. Sie spürte das genau.
Ihr Herz fing an zu rasen. Das Blut rauschte wie wild in ihren Ohren. Ihr Verstand hatte große Mühe, nicht vor der eigenen Angst zu kapitulieren, sonst würde sie im nächsten Augenblick sicherlich durchdrehen und verrückt werden.
Dann sah sie auf einmal nur noch rote Flecken, die vor ihren geschlossenen Augen herumtanzten. Je länger sie allerdings die Augen zu hielt, desto mehr kroch ihr die Angst unter die Haut, eine Angst, gegen die sie nicht ankam. Ja, die kurz davor war, ihr unerbittlich das Leben aus den Adern zu saugen.
***
Der Schatten des Todes fuhr auf das Wesen herunter und hüllte es vollkommen ein. Zu seiner vollsten Zufriedenheit war es warm und lebendig. Es war einfach wunderbar, dass die abgrundtiefe Angst dieser zweibeinigen, aufrecht gehenden Kreatur sofort und in steigendem Maße vorhanden war. Er spürte, dass der Lebenswille dieser Person begann, sich zu regen. Ihr Überlebenswille war enorm stark ausgeprägt.
Azrael konnte für dieses schwächliche Wesen trotzdem nur grimmige Verachtung empfinden. In ihm kam auf einmal eine große Freude auf, dass allein nur seine bloße Anwesenheit Angst und Panik dieser primitiven Kreatur zu steigern schien. Er versuchte daher mit aller Konzentration, das Gefühl des Schreckens in ihr zu steigern. Dadurch entstanden jene Kräfte, die er selbst brauchte, um immer stärker zu werden. Es schien, als würden sie sich jetzt in dem Wesen unter ihm schlagartig potenzieren. Und genau das war seine Absicht, denn nur so bekam er die meiste Nahrung.
Deshalb verstärkte er seine Präsenz noch um eine weitere Stufe, wickelte sich dichter um diese ängstliche junge Frau, die doch so zerbrechlich war. Ganz vorsichtige schlang er sich wie eine unsichtbare Schlange um ihren weiblichen Körper, der vor Angst wie Espenlaub zitterte.
Azrael musste vorsichtig sein. Er hatte nicht vor, dieses Wesen zu zerstören, dann wäre es keine Nahrung mehr für ihn gewesen. Als er kurz darauf bemerkte, dass sich das Opfer in ihm tatsächlich wehrte, stieg seine Zufriedenheit ins Unermessliche.
Ah, tat das gut! Er genoss diese schreckliche Angst, die für ihn pure Nahrung war.
Je stärker er wurde, desto mächtiger und größer wurde die Furcht in diesem Wesen, von dem er wusste, das es sich Mensch nannte.
Wieder trieb er mit allergrößter Sorgfalt und Vorsicht die Spirale des Schreckens voran. Diesmal schien es noch besser zu klappen als mit seinem letzten Opfer.
Der alte Mann war einfach gestorben und hatte Azrael damit tief enttäuscht. Hungrig musste er den toten Körper zurücklassen, aber diesmal musste es einfach anders sein. Er hatte aus seinen zurückliegenden Fehlern gelernt.
Schon bald spürte er, dass er recht behalten sollte. Die Behutsamkeit hatte sich wirklich gelohnt. Die Angst des unschuldigen Opfers reichte jetzt, um ihn wirklich zu stärken. Der Schatten des Todes war begeistert. Zum ersten Mal war es ihm gelungen, ein menschliches Wesen am Leben zu erhalten, obwohl es von einer übermächtigen Furcht heimgesucht wurde.
Azrael musste sich beherrschen. Er durfte der jungen Frau nicht zu viel von der herrlichen Kraft ihrer steigenden Angst abziehen – jedenfalls nicht so viel, dass das Opfer zusammenbrach oder sterben würde. Das wäre nämlich mehr als ärgerlich, denn dann musste er mit der Suche wieder von vorn beginnen, weil er nicht absehen konnte, wie lange er wach bleiben und gegen den herrschenden Geist, den er auch jetzt als leichte Kraft am Rand seines Bewusstseins spürte, würde ankämpfen können. Er musste also sehr, sehr vorsichtig mit diesem Wesen umgehen. Die Zeit, die ihm noch blieb, wollte genutzt werden.
Plötzlich spürte er, dass sich in der bebenden Brust seines Opfers die Angst wie ein Klumpen Blei zusammenballte und zu einem verzweifelten Schrei das Innere des Körpers abermals verlassen wollte. Deshalb versuchte Azrael, schon beinahe zärtlich, der jungen Frau die Luft zum Atmen zu nehmen, zwar für wenige Sekunden nur, aber dennoch sehr konsequent, damit der Schrei, den sie tun wollte, nicht nach außen dringen konnte.
Sanft und leise legte er sich über den offenen Mund des weiblichen Menschen und drückte ihn Stück für Stück zu. Nicht, dass es aufhörte zu atmen, nicht, dass sein Lebenswille besiegt wurde! Nein, das durfte ihm auf gar keinen Fall passieren!
Noch konnten sie beide daraus schöpfen. Doch weder er noch sein Opfer durften Aufmerksamkeit erregen. Seine Nahrungsaufnahme durfte nicht gestört werden. Der Schrei dieser erbärmlichen Kreatur durfte daher den Körper unter gar keinen Umständen verlassen. Er durfte sich nicht Bahn brechen und nach außen dringen, sonst wäre seine Nahrung, die ihn am Leben erhielt, verloren.
Dieses Opfer unter ihm hatte anscheinend mehr Potenzial, als er sich das in seinen kühnsten Visionen vorstellen konnte. Es wehrte sich noch immer, was Azreal grenzenlos entzückte. So was kam wirklich nicht oft vor.
Der Überlebenswille dieser primitiven Lebensform war einfach erstaunlich und sehr animalisch ausgeprägt. Die Kraft aus der vorhandenen Angst seines Opfers war noch lange nicht ausgeschöpft. Vielleicht würde er auch noch in Zukunft von diesem Wesen zehren können, was ein großer Vorteil für ihn wäre. Offenbar konnte die Kreatur mit der Angst gut leben. Wenn er behutsam vorging, würde sie ihm noch lange dienen können – und das nicht nur heute.
***
Rachel Blair wehrte sich mit aller Kraft gegen das kaum greifbare und formlose Dunkel, das sie lückenlos umgab. Rein mechanisch waren ihre Abwehrbewegungen, wenn sie denn überhaupt zustande kamen. Anfangs war sie der Meinung gewesen, von irgendeinem Straßenräuber verfolgt zu werden, der sie gepackt und geschubst hatte. Doch das stellte sich als Irrtum heraus. Einen Straßenräuber kann man sehen, aber dieses unheimliche Etwas war unsichtbar und trotzdem real gegenwärtig.
Dennoch versuchte sie, gegen das besitzergreifende, würgende lichtlose Nichts anzugehen, das ihr die Luft zum Atmen nahm und sie daran hinderte, ganz bestimmte, vom eigenen Willen ausgehende Körperbewegungen zu machen. Wut kam jetzt in ihr hoch. Die junge Frau versuchte sich deshalb zu beruhigen, um nicht außer Kontrolle zu raten.
Plötzlich dachte sie an ihre unbeschwerte Jugendzeit und wie sie als junges Mädchen ihre erste große Liebe kennen lernte. Sie musste bei dem Gedanken lächeln, als sie ihm gesagt hatte, sie ginge allein nach Hause und ihm dabei flüchtig auf den Mund küsste. Sein enttäuschtes Gesicht würde sie nie vergessen. Immerhin war der junge Mann ein paar Jahre älter als sie gewesen. Er war ein richtiger Charmeur und sie wusste damals schon, was er in Wirklichkeit von ihr wollte. Es geschah dennoch, nur ein halbes Jahr später. Wieder huschte ein sanftes Lächeln über ihr angstverzerrtes Gesicht.
Einen Moment lang spürte sie, dass die erstickende Dunkelheit ein wenig nachzulassen schien. Sie nutzte diese Gelegenheit, um tief Luft zu holen und kämpfte gegen den dichten, spürbar präsenten Schatten an. Doch kaum war sie sich ihrer schrecklichen Lage bewusst, erholte sich auch die Finsternis wieder und wurde noch ein wenig dichter als zuvor.
Rachel Blair war wie benommen. Erneut glaubte sie, ersticken zu müssen, und doch, keuchend wenigstens um eine bisschen Atemluft ringend, gab sie nicht auf.
Auf einmal machte sich Panik in ihr breit. Wieder wollte sie schreien. Aber auch diesmal blieb er ihr in der trockenen Kehle stecken. Die sie umgebende Finsternis dagegen kam noch ein Stück näher. Ganz sanft, doch unerbittlich und gnadenlos schnürte sie der jungen Frau die Kehle immer mehr ein, sodass der alles befreiende Schrei in ihr blieb.
In ihrer grenzenlosen Verzweifelung versuchte sie, ihrem unbekannten Peiniger Fragen zu stellen.
„Wer bist du? Was willst du von mir?“ fragte sie mit gepresster Stimme, die heiser und krächzend über ihre bebenden Lippen kam. Sie wusste eigentlich nicht, mit wem sie eigentlich sprach. Sie tat es dennoch.
Das Blut rauschte ihr wegen des Sauerstoffmangels in den Ohren. Sie konnte kaum ihre eigenen Worte hören. Jeder Versuch, das Dunkel um sie herum zu fassen oder sich dagegen zu wehren, lief ins Leere.
Das Sprechen kostete ihr unendlich viel Kraft. Beinahe wäre sie ohnmächtig geworden, als sie erneut mit dem Unbekannte redete.
„Was habe ich dir getan? Willst du mich töten? Ist es das, was du willst? Du wirst meine Seele niemals bekommen! Ich gehöre nicht dir. Und wenn du mich wirklich schon sterben lassen willst, dann warte nicht länger damit, du Scheusal!“
Plötzlich hörte Rachel Blair ein leises Flüstern, das in ihr Ohr drang wie ein schwacher Windhauch.
„Ich will dich nicht töten. Ich will nur deine Angst haben. Wer Angst vor dem Tod hat, will leben. Du hast einen großen Lebenswillen. Er wird mich für meine Aufgabe stärken. Ich kann nicht genug davon bekommen. Ich lebe von der Angst des Menschen. Deshalb habe ich gar nicht vor, dich sterben zu lassen. Jedenfalls nicht im Moment. Du sollst leben und mich nähren. Mehr nicht! Mein Hunger nach Angst ist grenzenlos. Ich bin noch lange nicht satt.“
Das Flüstern in ihrem Ohr verschwand so schnell, wie es gekommen war. Rachel Blair konnte es nicht glauben. Hatte sie mit einem unsichtbaren Schatten gesprochen, gar mit einem Geist geredet oder verfiel sie langsam dem Wahnsinn? Trotzdem stieg Wut in ihr hoch. Wie konnte dieser Jemand oder dieses Etwas es wagen, sie zu benutzen und zu quälen?
Diese aufsteigende Wut verlieh ihr plötzlich Kraft, doch der Schatten des Todes schien diese Kraft zu spüren. Wieder schnürte er ihr die Kehle zu, wodurch er erreichte, dass sie ihre Wut vergaß und sich auf das überlebenswichtige Luftholen konzentrieren musste.
Der jungen Frau taten die Lungen weh, als sie verzweifelt nach Luft rang. Sie bekam einfach zu wenig Sauerstoff und wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Sofort ließ der Druck auf ihren Hals wieder nach.
In ihrem Kopf lachte es leise.
„Gut gemacht! So es richtig. Mehr will ich gar nicht von dir. Warte noch ein Weilchen! Du hast mir noch nicht genug von deiner Angst gegeben. Und versuche erst gar nicht, zu entkommen. ICH bin stärker als du!“
Rachel Blair wollte aufstöhnen. Aber sie schaffte es nicht. Ungewollt liefen ihr ein paar Tränen übers Gesicht, als ihr bewusst wurde, dass sie dieser wolkigen, schattenhaften Dunkelheit hilflos ausgeliefert war. Im gleichen Augenblick machte sich Hoffnungslosigkeit in ihr breit. Sie würde bestimmt sterben. Heute, gleich hier am Rande der Kleinstadt und mitten im Regen auf einer menschenleeren Straße. Niemand würde ihren Tod bemerken. Sie war ganz allein auf weiter Flur.
„Nein!“, durchfuhr es sie auf einmal. Woher nahm sie nur diese Kraft? Rachel Blair wollte nicht sterben. Sie hang zu sehr am Leben, auch wenn sie eine Hure mit schmutziger Vergangenheit war.
„Nein, verdammt noch mal! Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Mein Leben gehört mir! Verschwinde, wer immer du auch bist!“ kam es leise und mit gepresster Stimme über ihre blutleeren Lippen. Die Sekunden, in denen sich Rachel Blair gegen den Schatten des Todes wehrte, wurden zur Ewigkeit.
Doch dann änderte sich etwas.
Ganz plötzlich hatte sie den komischen Eindruck, dass wieder ein wenig Kraft in ihre schwammig gewordenen Glieder zurückkehrte. Die dichte, beinahe greifbare Finsternis, die sie umgab, schien tatsächlich etwas nachzulassen.
„Ich werde dich jetzt verlassen. Aber ich komme irgendwann wieder. Dein Lebenswille ist stärker als deine Angst. Noch...“, sagte eine sanfte Stimme in ihrem Kopf. „Ich will nicht, dass du stirbst. Aber sei auf der Hut! Noch bin ich mit dir nicht fertig.“
Noch einmal spürte sie, dass die Dunkelheit wieder dichter wurde, und der Druck auf ihre Kehle zunahm, gerade so, als erging eine drohende Warnung an sie. Erneut stieg Angst und Beklemmung in ihr auf. Das unbekannte Wesen wollte offenbar damit zeigen, dass sie ihr Leben ausschließlich seiner Gnade verdankte und dass sie noch einmal davon gekommen war..., jedenfalls vorerst.
Ganz plötzlich verschwand der Schatten des Todes. Es wurde langsam hell draußen und der Regen ließ nach. Über den Dächern der Kleinstadt dämmerte der Morgen.
Rachel Blair torkelte über den schmalen Gehsteig auf die regennasse Straße, wo sie entkräftet auf dem grauen Pflaster zusammenbrach.
Sie hörte noch eine ferne, aufgeregte Stimme, die sie fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei, dann verlor sie vollends das Bewusstsein. Dunkelheit umgab sie.
***
Rachel Blair fuhr mit einem lauten Schrei aus dem Albtraum hoch, der sie noch vor einer Sekunde umfangen hatte.
Für ein paar Sekunden lang rang sie nach Luft wie jemand, der zu lange unter Wasser gewesen war und nicht genügend Sauerstoff bekommen hatte.
Verärgert starrte sie in den Raum, als könnte er etwas für den Albtraum oder die schlechte Laune, dann schlug sie die Decke energisch zurück, verließ das Bett und tappte hinüber zum Fenster. Sie öffnete es und ließ frische Luft hinein. Draußen schien die Sonne am blauen Himmel. Der Tag versprach schön zu werden.
Schließlich suchte sie das Badezimmer auf. Während sie die richtige Temperatur des Duschwassers einstellte, dachte sie an ihren Albtraum zurück, der sie immer noch so plastisch umfing wie eine reale Erinnerung. Die meisten Träume vergisst man schnell nach dem Aufwachen, doch dieser ging ihr echt an die Nieren. Er wollte einfach nicht verschwinden.
Was hatte sie da in ihrem Traum erlebt? War ihr etwa ein Engel des Todes begegnet?
Es heißt ja immer, dass Träume nichts weiter sind als der Spiegel der Seele, und das Träume Schäume sind. Oder hatte sie nur Angst vor etwas, das ihr im wirklichen Leben tagtäglich und überall begegnete?
Hatte sie vielleicht nur Angst vor dem Tod?
Rachel Blair riss sich zusammen. Sie verbannte all diese unangenehmen Gedanken aus ihrem Bewusstsein. Nein, sie war kein abergläubischer Mensch. Sie glaubte nicht an die Macht der Träume, sondern stand mit beiden Beinen im realen Leben und hatte nicht vor, dem Tod die Hand zu reichen.
Nach dem Duschen zog sie sich einen Bademantel über und ging zurück ans Fenster. Von draußen floss angenehm kühle Morgenluft ins Zimmer, die Rachel erfrischte und ihre Gedanken wieder klarer werden ließen. So war es gut. Das gefiel ihr.
Sie bückte sich leicht nach vorne und schaute auf die belebte Straße hinunter, auf der mittlerweile das quirlige Kleinstadtleben pulste. Auf dem Marktplatz gegenüber war eine Menge los. Überall war fröhliches Gelächter und sogar etwas Musik zu hören.
Dann geschah es.
Die junge Frau rutsche beim weiteren Vorbeugen aus den nassen Badelatschen, stürzte im nächsten Moment mit einem lauten Schrei kopfüber aus dem offenen Fenster und schlug mit ihrem Körper unten auf der Straße dumpf und hart auf.
Der Sturz aus dem dritten Stock ihrer Wohnung hatte ihr das Genick gebrochen. Rachel Blair kam noch einmal für wenige Sekunden zu Bewusstsein. Sie bemerkte dabei die schwarz gekleidete Gestalt mit den goldenen Locken und den seltsam bernsteinfarbenen Augen, die in unmittelbarer Nähe neben ihr kniete und ihr die ausgestreckte Hand hinhielt, als wolle sie ihrer Seele beim Hochkommen aus dem sterbenden Körper helfen.
Rachel Blair ergriff instinktiv die helfende Hand des Engels. Alles war auf einmal so friedlich und still. Es fiel ihr nicht schwer mit ihm zusammen durchs Licht zu gehen, das sich vor den beiden aufgetan hatte.
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
„Ohne Träume sind wir verloren.“
Heinz-Walter Hoetter
***
Draußen war es dunkel geworden.
„Ich hatte letzte Nacht einen Traum“, sagte das Mädchen Ahva zu ihrer Mutter.
Die Mutter blickte zum Halbmond empor. Sie zog den Kristall aus dem Lederbeutel und bewegte ihn hin und her, so dass sich das schwache Mondlicht in allen Farben des Regenbogens über das Gras ergoss. Überall funkelten jetzt bunte Halbmonde, die rasch über den abendlichen Grasboden dahin sausten.
Die Mutter sah dem farbigen Spiel der Lichter fasziniert zu. Erst als sich der Kristall ausgependelt hatte, wandte sie sich an ihre zwölfjährige Tochter.
„Deswegen musst du dich nicht ängstigen“, antwortete sie ihr und drückte Ahva mitfühlend die Hand. „Wir werden noch heute einen Weisen aufsuchen. Ich bin mir ganz sicher, dass er dich heilen kann.“
„Diesmal war es anders. Ich träumte von Krieg“, flüsterte das Mädchen. „Du weißt, was das bedeutet.“
„Nun, es bedeutet im Moment noch gar nichts“, sagte die Mutter. „Träume müssen nicht Wirklichkeit werden. Ich will damit nur andeuten, dass alles bloßer Aberglaube ist. Als ich so jung war wie du, träumte ich einmal von einem großen Land, in der nur lauter Wesen lebten, deren Haut weiß war, die aufrecht gingen und blutrünstig waren. Sind wir blutrünstig? Nein! Wir sind friedlich. Haben wir eine weiße Haut? Nein! Unsere Haut hat eine hässliche Farbe angenommen. Sie ist dunkelbraun und lederartig. Gehen wir aufrecht? Nein! Wir laufen gemütlich auf vier Beinen herum und haben zwei kräftige Arme.“
Die Mutter brachte ihre Tochter etwas zum Lachen, genau wie sie es gehofft hatte. Dann sagte sie: „Aber ehrlich gesagt, damals haben mich meine Träume auch ein wenig geängstigt.“
Einige Zeit später.
Der Weise Kinkin war etwas altmodisch, weil er keinem Trank traute, dessen Rezept nicht über hundert Jahre alt war. Aber er war ein vernünftiger, freundlicher Mann und außerdem schon hochbetagt.
„Träume vom Krieg? Warum träumt ein Mädchen wie du vom Krieg?“ fragte Kinkin, während er Ahva untersuchte.
„Ich will diese Träume ja nicht. Sie machen mir Angst, weil sie einfach von selbst kommen. Ich kann nichts dagegen tun“, sagte Ahva und schaute den alten Kinkin dabei an.
„Nun, in deinem Alter und bei all den Veränderungen, die dein Körper zur Zeit mitmacht, ist es gar nicht so ungewöhnlich, wenn man schlecht schläft und von bösen Träumen gequält wird.“
„Dann handelt es sich bloß um Wachstumsstörungen?“ erkundigte sich die Mutter forschend bei dem Weisen.
„Was heißt hier ‚bloß’?" sagte Kinkin mit einem hintergründigen Lächeln. „Die Zeit der Reife ist die aufregendste Zeit im Leben eines weiblichen Zentauren. Dann wandte er sich wieder dem Mädchen Ahva zu.
„Du bist, wie man sieht, bereits in diesem Alter viel größer und viel kräftiger als deine Eltern oder ich. Du entwickelst dich hervorragend. Die Augen glänzen schon jetzt im schönsten Rot, du hast eine äußerst reine, sehr schöne hellbraune Lederhaut und deine vier kräftigen Beine sind gut entwickelt. Tja…, und auch den breiten Rücken hast du von deiner Mutter geerbt. Ich will eigentlich nur damit sagen, dass du bei bester Gesundheit bist, Ahva.“
„Und die Träume werden auch wieder aufhören?“ fragte das Mädchen mit gesenktem Blick und beachtete die Lobrede des Weisen Kinkin nicht in dem Umfang, wie er es von ihr in dieser Situation eigentlich erwartet hätte.
„Die Träume...? Ach ja..., natürlich. Wenn du ein bisschen Geduld mitbringst werden sie aufhören. Bestimmt werden sie das. Trotzdem, ich gebe dir ein Rezept, das du zusammen mit deiner Mutter zu meiner Apothekerin bringst. Sie wird dir einen speziellen Kräutertee zusammenstellen, der dir in den Nächten eine ruhigen Schlaf bescheren wird.“
Kinkin der Weise schickte das Mädchen zurück in den Warteraum. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zur Ahvas Mutter und sagte zu ihr: „Liebe Shilan, ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich deiner Tochter Angst einjagen soll. Andererseits wird in letzter Zeit überall viel geträumt, und die Leute sind abergläubisch, auch wenn sie es nicht gerne zugeben wollen. Behalte déine Tochter für ein paar Tage im Haus und sorge dafür, dass sie sich ausruht. Glaube mir, die Träume selbst stellen keine Gefahr dar – sie bringen auch kein Unglück. Ahva wird auch nicht davon verrückt werden oder sonst etwas. Das einzige, was sie jetzt braucht, das ist allein deine Liebe und dein mütterliches Verständnis.“
„Ich kann dir versichern, verehrter Kinkin, dass ich meine Tochter Ahva über alles Liebe. Schließlich habe ich außer ihr und meinem Mann sonst keine Angehörigen mehr. Ich mache mir ja bloß Sorgen…, nun, du weißt ja, wie die Leute auf solche Träume, wenn sie erst einmal davon erfahren haben, reagieren. Sie reden dauernd über derartige Vorkommnisse und tuscheln untereinander. Letztendlich könnte mein guter Ruf darunter leiden, denn nur von ihm hängt mein gutes Geschäft ab.“
Der Weise warf Ahvas Mutter jetzt einen absichtlich aufgesetzten, bösen Blick zu. „Glaub mir, es handelt sich nur um eine völlig harmlose Krankheit, mehr nicht. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass im letzten Jahr jedes zweite Kind in unserem Dorf an Fieber erkrankte. So ist das nun einmal. Geh’ heim, und mach’ dir keine Sorgen. Du und dein Mann, ihr seid ganz normale Eltern, die ein ganz normales Kind haben.“
Die Mutter holte Ahva aus dem Wartezimmer zurück und beide zusammen verabschiedeten sich von dem alten Kinkin.
Auf dem Heimweg spazierten sie durch einen Park, der von bunten Lichtern hell erleuchtet wurde. In der Ferne sah man drei markante Berge hoch in den nächtlichen Himmel ragen. Ahva blieb plötzlich stehen und betrachtete die mächtigen, schneebedeckten Gipfel.
„Was ist mit diesen Bergen? Warum schaust du zu ihnen rüber?“ fragte die Mutter ihre Tochter.
„In meinem Traum sah ich hohe Gipfel, die Eisriesen genannt wurden. Auf der einen Seite befand sich ein Ozean, auf der anderen eine weite Ebene. Die Landschaft sah genau so aus wie bei uns. Dann griffen diese seltsamen Wesen an, die über die weite Ebene und über das offene Wasser kamen.“
Die Mutter lächelte Ahva liebevoll an, obwohl sie innerlich ziemlich beunruhigt war. Dann nahm sie ihre Tochter zärtlich in den Arm.
„In den letzten tausend Jahren hat es hier bei uns keinen Krieg mehr gegeben.
Hinter den Bergen liegt ein wichtiger Hafen, den man ebenfalls Eisriesen nennt. Der Handel wächst Jahr für Jahr weiter an. Sowohl die Bauern im Flachland als auch die Leute von den großen Inseln draußen auf dem offenen Meer vermehren ihren Wohlstand dadurch ebenso wie wir. Weshalb sollte also irgend jemand einen Krieg wollen?“
„Es tut mir leid, Mutter. Ich wollte dich wirklich nicht beunruhigen. Mach’ Dir keine Sorgen, es war ja nur ein dummer Traum, obwohl er mir so echt schien.“
„Wenn wir den Tee von der Apothekerin geholt haben, gehen wir gleich nach Hause und legen uns schlafen“, sagte die Mutter mit energischem Blick und verließ den Park zusammen mit ihrer Tochter Ahva. Hoch am nächtlichen Himmel schob sich gerade eine schwarze Wolkenwand vor den weiß leuchtenden Halbmond, was zur Folge hatte, dass die Nacht noch schwärzer wurde, als sie es schon war.
Zuhause angekommen, bereitete die Mutter einen Kräutertee zu und gab ihn Ahva zu trinken, bevor sie zu Bett ging. „Wenn du gut schläfst, kannst du morgen sicher wieder zur Schule gehen“, sagte sie und verließ das Schlafzimmer.
Aber Ahva schlief schlecht. Kurz vor Morgengrauen hallten laute Schreie durchs Haus, und als die Eltern in ihr Schlafgemach stürmten, fanden sie Ahva kauernd auf dem Boden vor.
„Sie greifen uns an und töten jeden,“ schluchzte sie. „Das ganze Dorf, sogar die Frauen und die Kinder sind vor ihnen nicht sicher. Es ist entsetzlich“, schluchzte Ahva.
Die Mutter nahm ihre Tochter fest in die Arme.
„Hast du schon wieder diesen bösen Traum gehabt?“
„Ja“, sagte Ahva, „der Krieg war diesmal schlimmer. Überall lagen Tote herum, wohin man auch schaute. Wir werden zwischen Ozean und Ebene zermalmt, und selbst aus der Luft werden wir angegriffen.
„Du musst Dich beruhigen, mein Kind! Denk daran, was ich Dir gestern gesagt habe. Es war nur ein schlechter Traum. Er wird irgendwann aufhören. Glaube mir.“
„Du glaubst nicht, dass er wahr wird, Mutter?“
Natürlich nicht.“
Die Mutter schaute zu ihrem Gatten Ebarin hinüber und gab ihm Anweisung, den Weisen Kinkin aufzusuchen, damit er zu ihr kommen soll. Ihr Mann machte sich sofort auf den Weg.
Als er zurückkehrte, war Kinkin allerdings nicht dabei.
„Er kommt nicht, Shilan“, sagte Ebarin zu seiner Frau. „Unzählige Eltern haben gleichzeitig nach ihm geschickt. Er behauptet, er können nichts dagegen tun und schimpfte uns einen Haufen Dummköpfe, weil wir alle abergläubisch seien. Unterwegs auf dem Rückweg traf ich Korkan und Tunkan, die beiden Verkäufer. Sie hatten ebenfalls von diesem seltsamen Krieg geträumt. Korkan schob seinen Ärmel hoch und zeigte mir einen üblen Bluterguss. Tunkan hob sein Hemd, und ich sah, dass sein Bauch verbunden war. Sie sagten, dass sie in ihren Träumen verletzt worden sind. Als sie erwachten, waren die Wunden tatsächlich vorhanden.“
Stille senkte sich über den Raum. Niemand traute sich etwas zu sagen, doch jeder wusste, was das zu bedeuten hatte.
***
Später. Der Vollmond stand schon hoch am Nachthimmel.
Als Shilan erwachte, zitterte sie am ganzen Körper. Sie hatte Kopfschmerzen und ihre Bewusstsein war verschwommen mit Bildern schrecklicher Gewalttaten angefüllt. Sie wusste, dass auch sie im Traum gekämpft hatte, denn ihr ganzer Körper war mit hässlichen Schürfwunden übersät. Sie fragte sich, ob die Träume noch schlimmer werden würden. Dann fiel ihr Ahva ein. Sie eilte in ihr Zimmer, fand sie aber nicht vor.
Zusammen mit Ebarin suchten sie das ganze Haus ab, überprüften alle Türen und Fenster und riefen immer wieder ihren Namen, doch Ahva blieb unauffindbar.
Erst gegen Sonnenaufgang fanden sie ihre Tochter schlafend in ihrem Bett, obwohl sie mehrmals vorher nachgeschaut hatten. Sie fanden dafür keine Erklärung.
Ahvas Fußsohlen waren zerkratzt, blutverschmiert und mit hässlichen Blasen übersät, als sei sie lange Zeit marschiert. Auch ihre Hände hatten Schwielen bekommen und waren voller Blut. Sie sah erschöpft und eingefallen aus, und es war den Eltern nicht möglich, sie zu wecken.
Shilan und Ebarin liefen hinaus ins Dorf, um einen der alten Weisen zu holen, der ihrer Tochter helfen sollte. Doch aus allen Richtungen erschollen Rufe, bitterliches Weinen und ein fürchterliches Gejammer.
Ihnen wurde schnell klar, dass die Weisen nicht mehr tun konnten als zuvor.
Die Bewohner des ganzen Dorfes hatten in der Nacht geträumt, auch die Kinder.
Sie kauerten in den Ecken der Häuser und klammerten sich trostsuchend aneinander. Manchmal schliefen sie auch wieder ein, obwohl es helllichter Tag war. Ihre Mütter und Väter behandelten die Wunden und Schnitte und bemühten sich darum, sie aus dem todesähnlichen Schlaf zu wecken, was ihnen aber nicht gelang. Manche von ihnen schliefen selbst ein.
Als Shilan und Ebarin in das Schlafzimmer ihrer Tochter zurückkehrten, redete Ahva im Schlaf.
„Wir haben sie gesehen. Wir alle haben sie gesehen“, sagte sie. „Aber wir werden sie bekämpfen und einfach so lange weiter machen, bis wir sie besiegt haben. Wir werden sie vernichten. Schon nach tausend Jahren hat man sie vergessen und weiß nicht einmal mehr, wer sie waren, diese schrecklichen Vengalier mit ihrer magischen Fähigkeit, uns von innen über unsere Träume anzugreifen. Wir haben ihnen jedoch am Fuße der EISRIESEN eine schreckliche Niederlage zugefügt. Seitdem werden wir immer stärker, die bösen Vengalier von Kampf zu Kampf schwächer. Das haben sie nun davon.“
Ahva lächelte auf einmal, sagte plötzlich kein Wort mehr und schlief wieder fest und tief ein. Zwischendurch wachte sie auf und redete weiter. Und so ging das stundenlang. Seltsames Gerede über Zaubersprüche, Verwünschungen und Magier, das keine Ende nehmen wollte. Auch die Erwachsenen im Dorf, die schliefen, benahmen sich so. Dabei waren sie doch alle in Wirklichkeit fortschrittliche Bürger und stolze Zentauren, die im realen Leben an solche Dinge nicht glaubten.
Ahvas Mutter Shilan blieb trotz ihrer Erschöpfung wach. Ihr Mann Ebarin bewegte sich im Schlaf unruhig hin und her, als würde er kämpfen. Dann…, nach ungezählten Stunden, war plötzlich mit einem Schlag alles vorbei. Das schummrige Licht vor Shilans Augen spielte ihr einen Streich, denn als sie mit schmerzendem Blick genauer zu Ahva hinsah, schien sie wieder friedlich im Bett zu schlafen. Erst als sie sich zu ihr hinunterbeugte bemerkte sie, dass Blut aus ihren Ohren tropfte. Offenbar war sie durch einen Schlag auf den Kopf verletzt worden. Aber sie lebte. Dann ging sie zu Ebarin hinüber in dessen Schulter ein Dreizack steckte. Trotz der schlimmen Verletzung schien er sich langsam wieder zu erholen. Er öffnete seine Augen.
„Shilan, der Kampf in unseren Träumen ist zu Ende. Unser Dorf hat die Vengalier vernichtet. Jetzt wird wieder alles gut. Niemand von uns wird in Zukunft von Krieg und Gewalt träumen müssen.“ Shilan lächelte ihn an, nahm ihn in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. Dann kümmerten sich beide um ihre Tochter Ahva und versorgten ihre blutenden Wunden.
Draußen im Dorf schlugen die Zentauren die Trommeln. Die Weisen hatten sich versammelt und redeten leise in unverständlichen Worten vor sich hin. Die Gefallenen unter den Zentauren trug man aus den Häusern und bestattete sie am Fuße der Eisriesen, den mächtigen Eisbergen am fernen Horizont, wo ihre Seelen von nun an als ewige Wächter sowohl die weite Ebene als auch das offene Meer beobachten sollten, um das Dorf der Zentauren vor den bösen Vengaliern zu bewachen, von denen man wusste, dass sie sich Menschen nannten, eine weiße Haut hatten, aufrecht gingen und blutrünstige Bestien waren.
(c)Heinz-Walter Hoetter
***
Es war Sonntagnacht. Draußen regnete es in Strömen.
Die 16-jährige Lisa lag mit einer leichten Grippe auf dem Sofa und schaute fern. Ihre Eltern waren ausgegangen und würden erst gegen Mitternacht wieder zurück sein. Im Fernseher lief gerade ein Nightmare-Film mit Freddy Krueger, dem abscheulichen Serienmörder mit den rasiermesserscharfen Klingen an der rechten Hand, der in den Albträumen der Kinder und Jugendlichen zum Leben erwacht.
Plötzlich klingelte das Telefon.
Lisa schlug die warme Wolldecke zurück, stand auf und schlurfte missmutig in den Gang, wo das Telefon stand. Dann nahm sie den Hörer ab.
Gerade wollte sie fragen, wer da ist, da sagte eine sonore Männerstimme auch schon: „Freddy Krueger kommt gleich zu dir. Ich stehe noch fünfzehn Meter von deinem Haus entfernt!“
Erschrocken legte Lisa den Hörer sofort wieder auf.
Irgend so ein Volltrottel will mir Angst einjagen und erlaubt sich mit mir einen bösen Scherz, dachte sie verärgert, ging zurück ins Wohnzimmer und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem.
Nach einer Weile klingelte das Telefon abermals. Ein leichtes Angstgefühl stieg jetzt in Lisa hoch, denn ein gruseliger Horrorfilm mit Freddy Krueger lief gerade im Fernsehen, den sie sich soeben anschaute.
Was für ein komischer Zufall, dachte sie. Der unbekannte Anrufer nannte sich genauso wie der Hauptdarsteller im Film.
Wieder erhob sie sich vom Sofa und ging rüber in den Gang zum Telefon. Kaum hatte sie den Hörer abgenommen, sprach auch schon die gleiche, sonore Männerstimme zu ihr: „Freddy Krueger kommt gleich zu dir. Ich stehe nur noch wenige Meter von deinem Haus entfernt!“
Diesmal zuckte Lisa unwillkürlich zusammen. Mit zitternden Händen legte sie den Hörer auf und rannte zurück ins Wohnzimmer. Nachdem sie das Licht ausgeknipst hatte, ging sie sofort ans Fenster, schob vorsichtig den schweren Vorhang etwas zur Seite und starrte angestrengt hinaus in die dunkle Regennacht. Ihr ängstlicher Blick wanderte runter zur Straße, wo der Gehweg und das schmiedeeiserne Eingangstor des Reihenhauses ihrer Eltern vom Licht einer Bogenlaterne nur trübe beleuchtet wurde. In ihrem schwachen Lichtkegel stand allerdings ein Mann, der mit einem langen Mantel und einem Schlapphut auf dem Kopf bekleidet war. Er schien das Haus zu beobachten.
Lisa prallte entsetzt vom Fenster zurück. Ihr Herz rutschte vor lauter Angst in die Hose. Sie musste sich mit aller Kraft zusammenreißen, um nicht in Panik zu geraten. Sie rührte sich außerdem nicht von der Stelle.
Da!
Plötzlich klingelte es unten an der Haustür. Kurz danach ein zweites und drittes Mal.
Lisas Knie wurden weich. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Trotz aller Furcht tastete sie sich in der Dunkelheit des Zimmers langsam zum Telefon vor, um die Polizei anzurufen.
Schon wollte sie den Hörer abnehmen, als jemand offenbar mit geballter Faust heftig gegen die hölzerne Haustür schlug. Gleichzeitig rief eine laute Stimme: „Verdammt noch mal Lisa. Mach’ endlich die Tür auf! Ich bin es, dein Bruder Tom. Oder willst du mich hier draußen im Regen noch länger stehen lassen?“
„Gott sei Dank! Es ist ja nur mein Bruder. Das ist typisch für ihn. Immer muss er diese verdammten Scherze mit mir machen. Dem werde ich’s aber gleich geben. Der kann was von mir hören...“, murmelte Lisa mit zischender Stimme vor sich hin.
Gleich darauf rannte das 16-jährige Mädchen ziemlich erleichtert runter zur Haustür und öffnete sie hastig. Als die Tür weit offen stand, erstarrte Lisa vor Schreck. Sie wollte schreien, brachte aber keinen Ton raus.
Vor ihr stand ein Mann mit einem brandnarbigen Gesicht. An der rechten Hand trug er lange scharfe Klingen an den Enden der Finger. Sein bis zu den Knöcheln hängender schwarzer Mantel war nicht zugeknöpft und den Schlapphut hatte er tief in seine Stirn gezogen. Der schmale Mund verzog sich plötzlich zu einem bösartigen Grinsen.
Dann sagte er mit sonorer Stimme: „Ich heiße nicht Tom. Ich habe nur seine Stimme nachgeahmt. Mein Name ist Freddy Krueger.“
(c) Heinz-Walter Hoetter
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.03.2022.
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