Hermann Karbe

Ein echter de Borgio

 
„Stopp“, schrie ich und zerrte Ferdinand am Ärmel. Der sah mich entgeistert an.
„Was ist los Mann. Du hättest mich fast zu Fall gebracht.“
Verstimmt massiert er sich die Schulter. Man muss wissen, dass Ferdinand, ich nenne ihn Ferdi, etwas wehleidig veranlagt ist. Wir kennen uns schon seit dem Studium. Arbeiteten beide in einem Zulieferer der Luftfahrtbranche, saßen sogar seit zehn Jahre in einem Büro.
Wie jeden Tag waren wir in der Mittagspause ein bisschen durch die Altstadt geschlendert. So im Vorbeigehen bemerkte ich im hinteren Bereich des Ladens „ALLERLEI NÜTZLICHES“ ein flackerndes Licht. Wir hatten uns schon oft über diesen alten verstaubten Trödelladen eines gewissen Vincent lustig gemacht. Ob der Inhaber überhaupt Vincent hieß, hatten wir einfach nur angenommen. Irgendwie passte Vincent einfach besser zum Inhaber eines solchen Ladens. Vielleicht lag es auch daran, dass im Schaufenster schon seit Monaten ein Ölgemälde im Stil van Gogh`s ausgestellt war. Ferdi behauptete sogar, dass der Inhaber aufgrund seines Alters möglicherweise dieser van Gogh sei.
Manchmal kann Ferdi nämlich richtig witzig sein.

Verwunderlich war es allemal, dass diese Bruchbude hier in der Nachbarschaft edler Boutiquen und Juweliergeschäfte überhaupt überleben konnte. Und verwunderlich wäre es demnach nicht, wenn das flackernde Licht Vorboten eines Abbruchs in Form eines Brandschadens wäre.

„Da, siehst du das nicht? Dort brennt es.“
„Du siehst Gespenster“, entgegnete Ferdi und drängte zum Weitergehen.
„Der alte Kauz hat einfach vergessen, das Licht auszuschalten.

Komm, wir müssen weiter.“

Ein guter Freund, wie der Ferdi es ist, weiß natürlich, dass ich so schnell nicht aufgebe. Also folgte er mir, um der Sache auf den Grund zu gehen. Glücklicherweise war die Ladentür nicht verschlossen.

Unter lautem Protest ließ sie sich quietschend und knarzend öffnen, was darauf hindeutete, dass sie vor sehr langer Zeit zuletzt benutzt wurde. Weitere Indizien dafür waren die kilometerlangen Spinnenfäden, die sich kreuz und quer durch den Raum spannten.

„Mein Gott, ist es hier dunkel und dreckig“, nörgelte Ferdi.

Wir duckten uns unter dem klebrigen Geflecht hindurch und rückten so allmählich immer tiefer ins Dickicht des völlig überfüllten Trödelladens vor.

Das Gebäude, vielleicht Teil einer alten Fabrikhalle, wirkte von außen betrachtet schmal, entpuppte sich im Innern dagegen als eine Art Flugzeughangar mit einem typischen Rundbogendach. Während die Halle überwiegend im Dunkeln lag, ließ das Dach staubige Lichtkegel durch, die eigenartige Objekte beleuchteten. Aus einiger Entfernung betrachtet wirkten sie wie sich bewegende Skulpturen.
Das Licht, die Gerüche, die vielen rätselhaften Dinge machten mich immer neugieriger. Gerne hätte ich sie näher untersucht, doch Ferdi drängte beharrlich zum Rückzug.
„Komm, lass uns gehen, du siehst doch, dass keiner zuhause ist.“

„Und dann, wie von Zauberhand, stand der alte Mann, der sich tatsächlich als Vincent vorstellte, uns gegenüber.“

„Ich habe lange auf sie gewartet“, brummte der Alte mit einer Bassstimme, die so gar nicht zu seinem Körper passte. Er war ein Leptsosome, also kleinwüchsig und schmal von Statur. Sein Kopf dagegen war rund und groß.

Noch merkwürdiger war jedoch sein kleines Gesicht das aussah, als wolle es sich in seinem Kopf verkriechen.

„Es ist alles vorbereitet“, brummte er.

Ferdi, der bisher von dem Alten unbeachtet geblieben war, hatte sich inzwischen hinter einem alten Dielenschrank versteckt.
Wild gestikulierend gab er mir zu verstehen, dass wir schnellstens das Weite suchen sollten. Vermutlich war ihm die Situation nicht geheuer. Mir ehrlich gesagt auch nicht. Aber irgendetwas riet mir, zu bleiben. Vielleicht war es der Reiz, hier etwas Geheimnisvolles, bisher nie Dagewesenes zu entdecken.
„Wolltest du nicht etwas Dringendes erledigen?“
Ferdi sollte seine Chance zur Flucht bekommen, und er nutzte sie. Vorsichtig, als ob er es fast nicht glauben konnte, schlich er den Weg zurück zur Eingangstür.
Während ich dem Alten folgte, postierte sich Ferdi vor dem Laden, jederzeit bereit, Hilfe zu holen falls es die Situation erforderte. Zumindest hoffte ich, dass er das tat.

Mit unglaublicher Geschmeidigkeit wieselte der Alte weiter voran.
Er rückte Möbel und verstaubte Ölgemälde aus dem Weg. Mir wurde es indessen immer mulmiger.
Unbemerkt hatten wir die große Halle verlassen und standen jetzt vor einem schweren staubigen Bühnenvorhang, vermutlich ein Relikt eines längst geschlossenen Theaters. Lautlos, wie von Geisterhand, zog sich der Vorhang zur Seite und gab schließlich den Blick auf einen lichtdurchfluteten Raum, einer Art Kapelle mit einem pyramidenförmigen Glasdach, frei. Die Spitze mochte wohl eine Höhe von fünf Meter messen. Seltsamerweise hatten wir heute neblig, trübes Wetter, das einfallende Licht dagegen zeugte von starker Sonneneinstrahlung.

Im Zentrum dieses Raumes stand ein rundes etwa ein Meter hohes Podest.


Darauf thronte er. Ein Rasenmäher, war mein erster Gedanke. Doch bei näherer Betrachtung war es nicht einfach nur ein Rasenmäher. Das Gerät hatte eine sonderbare Form, irgendwie organisch.
Der kleine Mann baute sich vor dem Podest auf und schien plötzlich zu wachsen.
„Darf ich vorstellen. Der einzig wahre de Borgio.“
Ein merkwürdiger Moment: Der alte Mann stellte mir, einem ihm bisher völlig unbekannten Mann, einen Rasenmäher vor, als sei es sein Sohn, auf den er unsäglich stolz war.

Das Verrückte überhaupt war jedoch, dass de Borgio auch mich ungewöhnlich beeindruckte. Seine äußere Erscheinung glich einem festlich herausgeputzten Prinzgemahl in einer Art Gardeuniform. Er schien leicht hin und herzuschwingen, zu atmen. Sein Gesicht, wenn man bei einem Rasenmäher überhaupt von einem Gesicht reden konnte, strahlte eine gewisse Arroganz aus, die von einem bestimmten Blickwinkel aus sogar bedrohlich wirkte.

Ich redete mir ein, dass es an dieser doch merkwürdigen Umgebung, dem Alten und den unwirklichen Lichtverhältnissen lag, die mir einen Streich spielten.
Aber handelte es sich letzten Endes nicht um einen ganz normalen Rasenmäher?
Man sagte diesen Hightech-Geräten zwar nach, dass sie eine, wenn auch künstliche, Intelligenz besäßen, aber menschliche Züge würden sie wohl kaum aufweisen. Man gab ihnen Namen und bei einigen Zeitgenossen schien es, als gehörten sie sogar zur Familie.
„Na, hab ich ihnen zu viel versprochen“, riss der Alte mich aus meinen
Gedanken. Und als er es sagte, strahlten seine Augen plötzlich in einem kristallklaren Blau, das mir vorhin nicht aufgefallen war. Die Pupillen bildeten eine Art Strudel, der alles in sich einsogen. Vorsichtig streckte er seine langen knochigen Finger aus und streichelten behutsam de Borgio´s Oberfläche. Und dem schien es zu gefallen. Er tänzelte förmlich auf seinen Rädern, die plötzlich verformbar wirkten.
In meinem Körper machte sich ein seltsames Gefühl von Angst breit. Ich musste mich ablenken.

„Wie bedient man so ein Gerät überhaupt?“ Meine Frage sollte Interesse bekunden, wirkte aber wohl wie eine Provokation.

„Dieses Gerät und er sprach das Wort „Gerät“ verächtlich lang gezogen aus, bedient sie. De Borgio akzeptiert keine Befehle. Er weiß, was zu tun ist.“

„Alles klar“, sagte ich irritiert. „War ja auch nur eine Frage.“

„Sie werden gut mit ihm auskommen. Glauben sie mir“, erwiderte der Alte.

 

Ich musste hier raus, die Sache wurde mir zu heikel.
„Aber eigentlich benötige ich gar keinen neuen Rasenmäher“, versuchte ich das Gespräch schnell zu beenden.
„Ich habe schon einen, der gute Dienste leistet.“
Vincent tat, als hätte er meine Worte überhaupt nicht gehört.
De Borgio dagegen vollzog eine plötzliche Drehung um die eigene Achse und wandte sich von mir ab.
Ein unkontrollierter Impuls der elektronischen Steuerung, war mein erster Gedanke. Vielleicht war es auch nur ein ulkiges Spielzeug, wie der mit der Hüfte wackelnde Weihnachtsmann. Dabei war dieser Gedanke mehr Wunsch als Wirklichkeit. Das Ding hatte sich wahrhaftig gedreht. De Borgio zeigte mir die kalte Schulter. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt.
All das machte mir Angst.

Die Augen des Alten hatten sich jetzt fast geschlossen. Das ehemals kristallklare Blau blitzte grell durch die schmalen Schlitze der Augenlider. Sein Blick blendete mich und es war mir fast unerträglich, ihm standzuhalten.

Deutlich spürbar war zudem die wachsende Ungeduld des alten Mannes. Immer wieder wandte er sich de Borgio zu. Dabei pendelte der große kugelige Kopf auf dem dünnen Hals, wie der eines Wackeldackels.

 

Soweit ich das beurteilen konnte war Ferdi außerstande, mich aus der misslichen Lage zu befreien.

„Also dann“, sagte der Alte mit einem bösartigen Unterton in der Stimme.

„Geben sie mir 50 Mark. Ich kann ihn nicht länger warten lassen.“

Ich witterte meine Chance. Der Mann schien nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Jetzt bloß nicht widersprechen, sagte ich mir.

„50 Mark, also 25 Euro“, korrigierte ich daher sein Angebot.

Worauf Vincent mir mit einem vernichtenden Blick antwortete: „50 Mark hab ich gesagt. In einem echten Schein. Schicken sie ihn mir mit der Post. De Borgio wird in den nächsten Tagen bei ihnen eintreffen.“

Liebevoll streichelte er den Rasenmäher und eh ich mich versah, war ich alleine mit dem Gerät, das sich mir inzwischen wieder zugewandt hatte.
Das war gut gelaufen, war meine erste Überlegung. So schnell es ging, verließ ich den Laden.


„Du lebst ja noch“, begrüßte mich Ferdi draußen vor der Tür.
Haarklein berichtete ich ihm meine Erlebnisse.

„Und du meinst wirklich, dass der Rasenmäher lebt? lästerte er“

„Ich sage es dir, das Ding ist wirklich gut. Und das für 25 Euro. Ich schicke dem Alten den halb zerfledderten 50 Markschein, den ich neulich noch in der Schublade gefunden habe und dann ist gut. Schickt er mir dann tatsächlich das Ding nach Hause, verkaufe ich es so schnell es geht im Internet. Schließlich sieht es ja gut aus und laufen wird es ja wohl irgendwie. Schickt er mir das Teil nicht, ist der alte Schein, beziehungsweise sind die 25 Euro, eben futsch. Ist mir der Spaß auch wert.“

Tags darauf, es war schon dunkel geworden und ich hatte es mir gerade gemütlich gemacht, klingelte das Telefon.

Das Display zeigte mir eine unbekannte Nummer. Es meldete sich Vincent, der mir lapidar mitteilte, dass de Borgio sich bei ihm gemeldet habe. Er fände es schade, dass wir uns verfehlt hätten, er fühle sich aber gut aufgehoben. Die Ladestation entspräche de Borgios Vorstellungen. „Er braucht viel Liebe und Verständnis“, gab der Alte mir mit auf den Weg und beendete das Gespräch grußlos.

Hatte ich es mit einem Verrückten zu tun, oder war ich total überarbeitet? Ich rappelte mich auf, holte eine Taschenlampe und ging zur Garage. In einer angebauten Remise, in der ich ursprünglich Brennholz stapeln wollte, hatte ich spaßeshalber Platz für die Ladestation geschaffen.

Ich traute meinen Augen nicht. Aus dem Dunkel leuchteten mich zwei orangefarbene Lämpchen an, die von einem melodischen Signalton begleitet wurden. Die Melodie ähnelte der Tonfolge aus dem Film „Unheimliche Begegnung der dritten Art“. Hatte sich de Borgio etwa selbst installiert, oder gehörte der Einbau und die Inbetriebnahme zum Service. Egal dachte ich, umso besser.

 

Den alten Zweitaktrasenmäher konnte ich tags darauf für gutes Geld verkaufen. Der Käufer, ein in die Jahre gekommener BWL-Student, verlangte zwar einen Probelauf, der aber mangels Treibstoff ausfallen musste. Um die Verkaufsverhandlungen nicht scheitern zu lassen, gewährte ich ihm einen lukrativen Preisnachlass.

 

Ab jetzt war ich auf de Borgios Wohlwollen angewiesen. Der Rasen, bisher ein mehr oder weniger verwildertes Feuchtgebiet, entwickelte sich entgegen meinen Erwartungen schnell zu einem vorzeigbaren Rasenteppich. Saftig grün, exzellent geschnitten. Merkwürdig nur, dass ich de Borgio niemals in Aktion erlebte.
Misstrauisch geworden, begann ich die Höhe des Grases in
unterschiedlichen Zeitabständen nachzumessen. Das Ergebnis konnte sich
sehen lassen. Egal wie das Wetter auch war, der Rasen war perfekt geschnitten.

Hin und wieder bemerkte ich zwar leichte Abweichungen im Schnittmuster. Mal war es eine nicht gemähte Ecke am Blumenbeet, mal meinte ich, japanische Schriftzeichen zu erkennen.

Tage später, ich hatte mich an das sonderbare Verhalten de Borgio`s inzwischen gewöhnt, erwischte mich an der Hofeinfahrt die neue Nachbarin Frau Stanislawski, eine schrullige ältere Dame, immer auf der Suche nach einem Tratsch mit den Nachbarn. Angeblich eine ehemalige Theatersouffleuse. Richtig kennengelernt hatten wir uns bisher nicht.
Auf der linken Hand balancierte sie einen selbstgebackenen Topfkuchen.

„Den habe ich für ihren netten Besuch gebacken. Nur eine kleine Aufmerksamkeit, die ich Herrn de Borgio versprochen habe. Wir haben uns gestern Abend sehr nett unterhalten.“

Unverständnis murmelnd schob ich Frau Stanislawski wieder Richtung Heimat, bedankte mich flüchtig mit der Versicherung, den Kuchen sofort Herrn de Borgio zu überreichen. Die Tante musste inzwischen vollständig verrückt geworden sein, erklärte ich mir ihr merkwürdiges Verhalten. Aber wie um alles in der Welt wusste sie von dem Namen de Borgio? In der Nacht träumte ich von der Begegnung de Borgios mit Frau Stanislawski.
 

„Guten Tag, wie geht es ihnen Frau Stanislawski? Darf ich mich vorstellen? Ich bin de Borgio und zu Besuch bei ihrem Nachbarn. Ja, auch ich fühle mich einsam hier in dem alten Schuppen. Das wäre toll, wenn wir uns öfter treffen könnten.“


Schweißgebadet wachte ich auf, ging zum Fenster und spähte durch die Nacht. Gott sei Dank hatten sich die beiden in dieser Nacht nicht getroffen. Nicht auszudenken, wenn sich daraus noch eine Affäre entwickeln würde.

Ich legte mich wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Die Sache ging mir einfach nicht aus dem Kopf.

Womöglich war es gar nicht de Borgio, mit dem sich die Nachbarin unterhalten hatte. Vielleicht irgendein Obdachloser, der sich in meinem Schuppen ein Nachtquartier gesucht hatte? Aber würde der sich de Borgio nennen? Oder war es womöglich der alte Vincent, als er de Borgio installiert hatte?

Am nächsten Morgen stand ich nach der unruhigen Nacht schon früh vor Vincent`s Laden. Ich musste mir Klarheit verschaffen.


Die Schaufensterscheibe war in der Zwischenzeit noch schmutziger geworden und ließ jetzt überhaupt keinen Blick ins Innere zu. Ein winziges Guckloch ermöglichte es mir jedoch festzustellen, dass der Laden vollständig ausgeräumt worden war.

„Wenn sie den alten Knacker suchen, der hat schon vor langer Zeit das Geschäft aufgegeben. Ich glaube gar nicht, dass der überhaupt noch lebt.“ Der Gesichtsausdruck der jungen Dame, die plötzlich neben mir stand, nahm einen affektierten Ausdruck an, als sie dann noch ungefragt hinzufügte, dass der Laden sein Geheimnis hat, und daher seit der Schließung keinen neuen Pächter gefunden hat.

Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und setzt ihren Weg fort.
Junge Leute sollten nicht so viel kiffen, dachte ich. Ich wusste es besser, schließlich hatte ich hier den de Borgio gekauft. Halt, bezahlt hab ich ihn damals nicht, jedenfalls nicht hier.

Auf jeden Fall war ich meiner Verpflichtung zur Zahlung in der vereinbarten Form nachgekommen. Den zerknitterten Fünfzig-Markschein hatte ich in einem Briefumschlag an diese Adresse abgeschickt. Ferdi war mein Zeuge. Zurückgekommen war er bisher nicht, also konnte ich davon ausgehen, dass der Alte den Brief erhalten hatte.

Abhaken, die ganze Sache, dachte ich und ging nach Hause.

--

De Borgio stand, wie jeden Tag, in seiner Ladestation und „signalisierte“ Zufriedenheit. Zumindest entnahm ich das seiner harmonischen Tonfolge, dieses Mal war es ein Kinderlied aus längst vergangener Zeit. Es schien ein ganze Folge von verschiedenen Tönen oder Melodien zu sein, die in seinem Hirn gespeichert waren.
Hatte ich gerade Hirn gedacht?

Auf jeden Fall schien er in Ordnung zu sein und der Tag konnte ein gutes Ende nehmen.
Wenn mir da nicht die kaputte Kabelrolle, die ich vor kurzem zusammen mit der elektrischen Heckenschere gekauft hatte, aufgefallen wäre. Irgendein krankes Hirn hatte doch tatsächlich das ganze Kabel, insgesamt 30 Meter, aus der Isolierung entfernt.
Wieder ein Hirn?

Wahrscheinlich gelangweilte Jugendliche, die nichts anderes als Zerstörung im Sinn hatten, ging es mir durch den Kopf. Ich sammelt die Gummihülle und wollte sie gerade in die Mülltonne entsorgen, als mich Ferdi auf die Schulter klopfte.

„Das Kabel hätte ich noch verwenden können, dann hättest du dir diese Arbeit erspart.“

Bei einer oder mehreren Flaschen Bier und dem Genuss des Topfkuchens machte ich meinem Ärger Luft und erzählte ihm, wie ich das Kabel vorgefunden hatte.

„Ich glaube nicht, dass es Jugendliche waren, die würden sich nicht solche Mühe machen. Schau dir das doch einmal genau an. So einfach geht das nicht.“

Ferdi hatte Recht.

„Bestimmt hat der alte Knacker festgestellt, dass du ihn mit dem Kaufpreis übervorteilst hast. Das war eben seine Rache“, konstatierte Ferdi.

 

Eine einsame Amsel zwitscherte ihr Abendlied, dass von einem anderen Singsang beantwortet wurde. Eine eigenartige Konversation, eine Art Zwiegespräch. Es dauert lange, bis wir den Sangesbruder der Amsel ausfindig gemacht hatten.
De Borgio hatte sich wohl von uns unbemerkt aus dem Schuppen entfernt und sich bis in den entferntesten Winkel des Gartens bewegt. Jetzt stand er unter der großen Linde, auf deren Spitze sich auch die Amsel niedergelassen hatte. Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: De Borgio schickte die Amsel fort und bat sie, uns in Ruhe zu lassen. Natürlich hatte er es nicht wirklich gesagt. Es waren mehr oder weniger Gesten de Borgios, indem er leicht hin und her wippte und sich dabei irgendwie verformte. Es scheint unmöglich, dass ein mehr oder weniger starres Gehäuse sich verformen könnte, aber wir hatten es mit eigenen Augen so wahrgenommen. Bis heute sind wir uns einig: Das „Ding“ hat dem Vogel den Befehl erteilt, wegzufliegen. Basta!

Die Amsel flog auf den untersten Ast und trällerte eine Art Gutenachtständchen, breitete die Flügel aus und schwebte ohne einen weiteren Flügelschlag wie ein ferngesteuertes Flugzeug einfach davon. Ganz hoch kreiste sie über unseren Köpfe und ich meinte, ihre Augen leuchteten bis zu uns herunter.

De Borgio sah ihr hinterher und als sie ganz hoch im Dunst des Abends verschwunden war, drehte er sich zu uns um, kuschelte sich ins Gras und schien augenblicklich einzuschlafen. Wir sahen uns verwundert an und begaben uns wieder auf die Terrasse. An diesem Abend saßen wir noch lange einfach so da, tranken stumm unser Bier und aßen den Topfkuchen von Frau Stanislawski. Immer wieder starrten wir in die Ecke des Gartens, in der de Borgio jetzt völlig im Gras versunken war. Vermutlich schaute auch er zu uns herüber.

 


Ferdi war über Nacht geblieben. Die Biere, die am Abend getrunken wurden, forderten Tribut. Am nächsten Morgen galten unsere ersten Blicke aus schweren Köpfen dem Garten. Offensichtlich hatte de Borgio sich wieder in seine Ladestation zurückgezogen.
Ein langes Wochenende lag vor uns und wir hatten uns vorgenommen, das neu eröffnete „Haus der Technik“ zu besuchen. Ferdi`s Freund aus alten Zeiten war mit uns verabredet. Paul war Wissenschaftler und dort zuständig für die Abteilung „Künstliche Intelligenzen“. Ferdi hatte mit ihm „aus gegebenem Anlass“ einen Termin vereinbart.

 

Es war schon erstaunlich, was die Technik heutzutage möglich macht. Schon allein der Vorraum der Ausstellungshalle versprach Interessantes. Fußball spielende Roboter purzelten über ein virtuelles Spielfeld. So wie es den Anschein hatte, würde es auf ein Unentschieden hinauslaufen. Ein unerbittlicher Schiedsrichter in Form einer fahrbaren Kleinkamera erkannte in Millisekunden alle nur denkbaren Regelverstöße. Lustig anzuschauen, aber war es künstliche Intelligenz oder war es mehr oder weniger Spielerei?

„Lustig oder?“ Unbemerkt hatte sich Paul dazugesellt.

„Kommt mit, ich zeig euch wirkliche künstliche Intelligenz.“

Er führte uns in ein übergroßes Labor, das eher an ein Fernsehstudio erinnerte.

„Das ist Jonas“, stellte er uns eine lebensgroße Puppe vor, die auf einen überdimensionalen Bildschirm blinkte, auf dem eine Nachrichtensendung von BBC lief. Jonas schien jedes Detail äußerst konzentriert aufzunehmen.

Sein Körper sah dem menschlichen Vorbild zum Verwechseln ähnlich. Nur wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass es sich um keine organische Haut handelte. Es handelte sich mehr oder weniger um eine sehr fein gewebte Netzstruktur, ähnlich eines Carbongewebes. Bekleidet war Jonas mit einem eng anliegenden hellgrünen Overall, unter dem ich weder Kabel noch irgendwelche Module erkennen konnte. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, so als würde er atmen. Ich war versucht, ihn zu berühren.

„Nicht anfassen, er steht unter Strom“, ermahnte mich Paul gerade noch rechtzeitig.

„Außerdem mag er es nicht, wenn man ihn im Schlaf stört“, sagte Paul und zog mich energisch zur Seite.

Flüsternd erklärte er uns, dass Jonas der zurzeit klügste Roboter in Menschengestalt sei.

„Wobei das Gehäuse, also die menschenähnliche Gestalt, rein zufällig so gewählt wurde. Das Design entspricht einer Fotografie aus einem Science Fiction Film. Sein Gehirn könnte in allen möglichen Gehäusen untergebracht werden“, erklärte Paul.

Z.B. in einem Rasenmährer, fiel mir ein, sagte es aber nicht.

„Jonas verfügt über die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen“, fuhr Paul fort.

„Dann habt ihr ihm wahrscheinliche Millionen von Daten zur Entscheidungsfindung eingespeist“, antwortete ich.

„Mich laust der Affe“, entfuhr es Ferdi. „Der Typ“, sagte er und zeigt mit dem Finger aufgeregt auf Jonas, der sich uns inzwischen zugewandt hatte, „ der Typ hat den gleichen komischen Kopf wie dieser Vincent. Findest du nicht?“

Ein tiefer grollender Laut entwich dem Roboter und ein Ruck durchfuhr den gesamten Körper.


Aufgeregt drängte uns Paul in einen angrenzenden Büroraum.

„Hoffentlich nimmt er es uns nicht übel, dass wir so über ihn reden“, raunte er uns zu.

„Da müsst ihr aber noch dran arbeiten“, belustigte sich Ferdi.

„Hast du eine Ahndung. Da kommen wir nicht mehr ran“, konterte Paul

Wir sahen uns wortlos an.
Die Ernsthaftigkeit von Pauls Bemerkung sollten wir erst viel später erfassen.
 

Das ganze Areal erstreckte sich auf viele hundert Quadratmeter, die teilweise überdacht waren. In den Innenbereichen hatte man asphaltierte Fahrbahnen ähnlich einem städtischen Straßenverkehr angelegt, auf denen unbemannte Fahrzeuge verkehrten.

„Ihr könnt einfach weitergehen die Fahrzeuge erkennen jedes Hindernis auf der Fahrbahn. Es war ein mulmiges Gefühl einfach durch den doch recht dichten Fahrzeugverkehr zu laufen, aber es funktionierte. Gemeinsam mit den dort tätigen Wissenschaftlern, die irgendwelche Einstellungen vornahmen, konnten wir uns gefahrlos bewegen.

Ferdi und ich waren tief beeindruckt.

Wir waren gerade am Landeplatz eines, natürlich autonom fliegenden, Quadrokopters angekommen, als ein ohrenbetäubender Lärm, hervorgerufen von einer Sirene ausbrach. In Sekundenschnelle landeten alle Fluggeräte ohne sich zu berühren. Die eben noch in rasanter Fahrt befindlichen Fahrzeuge stoppten abrupt. Alle Mitarbeiter rannten zu einem Sammelpunkt.

Paul bedeutete uns, nicht weiterzugehen und hier auf ihn zu warten.

Nach einer gefühlten halben Stunde normalisierte sich die Situation und auch Paul kam wieder zurück.

Wir erfuhren, dass Jonas seinen „Betreuer“ niedergeschlagen hatte, als der ihn aufforderte, seine Systeme kurzzeitig wegen Wartungsarbeiten abzuschalten.

„Dieser Eingriff in seine persönliche Entscheidungsfreiheit hatte für Jonas wohl eine besondere Situation dargestellt, der er sich dann zur Wehr gesetzt hatte. Dem Kollegen geht es jetzt aber wieder besser“, erklärte Paul.
„Wir haben inzwischen das Notfallprogramm gestartet.“

Er berichtete uns von ähnlichen Vorfällen, die viele Kollegen veranlassten, nicht weiter mit Jonas zusammenzuarbeiten. Es waren zum Teil sehr bösartige Übergriffe, die schon dazu geführt haben, den finalen Rettungsstromstoß anzuwenden. Das bedeutete, dass dem Probanden eine Hochspannung verabreicht wird, die sein Rechenzentrum sofort und unwiderruflich zerstört. Die neueste Generation hätte sich aber inzwischen so weit entwickelt, dass die Probanden sich selbst Schutzsysteme eingerichtet hätten, die den Stromstoß einfach neutralisieren. „In solch einem Fall“, so Paul, „kann man durchaus von künstlicher Intelligenz sprechen.“

Angeblich bestünde im Moment keine Gefahr, da Jonas das Gelände nicht verlassen könnte.

Ich machte mir trotzdem Sorgen.

 

Nach einem Kaffee in der Institutskantine verabschiedeten wir uns von Paul mit einem mulmigen Gefühl im Magen.

„Findest du nicht, dass der Roboter frappierende Ähnlichkeit mit dem verrückten Alten hat?“, griff Ferdi seine Bemerkung von vorhin wieder auf, nachdem wir uns während der Rückfahrt lange angeschwiegen hatten.

Ehrlich gesagt, hatte ich nicht besonders darauf geachtet, mein Augenmerkt lag mehr auf den Bewegungsapparat des Roboters. Es war schon faszinierend, wie das Zusammenspiel künstlicher Gliedmaßen so naturgetreu gesteuert werden kann.
„Aber jetzt, wo du es sagst fällt mir auf, dass der Ton, also die Stimme, den das Gerät von sich gegeben hat, mich schon irgendwie erschreckt hat“, sagte ich.

„Diese tiefe Stimme stimmt schon mit der des Alten überein.

Vielleicht ist es aber auch nur ein serienmäßig hergestelltes Stimmen-Modul, das in solchen Robotern eingebaut wird, dadurch klingen die alle irgendwie gleich“, versuchte Ferdi es zu erklären.

 

Wir beschlossen, an diesem schönen Tag den Stadtpark aufzusuchen, um in der Parkklause ein Eis zu essen.
Die Eisklause, wie wir sie nannten, war zwar voll besetzt, aber wir fanden noch ein schattiges Plätzchen. Am Nachbartisch hatte sich eine Gruppe Jugendlicher breitgemacht. Lauthalts amüsierten sie sich über einen alten Mann, der am Tresen unbeholfen seine Rechnung bar bezahlen wollte.

„Seht euch das an“, belustigten sie sich. „Der Typ will mit D-Mark bezahlen. Der muss ja uralt, oder total durchgeknallt sein.“

Aufmerksam auf die Unterhaltung geworden, drehte ich mich um und erschrak. Der uralte verrückte Mann war Vincent.

 

So schnell ich konnte, versuchte ich zum Tresen zu gelangen, doch in dem inzwischen überfüllten Café war kein Durchkommen möglich. Zu viele Stühle standen mir im Weg.

Als ich gerade das größte Hindernis, einen beleibten Kellner, zur Seite drängen wollte, erfüllte eine Explosion die Caféstube. Im Nu füllte sich der Raum mit dichtem Rauch. Gellende Schreie ließen Panik aufkommen. Alle versuchten rücksichtslos, einem drohenden Inferno zu entkommen. Ich schaffte es schließlich aus dem Cafébereich heraus den Tresen zu erreichen. Doch Vincent, oder vielmehr der Mann den ich für Vincent hielt, war fort. Die Kassiererin stand fassungslos hinter der Registrierkasse, aus der immer noch eine graue Rauchsäule stieg. Das gesamte Bargeld hatte sich über den Tresen verteilt, Geldscheine flatterten durch den Raum. Die Frisur der armen Frau war total zerzaust, Bluse und Schürze waren teilweise verkohlt,

Zeugen erzählten, dass die gesamte elektrische Anlage schlagartig zusammengeschmolzen war.

Nach wenigen Minuten trafen Polizei und Feuerwehr ein. Martinshörner und Blaulichter erschufen eine irreale Szenerie. Obwohl die gesamte Elektrik zerstört wurde, war die Versorgung der Nachbarschaft nicht betroffen.

Die Gäste wurden gebeten, ihre Personalien anzugeben und sich als Zeugen zur Verfügung zu halten. Das Café wurde natürlich geschlossen und versiegelt.


Es war ein langer Tag gewesen und die Eindrücke hatten ihre Spuren hinterlassen. Zuhause angekommen machten wir es uns erst einmal auf der Veranda gemütlich und ordneten die Ereignisse.

Jedenfalls hatte wenigstens de Borgio seine Arbeit gewissenhaft erledigt. „Gott sei Dank ist der weniger intelligent als seine Artgenossen „Sonst hätte der auch schon gemeutert.“, frotzelte Ferdi.

Inzwischen hatte ich Biernachschub aus dem Keller geholt.

„Ich werde diesen blöden Brandgeruch nicht los“, bemerkte er.

Und jetzt merkte auch ich diesen beißenden Geruch, der sich gerade eben wieder verstärkt hatte. Ferdi hatte mal wieder die gleichen Gedanken.

Wir stürmten zur Ladestation. De Borgio war weg. Stattdessen hingen die verkohlten Überreste der elektrischen Leitungen, die zur Station führten, traurig aus der Wand. Genau wie nach der Explosion im Café stank es fürchterlich nach verbranntem Kunststoff.

Was war hier nur passiert?
Ein Anschlag konnte es nicht gewesen sein. Dann hätte es auch de Borgio erwischt. Aber der war nicht mehr da. Merkwürdigerweise funktionierte das Licht weiterhin und alle elektrischen Sicherungen waren intakt.

Wir untersuchten das Umfeld der Garage. Und als wäre das alles noch nicht genug, fanden wir auch im Garten eine Spur der Verwüstung.

Von der Garage führte eine circa 50cm breite Schneise von de Borgios Ladestation durch den Garten der Nachbarin bis hin zum Bolzplatz der Jugendlichen. Kleine Büsche waren praktisch zersägt und geschreddert, Beete aufgewühlt. Auf dem gepflasterten Parkplatz verlor sich die Spur.

Das würde nicht so billig werden, denn der Schaden war beträchtlich.

Schnell wurde der Vorfall zum Tagesgespräch der Straße.

Peter Beck, ein Lehrer im Ruhestand, hat sich übereifrig der Sache angenommen und schon nach wenigen Stunden die Ursache für das Fehlverhalten des Rasenmähers ermittelt. Demnach wurde de Borgio gestohlen und mit laufendem Motor bis zu einem wartenden Auto auf dem Parkplatz geschoben. Eine Entführung sozusagen. Eine blödsinnige Erklärung, aber die Nachbarschaft war erst einmal zufrieden.

Auch ich wollte die Sache schnell verdrängen und ging zum Alltagsgeschäft über. Am nächsten Tag kaufte ich gemeinsam mit Ferdi einen ganz normalen Elektrorasenmäher mit einem langen Kabel. Der konnte wenigstens nur innerhalb der Reichweite des Kabels agieren und nicht ausbüxen.

Meine Welt war erstmals wieder in Ordnung und die Episode de Borgio abgeschlossen, dachte ich.

 

Der Telefonanruf in aller Frühe riss mich aus dem Schlaf. Eine von einem Computer generierte Stimme verlas einen kryptischen Text. Ein Callcenter, das mir wieder einmal etwas Unnützes aufschwatzen wollte, war mein erster Gedanke. Ich wollte schon auflegen, als die Tonlage der Stimme sich veränderte.

„Ich habe ihn zurückgeholt. Nur damit sie Bescheid wissen. Warten sie alles weitere ab, unternehmen sie nichts, de Borgio wird sich wieder bei ihnen melden. Aber seien sie vorsichtig, er hat sich sehr verändert.“

Mir standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Spielte mir da jemand einen üblen Streich?

„Ich habe mir einen anderen Rasenmäher gekauft“, war meine spontane Reaktion.

„Natürlich, natürlich“, schnarrte die Stimme am Telefon. Die Tonlage hatte sich inzwischen weiter verändert und klang jetzt metallisch schrill.

Nach einer Pause folgte eine undefinierbare Tonfolge, als käme sie direkt aus einem Raumschiff. Dann wurde die Verbindung abgebrochen.

Mit zitternder Hand rief ich Ferdi an und lud ihn zu einem außerordentlichen Krisengipfel ein.
„Paul meint, dass wir jetzt vor allen Dingen die Nerven behalten müssen. Übrigens, dieser verrückte Roboter, dieser Jonas ist auch nicht wieder aufgetaucht. Inzwischen beschäftigt sich die Polizei schon mit der Sache“,
berichtete ein aufgeregter Ferdi.

„Mit welcher Sache?“, wollte ich wissen.

„Naja, Jonas Verschwinden, die Explosion im Café, die Geschichte mit deinem de Borgio, die Sachbeschädigung des Gartens von Frau Stanislawski und weitere Gewalttaten in diesem Zusammenhang. Stell dir vor, dieser Jonas soll sogar ein Elektroauto entwendet haben.
Offensichtlich verfügt er ja über die nötige Intelligenz“, sinnierte Ferdi weiter.


„Vielleicht hängt dein Rasenmäher da auch mit drin, und die beiden fahren jetzt mit einem Elektroauto zum gemeinsamen Rasenmähen“, witzelte Ferdi.

„Lass den Quatsch“, ermahnte ich ihn.

„Komisch, dass bei mir noch keine Polizei aufgetaucht ist, wegen der Sachbeschädigung von de Borgio“, fiel mir ein.

„Also“, begann Ferdi und tat, wie immer in solchen Situationen, dabei ganz wichtig. „Wie ich von Ecki, einem befreundeten Polizisten, der in solchen Sachen ermittelt erfahren habe, bist du wohl außen vor. Das hat längst andere Dimensionen. Rein rechtlich sieht man dich vielleicht eher als Opfer“

„Sehr tröstlich Ferdi“.
Auf jeden Fall musste ich zuerst die Sache mit Frau Stanislawski in Ordnung bringen.

Ich kaufte einen schönen großen Blumenstrauß und machte mich auf den Weg. Gott sei Dank war Ferdi bereit, mir Schützenhilfe zu leisten.
Als der letzte Ton der melodischen Türklingel im Hausflur verhallte, bemerkte ich, dass die Tür unverschlossen war. Merkwürdig war nur, dass die Sicherungskette von innen eingehängt war. Durch den Türspalt machte ich mich durch laute Rufe bemerkbar. Unterdessen war Ferdi wohl in den Garten gelangt.

Aufgeregt stand er plötzlich im Flur und entriegelte die Tür von innen.
„Wie bist du da reingekommen? Du bist doch nicht etwa dort eingebrochen?“

„Das Haus ist leer, total leer. Die Frau ist weg, ausgezogen“.
Ich folgte Ferdi durch die leeren Räume. Alles war ausgeräumt. Aus den Wänden hingen dicke Stränge mehradriger Kabel. Soweit ich das beurteilen konnte, waren die Kabel, es mussten insgesamt einige hundert Meter sein, fachmännisch verlegt. Die Stränge mündeten wiederum in große Schächte, die zum Dachboden führten.

„Das ist ein Fall für Paul“, stellte Ferdi fest und griff hastig zu seinem Smartphone.
Eine halbe Stunde später stieg Paul mit hochrotem Kopf aus dem Dienstwagen des Institutes. Er stürmte buchstäblich in Stanislawskis Haus und besah sich, ohne uns näher zu begrüßen, die Räumlichkeiten.
„Das hier ist keine gewöhnliche Hausinstallation für den alltäglichen Gebrauch. Diese Kabel hier, dabei riss er ein Kabelbündel auseinander, sind Hochfrequenzkabel, welche hohe und höchste Frequenzen im Millimeter-Wellen Frequenzband übertragen können. Die Kabel werden hauptsächlich in Systemen für die Übertragung hochfrequenter, analoger und digitaler Signale eingesetzt. Will sagen, dass diese Kabel hier für eine ganz spezielle Funktion verwendet wurden. Wir zum Beispiel benutzen diese Technologie für die Steuerung der Roboter.“
Paul hatte sich so in Rage geredet, dass er erst einmal nach Luft schnappen musste.
Ferdi erholte sich als erster. „Was schlägst du vor, was wir unternehmen sollen?“
„Ihr werdet niemanden finden, der sich der Sache annehmen will. Es wird das Beste sein, ihr vergesst das hier. Schließlich ist diese Frau, sofern es sich überhaupt um ein menschliches Wesen handelt, euch doch völlig fremd. Oder kennt ihr sie doch näher?
Aber eins muss ich noch wissen. Ihr seid doch nicht zufällig an künstlicher Intelligenz interessiert?“

Wir erzählten Paul die ganze Geschichte. Von dem alten Vincent, von de Borgio, Frau Stanislawski, der zerstörten Kabeltrommel, dem Vorfall in dem Cafe und dem Telefonanruf.
Paul machte ein besorgtes Gesicht.
„Ich will euch keine Angst machen. Aber wir haben es hier mit einer Form der künstlichen Intelligenz zu tun, die zum Teil fremd gesteuert wird. Wir haben dieses Phänomen schon länger beobachtet. Es scheint von einem überdimensionalen Rechenzentrum auszugehen, dass in der Lage ist, zuvor autarke Maschinen, zu klonen. Die wiederum klonen sich wieder selbst, wobei sie sich immer weiter entwickeln.
„Ich werde den Sachverhalt mit unserem Institutsleiter besprechen“, versprach Paul und verabschiedete sich sichtlich besorgt.
 

Die Geschichte nahm jedoch eine völlig andere Entwicklung. Zwei Tage nach Pauls Besuch rückte auf dem Nachbargrundstück ein riesiger Bagger mit einer Furcht einflößenden Abrissbirne an. Der Bauleiter, ein junger am ganzen Oberkörper tätowierter Kraftprotz, wusste von gar nichts. Er habe den Auftrag vom Eigentümer, einem Herrn Markowitz aus Berlin, erhalten. Der konnte alle für ihn erforderlichen Unterlagen der Stadtverwaltung, der Energieversorger usw. vorlegen. Weitere Fragen zu stellen sei nicht sein Ding, so der junge Mann. Er habe das Geld im Voraus erhalten und dann seien er und sein Bruder, mit dem Bagger losgefahren. Das ganze Zeug transportiert eine Firma ab, die den Schutt für den Straßenausbau verarbeitet.

Witzig fand er noch, dass kurz zuvor die ganzen Kabel von einer Spezialfirma für Energierecycling mit einem Spezialwerkzeug praktisch in einem Zug aus der Wand gerissen wurden. So etwas habe er noch nie gesehen.

„Das ging ratzfatz“, erklärte er mit einer wegwerfenden Handbewegung. Er stieg in seinen Bagger und ließ die Abbruchbirne mit Schwung in die Giebelwand donnern.


Heute würde es laut werden und ich beschloss, den Tag im Büro zu verbringen. Am Abend jedenfalls war das ganze Haus dem Erdboden gleich gemacht. Für mich war die Sache damit erledigt.
Auch Paul signalisierte Zurückhaltung. Sein Institut hat auch kein Interesse bekundet, die Sache wäre ihnen zu heikel.
Einem Pressebericht zufolge hätten ausländische Geheimdienste von der Sache Kenntnis bekommen und Ermittlungen wegen Gefährdungen des Weltfriedens eingeleitet. Vermutlich Fake News, aber Mit CIA, MOSSAD usw. wollte das Institut nichts zu tun haben. Sie würden sich zukünftig lieber mit Jonas, der übrigens wieder eingetrudelt sei, beschäftigen. Völlig verändert sei der gewesen. Hätte sich komplett neu eingekleidet und eine Perücke getragen. Und total liebenswürdig sei er jetzt, hätte Paul dem Ferdi berichtet.

Was danach geschah

Ferdi und ich widmeten uns seit diesen Vorfällen dem einfachen Leben.
Wir genossen die Feierabende und das Rasenmähen überließ ich dem 14 jährigen Sohn von Lehrer Beck.
 

Auf dem Nachbargrundstück wurde inzwischen ein kleiner Stadtpark angelegt. Hin und wieder beobachtete ich eine einsame Amsel, die über den Garten segelte und mir vertraulich zublinzelte.
 

Für die Digitalisierung wurde ein neues Ministerium eingerichtet.

Paul ist nach Berlin gezogen und entwickelt in einem Start up Programme für Spielzeugroboter.
 

  1. 13.11. übertrug die Tagesschau einen Bericht der Pressekonferenz von der UNO- Tagung der aus New York.
    Die Pressesprecherin der deutschen Delegation, ein kantiger Typ mittleren Alters gab in perfektem Englisch und in kurzen markigen Sätzen, das Ergebnis der Tagung aus deutscher Sicht bekannt.
    Es war nur eine kurze Einblendung, da der Beitrag offensichtlich nicht Thema der Übertragung war. Der Ton schwankte, klang verzerrt und war inhaltlich nur schwer zu verstehen, zumal eine Übersetzung nicht eingeblendet wurde. Es schien, als habe die Regie die Frau nur zufällig ins Bild gesetzt.

Irgendwann brach der Ton ganz zusammen und die Frau ging mit ungelenken Bewegungen vom Podium.

„In meinen Schläfen pulsierte das Blut. War das nicht die Stanislawski?“, fragte ich Ferdi.

Weiß wie die Wand stöberte er aufgeregt im Internet und fand schnell den passenden Artikel einer Boulevard-Zeitung:
„Emilia de Borgio ist die Pressesprecherin der deutschen Delegation. Sie hat Margit Sauer abgelöst, die vorige Woche aus mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist. Eine umstrittene Persönlichkeit. Ursprünglich ein Mann, der sich zu einer Frau umwandeln ließ. Man munkelt, damit sie als Quotenfrau in das Amt berufen werden konnte.“

 

Ende

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.04.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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