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"Meine Seele träumt oft von anderen Welten, die einmal genau so wahr waren, wie die derzeitige Wirklichkeit."
Heinz-Walter Hoetter
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„Miss Flint, ich möchte Sie nur ungern stören, aber kommen Sie doch bitte einmal ganz schnell zu mir herüber.“
Die junge Sekretärin stutzte kurz, ließ die angefangene Arbeit liegen und starrte auf das blinkende Licht der kleinen Sprechanlage. Die plärrende Stimme war nicht von ihrem Chef Mr. Kelvin Stone gekommen, sondern von dessen jüngerem Bruder Michael Stone, der als Notar die große Anwaltskanzlei mit ihm teilte.
Am gegenüberliegenden Schreibtisch saß Rose Brake und sah mit skeptischem Blick zu ihre Freundin Elli rüber.
„Was will denn der kleine Dicke von dir?“ fragte sie spöttisch.
„Wenn ich das nur wüsste. Ausgerechnet jetzt, fünf Minuten vor Feierabend, ruft er nach mir. Mal sehen, was er diesmal von mir schon wieder möchte“, sagte Miss Elli Flint missmutig und warf ein zerknülltes Blatt Papier wütend in den Papierkorb.
Mr. Michael Stone war um die fünfundfünfzig Jahre alt und ein ziemlich korpulenter Mann.
„Komisch“, räusperte sich Rose Blake wieder, „Eigentlich ist es nicht üblich, dass er von seinem Bruder Arbeitskräfte anfordert“, fuhr sie fort und zog die Augenbrauen dabei hoch.
„Tja, ich weiß es auch nicht. Vielleicht will er heute noch mit mir zum Essen gehen“, sagte die junge Frau mit gekünstelter Verlegenheit und schaltete den Computer aus. Ihr Ärger hatte sich wieder gelegt. „Aber seine Stimme hat irgendwie seltsam geklungen. Nicht so wie sonst“, sagte sie und blickte ihre Freundin Rose dabei etwas nachdenklich an.
Die verzog ihr Gesicht zu einer fies aussehenden Grimasse.
„Bei dem dicken Schwerenöter ist alles möglich. Lass’ dich bloß nicht von ihm breit treten! Sag’ ihm einfach, du hättest heute keine Zeit und müsstest noch nach der Arbeit deiner kranken Mutter dringend einen Besuch abstatten.“
„Noch hat er ja nichts zu mir gesagt. Ich geh’ jetzt erst mal rein zu ihm und mach mich mal schlau, was er von mir will“, sagte die hübsche Sekretärin mit den langen blonden Haaren schnippisch, erhob sich, strich ihre Kleider glatt und ging langsam auf das Büro von Mr. Michael Stone zu.
„...und ich mach’ mich schon mal auf den Nachhauseweg“, rief Rose ihr noch nach, „wer weiß, wie lange das bei dir heute noch dauern wird. Also tschüss meine Gute! Wir sehen uns dann vielleicht später...“
Die beiden jungen Frauen bewohnten eine gemeinsame Wohnung ganz in der Nähe der Kanzlei.
Miss Elli Flint ging mit gemischten Gefühlen auf das schicke Büro des Notars zu. Sie klopfte behutsam an die Tür, die sich kurz darauf summend öffnete.
„Da sind Sie ja endlich, Miss Flint. Ich habe schon auf Sie gewartet. Kommen Sie herein!“
Michael Stone saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch in einem schwarzen Lederstuhl und legte gerade eine schmale Akte auf seinen Schreibtisch zurück. Er wirkte wie ein dicker Buddha auf die junge Sekretärin, die jetzt brav mitten im Büro stehen geblieben war und darauf wartete, was Mr. Stone ihr zu sagen hatte.
Die kleinen, verschmitzten Augen des korpulenten Notars schienen über ihre ganze Figur zu wandern. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen massigen Körper, als hätte ihn jemand mit einer Stecknadel in den Allerwertesten gestochen.
„Äh..., entschuldigen Sie, Miss Flint, aber nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er auf einmal mit überaus freundlicher Stimme und wies mit seiner rechten Hand auf den Stuhl ihm gegenüber. Nachdem sich die junge Sekretärin gesetzt hatte, nahm der Notar ein großes weißes Kuvert aus der schmalen Akte, öffnete den Umschlag vorsichtig mit einem verchromten Brieföffner und faltete das herausgenommene Blatt Papier umständlich auseinander. Es dauerte eine Weile, bis er es durchgelesen hatte.
Dann platzte es ohne Vorwarnung aus ihm heraus.
„Ihr Onkel ist vor etwa zwei Wochen gestorben, Miss Flint. Mein Bruder hat mich gebeten, Ihnen diese traurige Nachricht zu überbringen.“
Die junge Sekretären schüttelte mit dem Kopf.
„Hier muss ein Irrtum vorliegen, Mr. Stone. Ich habe doch gar keinen Onkel“, sagte sie verwundert.
Der Notar setzte eine überraschte Mine auf und lächelte leicht gequält.
„Nun ja, hier in diesem Schreiben vom Nachlassgericht steht, dass ihr Vater noch einen Bruder hatte. Wussten Sie das denn nicht?“
„Mein Vater ist schon lange tot. Er starb, als ich noch ein Kind war und Mutter hat mir nie etwas davon erzählt, dass er noch einen Bruder hatte.“
„Wie auch immer, Miss Flint, die Sache verhält sich jedenfalls so, dass der Kontakt zwischen den beiden Brüdern, also Ihrem Vater Steven Flint und seinem Bruder Lionel Flint, bereits sehr früh abbrach, genau genommen nach der Hochzeit Ihrer Mutter mit Ihrem Vater. Es muss zwischen den beiden Brüdern damals einen schrecklichen Streit gegeben haben. Anscheinend liebten sie die gleiche Frau, nur das Lionel dabei den Kürzeren zog. Es kam schließlich zum endgültigen Bruch zwischen ihnen, als Sie geboren wurden. Sie können sich denken, dass es damals einige böse Gerüchte gab, die kurz nach Ihrer Geburt in Umlauf waren, was die Vaterschaft anbelangte. Nun, als Notar möchte ich mich nicht näher mit der Vergangenheit Ihrer Familie beschäftigen, sondern Ihnen nur pflichtgemäß mitteilen, dass Ihr Onkel Lionel Flint, bevor er starb, Sie als Universalerbin eingesetzt hat.“
„Ich wurde von meinem Onkel als Universalerbin eingesetzt?“ fragte die junge Frau fassungslos und schüttelte ungläubig den Kopf.
„Tja, liebe Miss Flint, so ist es. Eine ziemlich große Überraschung für Sie, nicht wahr? Aber das Dokument hier in meiner Hand lügt nicht. Wir haben zwar viel mit Erbschaftsangelegenheiten zu tun, aber es ist das erste Mal, dass eine Angestellte unserer Anwaltspraxis selbst die glückliche Erbin ist. Ich kann Sie nur noch herzlich dazu beglückwünschen.“
Die junge Frau wollte ihr Glück nicht wahrhaben. Nervös strich sie sich mehrmals hintereinander durch die langen blonden Haare und konnte sich nur schwer zusammenreißen.
„Was habe ich denn geerbt“, fragte Elli Flint erwartungsvoll den Notar, der sich im Moment intensiv mit den Unterlagen beschäftigte.
„Wie bitte? Ach ja, ich habe hier ein Foto vom Anwesen Ihres verstorbenen Onkels. Dazu gehört noch ein ziemlich umfangreicher Grundbesitz und ein beträchtliches Barvermögen, etwa zwei Millionen Pfund, über das Sie ab sofort verfügen können, sobald Sie die Dokumente in meinem Beisein unterzeichnet haben, Miss Flint“, antwortete Mr. Stone lächelnd.
Der jungen Frau wurde fast schwindlig bei dieser Summe. Dann blickte sie interessiert auf das große Foto. Es zeigte ein sehr großes, vornehm aussehendes Wohnhaus, das mit viel Efeu dicht bewachsen war. Im Hintergrund konnte man einige langgestreckte Gebäude erkennen, die mehr wie eine Fabrik aussahen. Ganz rechts im Bild waren mehrere Schornsteine zu erkennen.
„Was sind das für Gebäude, Mr. Stone?“
„Das wollte ich Ihnen gerade erklären, Miss Flint. Die Gebäude im Hintergrund waren einmal eine große Brauerei. Leider stehen sie schon lange leer. Das Wohnhaus im Vordergrund war einmal ein dazugehöriges Gasthaus. Ihr Onkel hat es vor vielen Jahren umbauen lassen und wohnte bis zu seinem Tod selbst darin. Dann gibt es da noch eine gewisse Mrs. Weedman mit ihrem Sohn Mark. Den beiden hat ihr Onkel Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt. Ferner gibt es noch ein Dienstmädchen namens Betty Mills. Ein blutjunges Ding aus dem nächsten Ort. Sie müssen natürlich selbst entscheiden, ob sie das Personal behalten wollen oder nicht.“
„Puh, Dienstpersonal. Ich kann es einfach nicht glauben“, stöhnte die junge Neuerbin und rollte mit den Augen.
Der Notar lachte plötzlich laut los. Dann erklärte er ihr noch einige Dinge und riet ihr dann, bei seinem Bruder um Urlaub nachzusuchen, damit sie ihr Erbe sobald wie möglich in Augenschein nehmen konnte. Andererseits würde sie natürlich auch kündigen können, was bei dem Vermögen jederzeit möglich ist und Geldprobleme jetzt bei ihr wohl keine Rolle mehr spielen würden.
„Von dem Geld können Sie sich jetzt eine schöne Menge leisten, auch ein ganzes Spukschloss inklusive Poltergeist, der seinen Kopf unterm Arm trägt und in der Nacht mit seinem Geheule die Leute aus dem Schlaf reißt“, lachte Mr. Stone schallend.
Die junge Frau lachte mit. Sie war auf einmal wie ausgewechselt und dachte nur noch daran, so schnell wie möglich ihr Erbe anzutreten. Dann verabschiedete sie sich von Mr. Stone, nachdem er ihr eine größere Summe Bargeld ausgehändigt hatte, mit dem Hinweis darauf, dass das restliche Barvermögen sicher auf einem Geheimkonto einer bekannten Bank liegen würde. Er übergab ihr noch einen versiegelten Umschlag mit allen notwendigen Zugangsdaten für das Konto und ein paar andere wichtige Unterlagen diverser Versicherungspapiere ihres verstorbenen Onkels, um die sie sich noch kümmern müsste. Danach verließ Miss Elli Flint das Büro des Notars und machte sich auf den Weg nach Hause.
Draußen war mittlerweile die Nacht hereingebrochen. Wie eine Schlafwandlerin ging die junge Frau durch die hell erleuchteten Straßen. Hin und wieder blieb sie stehen, sah sich verstohlen um, griff nach dem gebündelten Geld in der Tasche und tastete es ab, um sich zu vergewissern, dass alles kein Traum war. Nein, die Erbschaft ihres unbekannten Onkels war Realität. Sie ließ die Geldbündel wieder los, zog den Reißverschluss der Tasche zu und während sie langsam weiterging, ließ sie sich dabei noch einmal alles durch den Kopf gehen. In Gedanken malte sie sich die Zukunft in den schillerndsten Farben aus. Außerdem dachte sie darüber nach, wann sie das geerbte Anwesen ihres verstorbenen Onkels besuchen sollte. Sie wollte es auf jeden Fall so schnell wie möglich kennen lernen. Das galt auch fürs Personal.
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Für die Fahrt von Alloa nach Blairhall hatte sich Miss Elli Flint keinen schönen Tag ausgesucht. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete etwas. Die ganze Landschaft vor ihr war in dichten Nebel gehüllt. Schon jetzt bedauerte es die junge Frau, die Reise so schnell angetreten zu haben und dass sie von der Gegend, durch die sie noch nie gefahren war, überhaupt nicht zu sehen bekam. Alle war grau in grau, nur die kurvenreiche Straße, mit ihrer nass glänzenden Fahrbahndecke, hob sich etwas dunkler hervor.
Der Nebel wurde noch dichter. Die junge Frau schaltete das Scheinwerferlicht ein und starrte angestrengt durch die Frontscheibe ihres Aston Martins. Sie fuhr durch Ortschaften, die wie ausgestorben dalagen und in deren düster aussehenden Häusern kein einziges menschliches Wesen zu leben schien. Elli Flint wäre am liebsten in einem Gasthof abgestiegen, um dort die kommende Nacht zu verbringen. Aber weit und breit entdeckte sie keinen.
Die regennasse Straße, auf der sie fuhr, war eng und schmal. Der Straßenkarte nach konnte es keine Bundesstraße sein und Elli Flint wunderte sich darüber, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Bei der nächsten Gelegenheit fuhr sie rechts an den Straßenrand, holte die Straßenkarte aus dem Handschuhfach, faltete sie umständlich auseinander und suchte nach der angegebenen Landstraße. Leider musste sie sehr schnell feststellen, dass sie mit der Karte nichts anfangen konnte, weil sie überhaupt nicht wusste, wo sie sich befand. Sie ärgerte sich darüber, ließ die Karte geöffnet auf dem Beifahrersitz liegen und fuhr mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend weiter. Sie konnte nur hoffen, dass die eingeschlagene Richtung stimmte.
Ganz plötzlich tauchte im Nebel eine Straßengabelung auf. Aber es waren keine Wegweiser zu erkennen, die auf die nächste Ortschaft hingedeutet hätten. Zu dicht war die Waschküche.
Die junge Frau trat auf die Bremse und blieb mitten auf der Straße mit ihrem Aston Martin stehen. Was nun? Sollte sie nun rechts oder links abbiegen? Keine der beiden abzweigenden Straßen sahen verlockend aus. Schlimmer noch. Unter den vorbeiziehenden Nebelschwaden konnte Elli Flint riesige Schlaglöcher erkennen, was ihre Entscheidung, irgendeine Richtung einzuschlagen, noch zusätzlich erschwerte.
Mit zweifelndem Blick starrte sie unschlüssig in den dichten Nebel, als hoffte sie darauf, in den gespenstisch aussehenden Dampfschwaden eine geheimnisvolle Botschaft zu lesen, die ihr die Richtung vorgab. Schließlich warf sie noch einmal einen Blick auf die Straßenkarte. Doch nirgendwo konnte sie im ganzen Umkreis eine Straße erkennen, die eine V-förmige Abzweigung besaß.
Trotz des laufenden Motors und eingeschalteter Heizung kroch eine unangenehme Kälte in Elli Flint hoch. Schlagartig wurde ihr zudem bewusst, dass sie mit ihrem Wagen mitten auf der Straße stand und verwundert feststellen musste, dass ihr schon seit längerer Zeit kein anderes Fahrzeug mehr entgegen gekommen war. In welcher gottverlassenen Gegend habe ich mich bloß verirrt, dachte sie ängstlich und setzte den Aston Martin vorsichtig wieder in Bewegung.
Dann, mit einem harten plötzlichen Ruck, lenkte sie ihren Wagen nach links in jenen Weg hinein, von dem sie glaubte, eher an ihr Ziel zu kommen. Es war eine Entscheidung der inneren Stimme, der sie spontan nachgegeben hatte. Doch schon bald wich ihre anfängliche Zuversicht einer steigenden Mutlosigkeit, weil der feste Asphaltbelag durch eine lockeren Schotterschicht ersetzt wurde. Steine schleuderten hoch und schlugen hart gegen den Wagenboden. Die junge Frau bremste den Wagen etwas ab und fragte sich ängstlich, ob sie doch lieber wieder umkehren sollte. Aber den ganzen einsamen Weg zurückfahren? Das kam für sie nicht in frage. Außerdem hätte sie mit ihrem schweren Aston Martin sowieso nirgendwo wenden können. Also fuhr sie einfach weiter.
Langsam schob sich der Mond über den nächtlichen Himmel. Er war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Nur kurz erhellte er mit seinem milchig weißen Schein die mit Nebelschwaden durchsetzte Landschaft, dann krochen wieder geisterhafte Wolkenfetzen über ihn hinweg.
Elli Flint starrte durch die trübe Frontscheibe, die mit feinen Wassertropfen überzogen war. Die junge Frau schaltete die Scheibenwischer ein und folgte den vorauseilenden Lichtfingern der sich zitternd in die Dunkelheit tastenden Scheinwerfer ihres dahin rauschenden Fahrzeuges.
Plötzlich nahm die junge Frau etwas gewahr.
Angestrengt blickte sie nach vorn und im nächsten Moment wurde ihr heiß und kalt bei dem, was sie nur schemenhaft erkennen konnte.
Es waren entweder die Reste eines alten Castells oder auch nur die eines eingefallenen Getreidesilos. Sie konnte es nicht eindeutig sagen. Das einzige, was sie wusste, war die Tatsache, dass sie schon einmal hier vorbeigekommen war, allerdings von der anderen Richtung her.
Elli Flint stöhnte, stoppte ihren Wagen und ließ das elektrische Fahrerfenster herunter, um besser sehen zu können.
„Das darf doch alles nicht wahr sein oder stelle ich mich nur so ungeschickt an“, kam es ihr halblaut über die Lippen, dann schloss sie das Fenster wieder und setzte die Fahrt langsam fort.
Plötzlich sah sie auf der rechten Seite mehrere Lichter durch das dichte Blätterwerk schimmern. Anscheinend gab es hier noch andere Gebäude ganz in der Nähe.
Aber anstatt erleichtert darüber zu sein, überkam der jungen Frau eine unerklärliche Angst. Schon wollte sie den Wagen beschleunigen, als sie einen steinigen Fahrweg bemerkte, der von der Schotterstraße abging und direkt zu den Lichtern hinüberführte.
Miss Elli Flint bremste den Aston Martin sofort hart ab und erblickte im gleichen Moment direkt gegenüber ein altes Holzschild am Wegrand mit der Aufschrift: Brauerei Lionel Flint.
Ich kann es einfach nicht glauben. Ich hab mein Ziel tatsächlich erreicht, dachte die junge Frau so für sich und fuhr langsam an der alten Holztafel vorbei in Richtung der Gebäude, durch deren Fenster Licht schimmerte. Doch merkwürdigerweise war sie gar nicht so froh darüber und am liebsten wäre sie wieder auf der Stelle umgekehrt. Dennoch setzte sie ihre Fahrt konsequent fort, obwohl das Haus, auf dem sie jetzt direkt zusteuerte, einen ziemlich düsteren Eindruck auf sie machte.
Sie parkte den Aston Martin im Hof, stieg aus und ging die Treppen zur Haustür hinauf. Dann drückte sie die Klingel, die sich gleich rechts daneben an der Wand befand und von Efeublättern überwachsen war.
Zweimal drückte sie auf den Knopf.
Gerade als sie ein drittes Mal drücken wollte, gab es einen ziemlichen dumpfen Schlag, der durch das ganze Wohnhaus hallte und im selben Augenblick erloschen die Lichter in den angrenzenden Nebengebäuden. Elli Flint erschrak etwas, fragte sich mit Befremden, was hier eigentlich los sei und was es mit dem dumpfen Geräusch auf sich hatte. Hatte Mr. Stone nicht gesagt, die Brauerei wäre nicht mehr in Betrieb?
„Hallo, ist jemand zu Hause?“ rief sie ungeduldig, als sie bereits zum vierten Mal auf den Klingelknopf gedrückt hatte.
„Ich bin Miss Elli Flint und komme wegen der Erbschaft. Ist hier denn niemand?“
Plötzlich hörte sie leise Schritte. Die junge Frau hatte den Eindruck, als stünde jemand hinter der schweren Tür. Fast glaubte sie, das Atmen eines Menschen zu hören. Sie trat noch näher heran und rief noch einmal.
Endlich öffnete sich die Tür und eine hagere alte Frau mit einem hässlichen, Falten überzogenen Krähengesicht erschien auf der Bildfläche. Sie stand da, mitten zwischen Tür und Angel und musterte Elli Flint mit Hass erfülltem Blick.
Die junge Frau wich ängstlich zurück.
„Guten Abend. Sie müssen Mrs. Weedman sein, nicht wahr? Ich heiße Elli Flint und bin die Nichte meines verstorbenen Onkel Lionel Flints. Ich bin gekommen, um mein Erbe anzutreten. Mr. Stone, der Notar, hat Sie sicher schon davon in Kenntnis gesetzt, Mrs. Weedman.“
„Sie sind Miss Flint? Das kann doch jeder behaupten“, stieß die ältere Frau hervor. „Sie sollen das hier alles geerbt haben? Das ich nicht lache!“ schrie die Alte krächzend und trat einen Schritt vor, sodass sie dicht vor der jungen Frau stand.
„Höre Sie mal gut zu, Sie junges, unerfahrenes Ding. Es gibt keine Erben, keine Erben außer uns. Verschwinden Sie lieber sofort von dem Grundstück, bevor ich die Hunde auf Sie loslasse.“
Mit diesen Worten schlug Mrs. Weedman die Haustür zu, schloss sie zweimal ab und schaltete das Hoflicht aus. Elli Flint stand im dunkeln.
Eine ohnmächtige Wut schüttelte sie. Was dachte sich diese Person eigentlich dabei, mich einfach von meinem eigenen Besitz zu jagen? Ausgesperrt im eigenen Haus? Und Hunde gab es hier offenbar auch keine. Sie hätten schon langst angeschlagen.
Sie klingelte noch ein paar Mal – aus Trotz, was aber nichts brachte. Vielmehr gingen im Wohnhaus überall die Lichter aus. Dann war es überall totenstill.
Schließlich ging Miss Flint zu ihrem Auto zurück, setzte sich hinters Lenkrad und dachte darüber nach, was sie in dieser absurden Situation tun sollte. Die Nacht gedachte sie jedenfalls hier zu verbringen, ganz gleich, was auch immer geschieht. Nach einer Weile startete sie den Motor ihres Wagens und verschwand in der schützenden Dunkelheit.
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Der leichte Regen hatte nachgelassen. Auch der Nebel verzog sich langsam und der bleiche Mond erschien über den hohen Wipfeln der Laubbäume. Er spendete gerade so viel Licht, wie Miss Flint für ihre nächtliche Entdeckungsreise benötigte. Trotzdem nahm sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und verstaute sie in ihrer ledernen Hängetasche. Den Aston Martin hatte sie im hinteren Teil des Hofes geparkt und war dann direkt hinüber zu den alten Brauereigebäuden gegangen. Jetzt stand sie vor einer der schweren Betriebstore, die mit wuchtigen Eisenriegeln und mehreren Schlössern gesichert waren. Alle Tore waren so verriegelt worden.
Merkwürdig, dachte sich die junge Frau, was mochte sich in dem verlassenen Brauereigebäude befinden, dass man die Eingänge so sorgfältig verschloss?
Ein schlürfendes Geräusch ließ sie plötzlich zusammenfahren. Ängstlich drückte sie sich in eine dunkle Nische. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass jemand ganz in der Nähe herumlief. Elli Flint lauschte atemlos in die Dunkelheit hinein.
Das Geräusch von schleichenden Schritten schien ganz deutlich vom Hof zu kommen, der vom Mondlicht nur vage erhellt wurde. Die junge Frau wusste nicht, ob sie schon entdeckt worden war, obwohl sie sich in der Mauernische ziemlich sicher fand. Außerdem schoben sich gerade wieder ein paar große Wolkenfetzen vor die helle Mondscheibe, die sein Licht verdüsterten.
Da.
Eine schattenhafte Gestalt schlich lautlos über den gepflasterten Hof.
Elli Flint hielt den Atem an.
Was hatte das zu bedeuten? Wer vom Personal würde sich so seltsam benehmen oder wurde sie gerade Zeugin eines Einbruchs?
Doch dann erkannte die junge Frau mit Entsetzen, dass die Gestalt zu ihrem Aston Martin hinüber huschte, der sich durch seine Form und seiner hellen Farbe deutlich vom Hintergrund abhob.
Auf gar keinen Fall konnte sie es zulassen, dass jemand versuchte, ihr Auto zu stehlen, sonst würde sie ohne Papiere und ohne einen Cent dastehen.
Dieser schreckliche Gedanke versetzte Miss Flint in helle Panik. Sie vergaß alle Vorsicht. Gerade in dem Moment, als die dunkle Gestalt im Begriff war, die Autotür zu öffnen, verließ sie ihr Versteck, rannte laut schreiend mit fuchtelnden Armen auf ihren Wagen zu und blieb erst dann wieder stehen, als sie ihn fast schon erreicht hatte.
Der Unbekannte drehte sich erschrocken um, hob sofort schützend beide Hände vors Gesicht und floh in dieser Haltung mit einem gurgelnden Laut in ein nah gelegenes Wäldchen, das gleich hinter dem Anwesen lag. Dann war er im Unterholz verschwunden.
Miss Flint setzte sich sofort hinters Lenkrad und verriegelt alle Türen von innen. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie wieder, während ihre Augen die düstere Fassade des Wohnhauses absuchte, das ihr jetzt nicht mehr so einladend aussah, wie auf dem Foto in der Anwaltskanzlei. Vielmehr wirkte es abweisend, feindselig und bedrohlich auf sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte, hier möglicherweise wohnen zu wollen, was sie sich wegen der seltsamen Ereignisse seit ihrer Ankunft jetzt sowieso nicht mehr vorstellen konnte.
Die junge Frau kam sich entsetzlich einsam und verlassen vor. Sie startete den Motor ihres Aston Martin und drehte die Heizung voll auf. Sie fror und zitterte am ganzen Körper und es dauerte eine Weile, bis das Heizgebläse den Innenraum ihres Fahrzeuges mit einer wohligen Wärme ausgefüllt hatte. Außerdem war sie hungrig und müde und sehnte sich nach einem behaglichen Zimmer mit einem bequemen Bett.
Sie dachte an all die unerfreulichen Dinge, die ihr bisher widerfahren waren. Offenbar war sie nicht willkommen gewesen und nachdem man festgestellt hatte, dass sie sich immer noch auf dem Gelände der Brauerei befand, wollte man sie wohl auf andere Art und Weise beseitigen. Trachtete man ihr sogar nach dem Leben? Diese Gefahr spürte Elli Flint wie ihre eigene Haut. Angst stieg in ihr hoch. Was aber sollte sie tun? Die Flucht ergreifen und wieder wegfahren? Sie würde sich in dieser Gegen sowieso nur hoffnungslos verirren. Es machte also keinen Sinn, da draußen in der Nacht herumzufahren. Lieber wollte sie den Morgen abwarten und dann noch einmal versuchen, ins Haus zu gelangen und die alte Mrs. Weedman davon zu überzeugen, dass sie die rechtmäßige Erbin war und ein Anspruch darauf hatte, das Erbe mitsamt den Liegenschaften auch in Augenschein nehmen zu dürfen. Vielleicht sollte ich sogar die Polizei einschalten oder sich umgehend mit Mr. Michael Stone in Verbindung setzen, damit die gesamte Angelegenheit vor Ort ein für allemal geklärt werden konnte, dachte die junge Frau.
Aber vielleicht war Mrs. Weedman allen nächtlichen Besuchern gegenüber misstrauisch. Dagegen sprachen jedoch ihre Worte, dass es keine Erben gebe, außer ihr? Dass ihr Onkel Lionel Flint allein nur ihr die alte Brauerei samt Barvermögen vererbte hatte, musste sie doch längst von Mr. Stone erfahren haben. Sie wurde bestimmt rechtzeitig darüber informiert.
Im Wageninnern wurde die Luft jetzt unerträglich warm. Miss Elli Flint kurbelte das Seitenfenster herunter. Der Regen hatte ganz aufgehört und hier und da zwitscherten schon ein paar Vögel. Der Morgen kündigte sich an.
Um diese Zeit war es draußen empfindlich kühl. Trotzdem entschloss sich Miss Flint dazu, den Wagen zu verlassen um sich ein wenig ganz in seiner Nähe die Beine zu vertreten. Als sie zu dem Anwesen hinübersah, dachte sie bedrückt daran, dass ihr die Erbschaft bisher kein Glück gebracht hatte. Sie empfand keinerlei Freude darüber.
Die Brauereigebäude lagen direkt vor ihr. Sie waren nicht weit entfernt und deshalb entschloss sie sich dazu, noch einmal hinüber zu gehen. Es waren hässliche Bauten aus roten Backsteinen und mit hohen, vergitterten Fenstern. Dichtes Unkraut wucherte überall wohin man sah. Elli Flint ging an den großen, verriegelten Toren vorbei, doch dann blieb sie unvermittelt stehen, als wäre ihr eben etwas aufgefallen, was sie in der Dunkelheit der Nacht übersehen hatte.
Tatsächlich entdeckte sie breite Reifenspuren auf dem lehmigen Boden, den es nur zwischen dem gepflasterten Hof und dem Tor gab. Die Spuren schienen von einem größeren Transporter zu stammen – und dieses Fahrzeug musste durch das Tor gefahren sein.
Die Nerven der jungen Frau waren auf einmal angespannt, wie die Sehne eines Bogens, als sie neugierig weiterging. Sie hatte offenbar einen schmalen Pfad entdeckt, der hinter dem Unkrautgestrüpp an der Backsteinwand entlang führte. In der Nacht war ihr das nicht aufgefallen. Außerdem sah es so aus, als würde dieser versteckte Weg öfters benutzt. Elli Flint wunderte sich darüber, hatte es doch geheißen, dass die Brauerei schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb sei.
Nach etwa zehn Meter kam sie an ein weiteres Tor, das wesentlich kleiner und weder mit Eisenriegel noch mit Schlösser gesichert war. Seltsamerweise waren auch keine Griffe vorhanden. Wahrscheinlich konnte man es nur mit einem Schlüssel öffnen oder zusperren.
In der Ferne zeigte sich mittlerweile das erste Morgenrot über den bewaldeten Hügeln. Schnell wurde es heller. Die Aufmerksamkeit der jungen Frau galt jetzt nicht mehr nur den Gebäuden der Brauerei, sondern auch dem alten Wohnhaus, das früher einmal ein Wirtshaus gewesen war. Das kupferfarbene Schild hing immer noch über dem Eingang.
Sind ging zu dem Wohnhaus hinüber, marschierte bis zum Ende der Efeu berankten Wände und stand bald vor einem total verwilderten Garten. Weiter hinten endeten auch die Brauereigebäude. Anscheinend hörte hier das Grundstück auf. Neugierig durchquerte sie den Garten, bis sie auf der anderen Seite eine kleine Tür entdeckte, die zwar offen stand, aber von Unkraut aller Art völlig überwuchert war. Dahinter gab es nur noch dichtes Brombeergestrüpp. Hier gab es also kein Weiterkommen. Also wandte sich Elli Flint ab, verließ den Garten und ging außen am Zaun entlang, bis sie plötzlich abermals auf einen kleinen Weg stieß, der offenbar zur asphaltierten Straße runter führte. Ohne lange zu zögern ging sie durch ein kleines Wäldchen, das von grünen Wiesen und bestellten Äckern abgelöst wurde, bis sie auf einmal vor der Straße stand, auf der sie gekommen war. Selbst den Schotterweg konnte sie von hier aus sehen, der schnurgerade auf das Gelände der Brauerei zuführte. Bei Tageslicht sah alles viel überschaubarer aus, als in der Nacht.
Nicht weit von ihrem Standort entfernt kam ein LKW die Straße hoch, der gerade von einem tuckernden Motorrad überholt wurde. Es konnte sich also nur um die Hauptstraße handeln. Auch die Kreuzung war nicht weit entfernt. Elli Flint schlug den Weg dorthin ein und als sie dort ankam, las sie auf einem Straßenschild, dass es rechts nach Alloa ging. Das war die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie war in der Nacht links abgebogen und hatte nur durch Zufall die Brauerei ihres Onkels gefunden.
Eilig ging Miss Flint den Weg zurück und strebte ihrem Auto zu, das immer noch hinten im Hof der Brauerei stand. Schnell öffnete sie die Fahrertür, setzt sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Die Sonne schien bereits, als sie den Hof mit quietschenden Reifen verließ und auf der gut ausgebauten Straße zurück nach Alloa fuhr. Ihre gute Laune kehrte zurück und gleichzeitig spürte sie ihren leeren Magen, der sich mit einem kneifenden Hungergefühl zurückmeldete.
Nach wenigen Meilen entdeckte sie eine Raststätte in unmittelbarer Nähe der Straße, die schon geöffnet hatte. Miss Flint steuerte ihren Aston Martin auf den Parkplatz des Rasthofes und betrat wenige Minuten später eine düster aussehende Gaststube, in der es nach abgestandenem Zigarettenrauch und schal gewordenem Bier roch.
An fensterseitigen Tischen saßen einige Männer und unterhielten sich angeregt. Als die junge hübsche Frau mit den langen blonden Haaren zur Tür hereinkam hoben sie nacheinander die Köpfe, lachten und machten zweideutige Bemerkungen. Besonders ein Kerl mit schwarzen Haaren tat sich mit anzüglichen Sprüchen hervor. Elli Flint beachtete ihn nicht.
Eine übergewichtige Wirtin trat zu ihr und musterte sie neugierig von oben bis unten. Wahrscheinlich war es nicht alltäglich, dass eine derart hübsche Person wie sie ohne Begleitung diese herunter
gekommene Gaststätte aufsuchte. Elli Flint war das egal. Sie bestellte Kaffee und einen Schinkentoast bei ihr.
„Sie kommen nicht aus dieser Gegend?“ fragte die Wirtin, die gleichzeitig auch Kellnerin war und musterte die junge Frau abermals von oben bis unten. So eine gute Figur hätte sie auch gerne, verriet ihr neidischer Blick.
„Ich bin auf dem Weg zum Anwesen der Flints“, erklärte sie bereitwillig, vermied dabei aber absichtlich, dass sie schon einmal dort gewesen war und die Nacht in ihrem Auto auf dem Hof der Brauerei verbracht hatte.
Die Wirtin der Gaststätte machte auf einmal große Augen und setzte sich unaufgefordert an den Tisch. Mit einer lässigen Handbewegung wies sie einen älteren Mann hinter der Theke an, ihr ebenfalls etwas zu trinken zu bringen.
„Sie wollen zur Familie Flint?“ wiederholte die Dicke mit einem Ausdruck im Gesicht, als hätte die junge Frau einen Flug zum Mond gebucht.
„Was wollen Sie denn ausgerechnet dort? Gehören sie vielleicht zur Familie des alten Lionel Flints, dem ehemaligen Brauereibesitzer? Hat der nicht das Zeitliche gesegnet?“
„Lionel Flint war mein Onkel. Ich wusste nicht, dass mein Vater noch einen Bruder hatte. Erst durch meinen Notar erfuhr ich dann die ganze Wahrheit und dass ich die einzige Erbin bin.“
„Die alte Mann brachte der Wirtin eine Tasse Kaffee und stellte sie auf den Tisch. Argwöhnisch schaute er Miss Flint an, drehte sich demonstrativ um und trottete zurück hinter die Theke. Von dort aus beobachtete er sie weiter.
„Kennen Sie die Leute, die dort oben auf dem Gelände der Brauerei wohnen?“ fragte sie die korpulente Frau mit zurückhaltender Stimme. Sie wollte nicht, dass die übrigen Gäste etwas mitbekamen.
Die stellte sich erst einmal vor.
„Ich heiße Sonja Lux und betreibe dieses schäbige Lokal hier. In der ganzen Gegend gibt es für Leute wie mich weit und breit keine ordentliche Arbeit, die gut bezahlt wird. Also habe ich dieses Gasthaus aufgemacht. Von den Einnahmen kann meine Familie und ich gerade mal so leben.“
Sie machte eine kleine Pause und sprach dann sofort weiter.
„Nein“, antwortete sie, „die Leute selbst kenne ich so gut wie überhaupt nicht, aber es heißt, dass es in der alten Brauerei nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.“
„Spukt es dort vielleicht? Meinten Sie das? – Ach, bevor ich’s vergesse..., ich heiße Elli Flint und komme aus der Gegend um Alloa.“
„Das Sie eine von den Flints sind, dachte ich mir schon. Aber was soll’s. Sie wollten wissen ob es dort spukt? Nein, das ist es nicht.“
Die junge Frau sah die Wirtin an und hatte plötzlich den komischen Eindruck, einen Anflug von Furcht in den wasserblauen Augen zu erkennen.
„Was ist es dann? Sie können es mir ruhig sagen. Ich bin auf alles gefasst“, sagte Miss Flint mit ernstem Gesichtsausdruck.
„Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Aber irgend etwas stimmt dort nicht. Und auch mit dem Tod Ihres Onkels soll angeblich etwas nicht in Ordnung gewesen sein“, antwortete die korpulente Frau.
„Laut dem ärztlichen Befund soll er an einem Herzversagen gestorben sein“, meinte Elli Flint leise, „das ist bei älteren Leuten nicht Ungewöhnliches und kommt häufiger vor, als man annimmt.“
Sonja Lux nahm jetzt einen kräftigen Schluck Kaffee aus der breiten Tasse, stand plötzlich auf und während sie den Tisch abräumte sagte sie flüsternd zu der jungen Frau: „Mir lag nichts daran, Sie zu erschrecken. Aber Sie sollten sich Ihr Erbe genau ansehen. Vielleicht kommen Sie ja dann hinter das Geheimnis der alten Brauerei.“
Dann verabschiedete sie sich von ihrer Gesprächspartnerin und verschwand hinten in der Küche des Gasthofes.
Die junge Frau war wie gelähmt. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Die Gäste des Lokals schauten sie auf einmal misstrauisch an. Was hatten sie von dem Gespräch zwischen der Wirtin und ihr mitbekommen?
Miss Flint beschlich plötzlich das mulmige Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben, dass sie über die alte Brauerei ihres Onkels geredet und den Namen Flint dabei erwähnt hatte.
Als sie wieder vor ihrem Aston Martin stand, atmete sie erst einmal tief durch. Dann fuhr sie langsam durch die wenigen Straßen der nah gelegenen Ortschaft Blairhall. Die ganze Gegend hier behagte ihr nicht und obwohl die Sonne schien, wirkte sie trostlos und düster.
Hier soll ich wohnen? Niemals! Lieber verkaufe ich das gesamte Anwesen samt Wohnhaus und den umliegenden Ländereien. Ich pfeife darauf!
Bei diesem Gedanken wurde ihr wieder etwas wohler.
***
Unten in der Ortschaft Blairhall suchte Elli Flint nach einem Telefon und fand es schließlich in einem kleinen Café. Den Aston Martin hatte sie an der Hauptstraße, die direkt durch den Ort führte, stehen lassen. Ein hübsches Mädchen, das adrett gekleidet war, servierte.
„Sind Sie zu Besuch hier?“ fragte das junge Mädchen freundlich und nannte auch gleich ihren Namen, der Stella hieß und dass sie die gute Seele des Cafés sei.
Weil niemand sonst im Café saß, erzählte Miss Elli Flint von ihrer Erbschaft und das ihr jetzt die alte Brauerei ihres verstorbenen Onkels Lionel Flint gehöre.
Würde die Serviererin das gleiche sagen, wie die klatschsüchtige Kellnerin aus der Raststätte?
Aber das junge Mädchen war wesentlich zurückhaltender als sie dachte. Als sie jedoch davon sprach, dass ihre Schwester Betty Mills in dem herrschaftlichen Wohnhaus als Dienstmädchen arbeitete, hätte sie fast einen Schrei losgelassen. Aber sie riss sich zusammen.
„Was? Betty ist Ihre Schwester? Das ist aber eine Überraschung“, sagte sie zu dem Mädchen. „Leider habe ich sie noch nicht kennen gelernt. Aber ich werde heute noch dort hinfahren.“
Über das schöne Gesicht des jungen Mädchens flog ein Schatten.
„Wissen Sie Miss Flint, meine Schwester Betty hat es nicht leicht bei der alten Mrs. Weedman. Sie wäre schon längst von dort weggegangen, wenn man sie nicht darum gebeten hätte, auf die Ankunft der neuen Besitzerin zu warten. Ich glaube, Betty wird sie mögen und sich darüber freuen, wenn Sie erfährt, dass Sie es sind, die alles geerbt hat.“
Nachdem Miss Flint ihren Kaffee ausgetrunken und die Rechnung bezahlt hatte, fragte sie nach dem Telefon.
„Sie können hier völlig ungestört reden, Miss Flint“, sagte die junge Serviererin und deutete auf das Telefon rechts neben dem Ausgang des Cafés.
Die Verbindung nach Alloa war schnell hergestellt. Mr. Michael Stone, der Notar, war selbst am Apparat.
„Na, wie gefällt Ihnen die Erbschaft, Miss Flint?“ wollte er sofort wissen.
„Überhaupt nicht“, stieß die junge Frau gepresst hervor. „Ich will das ganze Anwesen so schnell wie möglich loswerden. Geben Sie mir die Adresse von einem Immobilienmakler, damit ich alles in die Wege leiten kann.“
„Aber, aber, meine liebe Miss Flint, wie können Sie das jetzt schon sagen. Sie sind doch sicherlich erst gestern Abend angekommen.“
„Das hat mir auch gereicht. Ich habe mich irrsinnig verfahren, und als ich endlich da war, hat man mich nicht einmal in mein eigenes Haus gelassen. Dann wollte man mir den Wagen stehlen und mich anscheinend darin hindern, den Ort wieder zu verlassen. Ich werde die alte Mrs. Weedman zur Rede stellen, was sie sich dabei gedacht hat.“
„Das ist nun wirklich allerhand, Miss Flint“, meinte der Notar empört, „das brauchen Sie sich selbstverständlich nicht gefallen zu lassen. Ich werde Mrs. Weedman umgehend anrufen und mit ihr hart ins Gericht gehen. Unglaublich, was sich die alte Frau mit Ihnen erlaubt hat. Was bildet sich diese Person nur ein?“
„Ich werde sie hinauswerfen, noch bevor ich alles zum Verkauf anbiete“, sagte die junge Frau erbost. Diese Person möchte ich dort nicht mehr sehen.“
„Das können Sie aber nicht, Miss Flint. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Ihr Onkel Mrs. Weedman und ihrem Sohn Mark dort Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt hat. Sie können die beiden höchsten aus Ihren Diensten entlassen, aber dann müssten Sie ihnen eine neue Unterkunft besorgen und die Kosten dafür selbst tragen. Sie wissen doch selbst, dass man alte Bäume nur sehr schlecht verpflanzen kann. Sie sterben vorher. Wollen Sie das, Miss Flint?“
Die junge Frau seufzte hörbar und bedankte sich bei Mr. Stone für die guten Ratschläge. Dann legte sie den Hörer wieder auf die Gabel.
Natürlich war ihr jetzt klar, dass sie nicht einfach davonlaufen konnte. Sie musste auf jeden Fall ihr Erbe in Augenschein nehmen. Das war das einzige in dieser Situation, was sich machen konnte.
Also setzte sie sich wieder ins Auto und fuhr aus dem Ort hinaus und nahm die Abzweigung in Richtung des Anwesens ihre verstorbenen Onkels. Diesmal würde sie sich nicht die Tür vor der Nase zuschlagen lassen. Das schwor sie sich eisern. Schon bald stand sie wieder mit ihrem Aston Martin auf dem Hof und stieg die Treppen zur Tür hinauf.
„Mrs. Weedman!“ rief sie erbost mit lauter Stimme, „machen Sie sofort die Tür auf oder ich lasse die Polizei kommen.“
Immer wieder drückte sie auf die Klingel.
Drinnen rührte sich plötzlich was. Schritte näherten sich, und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.
Miss Elli Flint sah sich einem Mann gegenüber, der das gleiche hässliche Gesicht hatte wie Mrs. Weedman. Seine Augen, die nervös hin und her zuckten, standen viel zu eng zusammen. Noch nie in ihrem ganzen Leben war der hübschen jungen Frau ein derart unsympathischer Mann begegnet.
„Aber, aber, wer wird denn gleich nach der Polizei rufen? Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich bin Miss Flint, die Nichte von Lionel Flint, meinem verstorbenen Onkel. Reicht Ihnen das jetzt, Mr. Mark Weedman?“ donnerte sie mit bebender Stimme.
„Nun mal langsam, meine schöne Dame. Ich verstehe ja, dass Sie aufgeregt darüber sind, dass meine Mutter Sie heute Nacht nicht ins Haus ließ. In dieser abgelegenen Gegend treibt sich allerlei Gesindel herum. Wir müssen immer sehr vorsichtig sein.“
„Ich habe für das unglaubliche Benehmen Ihrer Mutter nicht das geringste Verständnis. Mr. Stone hat Ihnen meine Ankunft doch rechtzeitig mitgeteilt und auch meinen Namen genannt.“
Der große hagere Mann zuckte gelangweilt die Schulter und schlenderte an ihr vorbei, als wäre nichts gewesen.
„Ich habe noch einiges zu erledigen, Miss Flint. Gehen Sie nur rein. Es ist ja jetzt Ihr Haus. Wenn Sie mich dringend brauchen, können Sie das Dienstmädchen nach mir schicken. Die weiß, wo ich zu finden bin“, sagte Mark Weedman spöttisch und verschwand in einem der Brauereigebäude.
Kopfschüttelnd ging Miss Flint ins Haus. Zu ihrer großen Überraschung stand sie in einer wunderschön ausgestatteten Halle mit geschnitzten Eichenmöbeln und prächtigen Perserteppichen. Auf einem langen Bord standen historische Trinkgefäße. Im Hintergrund führte ein breite, blankgeputzte Holztreppe nach oben. Von der Halle gingen mehrere Türen ab. Eine davon öffnete sich jetzt und ein hübsches Mädchen in adretter Dienstkleidung erschien.
„Herzlich willkommen im Haus der Familie Flint. Sie müssen Miss Elli Flint sein. Ich bin Betty, das Hausmädchen“, sagte sie lächelnd.
Die junge Erbin fand Betty auf Anhieb sympathisch und reichte ihr spontan die Hand.
„Betty, würden Sie bitte so nett sein und mir das Haus zeigen?“ bat sie dann, „ich möchte mir ein Zimmer aussuchen und anschließend ein Bad nehmen.“
„Aber gewiss doch, Miss Flint. Nur hat Mrs. Weedman..., ich meine...“
Das Mädchen brach mitten im Satz ab und blickte die junge Frau hilflos an.
„Was ist mit Mrs. Weedman?” fragte Elli Flint ungeduldig. Wo steckt diese so überaus freundliche Person überhaupt?“
„Kennen Sie denn Mrs. Weedman schon?“ fragte das Dienstmädchen.
„Und ob. Ich hatte bereits das Vergnügen mit ihr. Heute Nacht wurde ich von ihr aus meinem eigenen Haus gewiesen, d. h., sie ließ mich erst gar nicht hinein.“
„Das ist ja fürchterlich“, empörte sich Betty um sich gleich darauf ängstlich umzuschauen.
„Haben Sie etwa Angst vor ihr, Betty?“
Das Dienstmädchen errötete.
„Sie haben ja keine Ahnung, wie schlimm sie ist. Aber jetzt, wo Sie hier sind, wird sie sich wohl zusammenreißen und alles wird anders. Mrs. Weedman hat mich ständig herumkommandiert, als wenn ihr das hier alles selbst gehörte. Ich bin wirklich froh darüber, dass Sie da sind, Miss Flint. Ich freue mich sehr darüber.“
„Keine Angst, ich werde schon mit ihr fertig werden“, beruhigte Miss Flint das junge Mädchen, dem die Tränen in den Augen anzusehen war. Behutsam legte sie ihren Arm um sie.
„Aber bevor ich das tue, zeigst du mir das ganze Haus. Ich will es genau kennen lernen.“
Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf.
Mrs. Weedman hat für Sie schon ein Zimmer ausgewählt“, erklärte Betty oben auf dem Flur. Hier gab es eine Menge Türen, fast wie in einem Hotel.
„Ich suche mir mein Zimmer selbst aus“, gab die junge Frau stirnrunzelnd zur Antwort, „was diese Frau im Sinn gehabt hat, ist mir völlig gleichgültig“, entgegnete sie dem Mädchen, die jetzt eine Tür nach der anderen öffnete und jedes Zimmer einzeln erklärte.
Etwa eine Stunde später, nach der Zimmerbegehung, ging sie rüber ins Bad und räkelte sich bereits wohlig im duftenden Badewasser. Wenn sie von Mrs. Weedman und dem blödsinnigen Gerede über das Anwesen ihres Onkels einmal absah, gefiel es ihr plötzlich sehr gut hier. Die gesamte Inneneinrichtung war wirklich von allerhöchster Qualität und musste wohl seinerzeit ein Vermögen gekostet haben. Außerdem würde sie heute nacht zum ersten Mal in diesem Haus schlafen, worauf sie sich schon freute.
Miss Flint entstieg der Badewanne, trocknete sich ab und kleidete sich an. Sie wählte einen sportlichen Hosenrock mit Bolero und langärmeliger Bluse. Dann bürstete sie sich ausgiebig die langen blonden Haare und verlies danach das Zimmer.
Auf dem Flur kam ihr Mrs. Weedman entgegen. Die alte Frau konnte ihr nicht ausweichen und starrt sie feindselig an.
Kaum stand sie auf gleicher Höhe, polterte sie mit krächzender Stimme los.
„Sie sind selbst schuld, Miss Flint. Sie kommen mitten in der Nacht an, klingeln an der Tür und stellen sich nicht einmal vor. Um diese nachtschlafende Zeit lassen wir keinen mehr rein. Das muss Ihnen doch klar sein...“
„Was sagen Sie da? Sie müssen sich täuschen, Mrs. Weedman. Sie wussten genau, wer ich bin. Außerdem habe ich mich vorgestellt. Entweder haben Sie schlechte Ohren oder sind eine Lügnerin.“
Die alte Frau hörte ihre Worte nicht mehr. Sie war einfach an Miss Flint vorbei gerauscht, die Treppe runter gegangen und in der Küche verschwunden.
Als sie unten im Esszimmer ankam, stand plötzlich Mark Weedman neben ihr und grinste unverschämt wie ein Honigkuchenpferd. Er bot ihr den Arm an.
„Ich habe mich extra für sie in Schale geworfen, Miss Flint. Ich wollte Sie zum Essen führen.“
„Was wollten Sie?“
Die junge Frau unterdrückte ein Lachen.
„Mich? Zum Essen führen. Vielen Dank, aber ich kann allein gehen. Haben Sie denn wirklich gedacht, ich würde mit einem Dienstboten zusammen speisen? Das kommt überhaupt nicht in frage. Ziehen Sie sich gefälligst um und gehen Sie wieder an die Arbeit, bevor ich mir was anderes überlege.“
Miss Elli Flint wusste im Augenblick nicht, woher sie den Mut zu solchen Worten nahm. Aber für sie war es wichtig den Leuten hier zu zeigen, wer das Sagen hatte. Sie war die neue Herrin des Hauses.
Das komische Grinsen auf Mark Weedmans Gesicht gefror ganz plötzlich zu eine Maske. Seine eng anliegenden Augen blinzelten heimtückisch auf.
„Meine Mutter und ich haben immer mit Mr. Flint das Essen eingenommen“, sagte er wütend. Er gab sich keine Mühe, sich zu beherrschen.
„Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich nicht Lionel Flint bin. Was mein Onkel zu tun pflegte, war ganz allein seine persönliche Sache. Meine ist eine andere. Ich bin jetzt die Herrin hier. Und wer ab sofort meinen Anweisungen nicht Folge leistet, muss sich für sein Verhalten verantworten. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt“, sagte Miss Flint mit kühler Stimme.
„Ich wünsche jetzt zu speisen. Geben Sie Betty Bescheid, dass sie servieren soll. Und nach dem Essen möchte ich mit Ihrer Mutter sprechen“, hakte Miss Flint nach.
Mark Weedman stand da und man sah es ihm an, dass er sich nur mühsam zusammenriss. Schließlich ging er in die Küche, um seiner Mutter bei der Arbeit zu helfen.
Nach dem Essen kam Mrs. Weedman mit ihrem Sohn in die Küche. Während das Dienstmädchen das Geschirr wegräumte, bot ihnen Miss Flint einen Platz am rustikalen Esstisch an. Sie wartete geduldig ab, bis beide sich hingesetzt hatten.
„Zunächst möchte ich einmal klarstellen, dass ich die neue Herrin des Hauses bin. Sie stehen in meinen Diensten und werden von mir bezahlt. Wenn die Sache nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle, kann ich jederzeit das Arbeitsverhältnis zwischen Ihnen und mir kündigen. Ist Ihnen das klar?“
„Wenn Sie mit uns in diesem Ton sprechen, werden wir uns wohl kaum miteinander vertragen, Miss Flint“, meinte Mrs. Weedman bissig.
„Das ist mir gleichgültig. Es liegt ganz allein an Ihnen. Ich werde Ihnen bestimmt nicht das Leben schwer machen. Ich hoffe daher, dass Sie alle zu meiner Zufriedenheit arbeiten werden. Das Essen war übrigens schauderhaft. Wenn Sie nicht kochen können, werde ich mich nach einer anderen Köchin umsehen, Mrs. Weedman.“
Die alte Frau lief puterrot an.
„Es tut mir wirklich leid, Miss Flint. Es wird nicht wieder vorkommen. Normalerweise kann ich sehr gut kochen. Ich war auf meinen neuen Gast nicht eingerichtet. Geben Sie noch etwas Zeit und Sie werden von meinen Kochkünsten begeistert sein.“
„Das klingt schon viel besser. Hoffentlich kann ich das heute Abend beim Dinner feststellen.“ Nach diesen Worten entließ sie Mutter und Sohn und ließ Betty zu sich kommen.
Als das Dienstmädchen die Küche betrat, bat Miss Flint auch sie an den Tisch.
„Nehmen Sie doch Platz, Betty. Ich habe übrigens Ihre Schwester in dem kleinen Café kennen gelernt. Sie ist genauso freundlich und nett wie Sie. Ich soll schöne Grüße von ihr bestellen. Was sagen Sie dazu?“
Das junge Mädchen strahlte über das ganze Gesicht.
Miss Flint kam jetzt zur Sache.
„Sagen Sie, Betty, ich habe schon mehrmals hören müssen, dass es im Haus meines Onkels oft nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Was hat das zu bedeuten? Hatten Sie in der Vergangenheit auch diesen Eindruck?“
Das Dienstmädchen blickte sich ängstlich um.
„Ach Miss Flint, genaues weiß ich auch nicht, aber die alte Mrs. Weedman und ihr Sohn führen etwas im Schilde. Mitten in der Nacht tauchen plötzlich wildfremde Menschen auf, die sich merkwürdig benehmen. Jedes Mal gingen sie gemeinsam in die Werkhallen der alten Brauerei und schalteten überall das Licht an. Dabei stehen die Gebäude doch angeblich leer. Als ich Mrs. Weedman einmal danach fragte, wurde sie sehr böse und ungehalten. Sie sagte, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Doch ich weiß, dass sie die schrecklichen Geräusche in der Nacht auch gehört haben muss. Ebenso ihr Sohn. Auch er schweigt dazu. Beide hatten wohl Angst davor. Oh, Miss Flint, ich weiß nicht was hier auf dem Gelände der alten Brauerei vor sich geht. Aber ich fürchte mich sehr davor. Ich bin froh, dass Sie da sind.“
„Ist schon gut, Betty. Sie können jetzt Feierabend machen und sich Ihren privaten Angelegenheit widmen. Sie können jetzt gehen.“
„Vielen Dank, gnädige Frau. Sie sind sehr nett zu mir. Wenn Sie mich trotzdem brauchen, bin ich jederzeit für Sie da. Sie müssen nur auf einen der versteckten Knöpfe hinter den Vorhängen am Fenster drücken und schon weiß ich Bescheid, dass Sie mich angefordert haben.“
„Oh, das wusste ich nicht. Vielen Dank für diesen Tipp, Betty. Wir sehen uns dann zum Frühstück.“
„Gute Nacht, Miss Flint. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Schlaf.“
Das Dienstmädchen verließ die Küche und ging auf ihr Zimmer im ersten Stock.
Die junge Hausherrin saß aber noch lange am Küchentisch und dachte darüber nach, welches Geheimnis sich wohl hinter den dicken Mauern der alten Brauerei verbergen mochte. Sie würde es sicherlich bald heraus bekommen, denn wenn sich Elli Flint mal etwas vorgenommen hatte, konnte man sie nur sehr schwer wieder davon abbringen. Zähe Ausdauer und unnachgiebige Zielstrebigkeit waren zwei ihrer herausragendsten Eigenschaften.
***
Der nächste Morgen fing mit Sonnenschein an. Die neue Hausherrin war schon früh aufgestanden und inspizierte das gesamte Gelände des Anwesens, so auch den verwilderten Garten. Hier musste unbedingt etwas getan werden, dachte sie. Allerdings würde sie diese Arbeit einer Landschaftsgärtnerei übergeben, was sicherlich sinnvoller sei, als selbst Hand anzulegen oder das vorhandene Personal dafür heranzuziehen.
Neben dem Garten entdeckte Miss Flint einen verlassenen Hühnerstall. Sie wunderte sich darüber, was es an Unentdecktem hier alles noch gab.
Das Brauereigelände lag einsam und verlassen da. Nichts deutete darauf hin, dass es möglicherweise doch noch benutzt wurde. Selbst die verdächtigen Reifenspuren vor dem Tor, die sie einen Tag vorher noch gesehen hatte, waren jetzt nicht mehr da. Miss Flint hatte den seltsamen Eindruck, dass sie sehr sorgfältig beseitigt worden waren.
Die gesamte Betriebsanlage der Brauerei wirkte reichlich verwildert und ungepflegt. Sie fragte sich, welche Arbeit Mark Weedman auf dem Anwesen überhaupt verrichtete. Der Mann war an die fünfunddreißig Jahre alt und hatte wohl über seine Mutter diese Arbeit bekommen. In seinem Arbeitsvertrag stand, dass er die Tätigkeit eines Gärtners und Chauffeurs auszuüben hatte. Zusätzlich hatte er freiwillig noch hausmeisterliche Tätigkeiten übernommen, die als zusätzliche Erweiterung seiner Aufgaben in dem Arbeitsvertrag nachträglich aufgenommen worden waren. Dafür wurde er auch recht gut bezahlt. Miss Flint beschloss, ihm etwas auf die Finger zu sehen.
Die junge Frau ging jetzt durch den verwilderten Garten und bahnte sich einen Weg durch die offene Gartentür. Hinter dem Zaun war alles mit Brombeeren, Dornengestrüpp und Farnkraut überwuchert. Aber um an den hinteren Teil der alten Gebäude heranzukommen, musste sie durch diesen Teil des Geländes, weil die Tore immer noch verriegelt waren und die Schlüssel sich angeblich bei einem Mann namens Fred White, einem Freund von Mark Weedman, befanden, der zur Zeit angeblich in Urlaub war.
Als sie endlich die Front des ersten Brauereigebäudes erreichte, stieß sie abermals auf eine alte Holztür. Sie war nur notdürftig mit neuen Brettern repariert worden und in keinem guten Zustand. Die Tür wies überall breite Risse auf, war aber ebenfalls, anscheinend von innen, verriegelt worden.
Miss Ellis Herz klopfte aufgeregt, als sie durch die Ritzen lugte. Vor Überraschung stieß sie einen kleinen Schrei aus, als sie einen überdachten Innenhof entdeckte, in dem mehrere Backsteinhaufen lagen. Dazwischen stand ein großer Lastwagen.
Miss Flint ging später um das Gebäude herum, wurde aber durch einen hohen Zaun daran gehindert, den dahinter liegenden Bereich, der zum Hof führte, zu erreichen. Zum Glück befanden sich zwischen dem Zaun und der mächtigen Grundstückmauer ein paar lose Latten, die sie gekonnt zur Seite schob. Schließlich wand sie sich durch den offenen Spalt hindurch und stand bald auf der anderen Seite. Sie merkte sich diese Stelle, weil sie dann nicht mehr durch den Garten und die dahinter liegenden Brombeersträucher und Dornengebüsche steigen musste.
Im ersten Impuls dachte sie daran, den Sohn von Mrs. Weedman zur Rede zu stellen, was es mit dem LKW auf sich hatte. Dann dachte sie darüber nach, dass es wohl klüger sei, erst einmal abzuwarten, was sich weiter ereignen würde. Der Lastwagen wurde sicher zu einem ganz bestimmten Zweck benutzt.
Sie lief den ganzen Tag überall herum und machte sogar einen kleinen Spaziergang durch den nah gelegenen Wald, den sie jetzt ebenfalls ihr eigen nennen durfte und zum weitläufigen Geländer der Brauerei gehörte. Das hier früher Holz geschlagen wurde, erkannte man an den zahlreich vorhandenen Baumstümpfen. Ihr Onkel fand darüber hinaus wohl viel Spaß an der Jagd, weil an etlichen Stellen große Hochsitze standen.
Erst gegen Abend schlenderte sie über den gepflasterten Hof. Dem Wohnhaus gegenüber stand eine große Garage, in der jetzt ihr Aston Martin untergebracht war. Daneben stand der Ford von Mark Weedman, der ziemlich ungepflegt aussah. Die Reifen waren mit getrocknetem Schlamm überzogen.
Miss Flint holte noch einige Sachen aus ihrem Auto und ging dann auf das Haus zu. Es war mittlerweile Zeit zum Abendessen. Sie wollte sich außerdem noch umkleiden.
Das Dinner war wirklich vorzüglich. Die alte Dame hatte tatsächlich Wort gehalten und sie schien sich große Mühe mit dem Essen zu geben. Es gab diesmal Lammkeule in einer köstlichen Soße mit verschiedenen Gemüse und ein leckerer Apfelkuchen zum Dessert.
Die neue Herrin des Hauses ließ es sich schmecken.
„Was haben Sie jetzt für einen Eindruck von Ihrem neuen Zuhause, Miss Flint? Gefällt es Ihnen besser oder wollen Sie es immer noch verkaufen?“ fragte das Dienstmädchen, als sie das Geschirr abräumte.
Elli Flint zuckte mit der Schulter und zündete sich eine Zigarette an.
„Ach Betty, so genau kann ich das jetzt noch nicht sagen. Teils gefällt es mir, teils wieder nicht. Ich bin heute den ganzen Tag draußen herumspaziert und habe mir überlegt, ob ich nicht Teile der alten Brauerei einreißen lassen soll um Platz für einen Reitstall mit Herberge und Gasthof zu schaffen. Die Gegend ist eigentlich recht schön, was mir vorher nicht so deutlich aufgefallen ist. Sie eignet sich besonders gut für ausgedehnte Reitausflüge, weil die Landschaft abwechslungsreich ist und es zudem viele kleine Seen gibt, die zum gemütlichen Verweilen einladen. Ich denke jedenfalls darüber nach. Die zwei Millionen Pfund müssen ja irgendwo gut angelegt werden.“
„Die Idee mit dem Reitstall, dem neuen Gasthaus und einer Herberge ist wirklich nicht schlecht, Miss Flint. Aber was die alten Gebäude betrifft; wer weiß, was da alles zum Vorschein kommen würde, wenn Sie die Gemäuer einreißen lassen. Ich will gar nicht daran denken.“
Elli Flint dachte an den LKW und überlegte, ob sie Betty von ihrer Entdeckung erzählen sollte. Obwohl sie Vertrauen zu ihrem jungen Dienstmädchen hatte, entschied sie jedoch, dass es dafür noch zu früh war, um mit ihr darüber zu sprechen.
„Wenn das Wetter morgen mitspielt, werde ich mir jedes Gebäude einzeln vorknöpfen. Wenn es sein muss, werde ich die schweren Eisenriegel aufbrechen lassen“, sagte sie zu Betty.
„Mr. Weedman wird Sie kaum hineinlassen. Sein Freund Fred White und er achten sehr darauf, dass Unbefugte keinen Zutritt erlagen. Niemand kommt ohne Genehmigung dort rein.“
„Aber erlauben Sie mal! Ich werde niemanden um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich mir meinen Besitz ansehen will. Notfalls lasse ich die Polizei kommen, wenn es Schwierigkeiten mit den beiden Typen geben sollte. Darauf können sich die beiden Herren verlassen.“
Betty wurde plötzlich blass im Gesicht.
„Ich habe Angst um Sie, Miss Flint“, sagte sie leise und etwas schüchtern. „Sie sind eine liebe Frau, aber bitte seien Sie vorsichtig! Die beiden Männer, besonders dieser Fred White, schrecken selbst vor Gewalt nicht zurück. Da bin ich mir ganz sicher. Ich kenne diesen Mann. Er ist sehr gefährlich. Ich sollte sie lieber begleiten.“
„Ach was, auf keine Fall. Ich habe keine Angst. Und wenn Sie mich begleiten, würde das nur Aufsehen erregen. Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen. Ich habe sogar eine funktionierende Pistole im Schlafzimmer meines Onkels gefunden. Sie lag zusammen mit der dazu gehörigen Munition in seiner Nachtkommode unter einem kleinen Stapel loser Zeitungen. Ich werde sie mitnehmen, wenn ich auf Entdeckungstour gehe.“
So furchtlos, wie sich Elli Flint gab, war sie gar nicht. Im Gegenteil, ihr graute vor dem Gedanken, das Ding vielleicht mal einsetzen zu müssen.
Später, als sie schon im Bett lag, konnte sie einfach nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, die sich hauptsächlich um die alte Brauerei drehten.
Irgendwann war sie schließlich so müde, dass ihr die Augen von selbst zufielen.
***
Mitten in der Nacht wurde Elli Flint von einem unbestimmten Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Wie elektrisiert fuhr sie in die Höhe und saß im nächsten Augenblick hellwach im Bett.
Wieder hörte sie das Geräusch ganz deutlich. Irgendwo im Haus knarrte eine Diele und es hörte sich so an, als schlich jemand durch die Gänge.
Miss Flint sprang aus ihrem Bett, ging leise zur Schlafzimmertür hinüber, öffnete sie behutsam und lauschte. Sie wagte es nicht, dass Licht anzumachen, als sie auf den Gang hinaustrat. Nichts rührte sich. Das ganze Haus schien im tiefen Schlaf zu liegen.
Die junge Frau ging zurück ins Zimmer und wollte sich gerade wieder ins Bett legen, als sich zum Fenster hingezogen fühlte. Würde in dieser Nacht das Brauereigebäude wieder hell erleuchtet sein.
Aber das gesamte Gelände lag wie immer düster und verlassen da.
Plötzlich schien sie etwas bemerkt zu haben. War da nicht gerade jemand im Schatten über den Hof geschlichen? Miss Flint trat näher ans Fenster, blieb aber vorsichtshalber hinter dem Vorhang stehen und schob ihn nur ein klein wenig zur Seite. Sie wollte auf keinen Fall entdeckt werden.
Und tatsächlich. Dort unten war jemand und drückte sich jetzt an der Ziegelwand des Brauereigebäudes entlang. Mark Weedman konnte es nicht sein, wie die junge Frau feststellte, denn der war groß und hager. Die Gestalt dort unten hatte ehr eine kleine, kurz gedrungene Statur. Jetzt waren es also schon zwei unbekannte Personen, die des nachts auf ihrem Besitz aufgetaucht waren und heimlich umherschlichen. Diese Tatsache gefiel ihr ganz und gar nicht. Früher oder später würde sie wohl die Polizei kommen lassen müssen, wenn es für sie gefährlich werden sollte. Im Moment jedoch war sie noch Herr der Lage.
Auf einmal war die Gestalt nicht mehr zu sehen. Dann leuchtete abrupt das helle Licht einer Taschenlampe auf. Der Fremde schien den Boden abzusuchen.
Ob er nach den Reifenspuren sucht? fuhr es der jungen Frau durch den Sinn. Vielleicht gab es noch andere, die das Geheimnis ergründen wollten, was sich auf dem Geländer der alten Brauerei abspielte. Nur wer konnte das ein? War der nächtliche Besucher ein Freund oder ein Feind? Gut möglich, dass sich auch jemand von der Polizei hier herumtrieb, die ebenfalls von der Sache Wind bekommen hatte. Man musste alles in Betracht ziehen.
Aufgrund der neuerlichen Ereignisse stieg wieder dieses bedrückende Angstgefühl in ihr hoch. Hatte es diese Vorgänge wohlmöglich auch schon zu Lebzeiten ihres Onkels gegeben? Und wer steckte dahinter? Fragen über Fragen, die ihr große Sorgen bereiteten.
Plötzlich erschloss das Licht der Taschenlampe und die Gestalt verschwand irgendwo in der Dunkelheit. Das letzte, was Elli Flint noch zu sehen bekam, war das kurze Aufblitzen eines Feuerzeuges. Sekunden später hörte sie, wie ein Motor gestartet wurde und kurz danach ein Wagen über den Schotterweg ohne Scheinwerferlicht davonraste, die der Fahrer erst einschaltete, als er die Hauptstraße bereits erreicht hatte.
Miss Flint atmete tief durch. Ihr Puls beruhigte sich wieder etwas. Trotzdem kam in ihr die Frage auf, wie sie sich auf Dauer hier wohl fühlen sollte, wenn der Ort voller düsterer Rätsel und Geheimnisse war?
***
Draußen zwitscherten schon die Vögel, als Elli Flint erwachte. Die Sonne schien durchs Fenster und ihre hellen Strahlen luden zum Aufstehen ein. Vom Bett aus konnte die junge Frau den blauen Himmel sehen. Es war ein schöner, friedlicher Sommermorgen. Doch plötzlich standen die Erlebnisse der letzten Nacht wieder vor ihr.
Miss Flint verließ das Bett, ging rüber ins Bad und machte sich frisch. Nachdem sie sich angekleidet hatte stieg sie Treppe hinunter und begab sich in die Küche. Dann ließ sie sich von dem Dienstmädchen das Frühstück servieren. Etwa zehn Minuten später kam polternd Mark Weedman herein.
„Einen wunderschönen guten Morgen, Herrin“, grinste er. „Ich hoffe Sie haben gut geschlafen und sind mit meiner Arbeit zufrieden.“
Miss Flint blickte tadelnd auf seine Stiefel, an denen feuchter, klebriger Dreck hing.
„Lassen Sie Ihre Stiefel in Zukunft draußen vor der Tür, Mr. Weedman. Sie machen Ihrer Mutter und dem Dienstmädchen nur unnütze Arbeit damit“, meinte sie missbilligend. „Was haben Sie eigentlich bis jetzt gemacht?“ fragte sie forsch.
„Seien Sie vorsichtig, Miss Flint. Behandeln Sie mich bitte nicht wie einen kleinen Jungen. Dass kann ich überhaupt nicht vertragen. Und wenn Sie wissen wollen, was ich getan habe, kann ich nur sagen, dass ich den Garten ausgemistet habe. Ich bin noch nicht fertig damit und werde wohl den ganzen Tag dazu brauchen, ihn aufzuräumen. Ich weiß nur nicht, ob ich eine glückliche Hand für Blumen und Gemüsepflanzen habe.“
„Das wird sich schon herausstellen. Wenn nicht, lasse ich mir eine Gärtnerfirma kommen, die die Sache für mich erledigt. Außerdem wollte ich mit Ihnen nicht über Ihre Arbeit sprechen, sondern möchte Sie fragen, wer nachts hier auf meinem Grundstück herumschleicht.“
„Was? Herumschleichen. Da täuschen Sie sich bestimmt, Miss Flint. Sie haben doch geschlafen.“
Die junge Frau sah, wie Mark Weedman nervös wurde.
„Ganz und gar nicht, Mr. Weedman. Ich habe nicht geschlafen. Dann erzählte sie von ihren Beobachtungen und war danach gespannt auf seine Reaktion. Auch auf die von seiner Mutter.
Er und seine Mutter tauschten erschrockene Blicke aus. Die alte Frau verließ hastig die Küche.
„Und heute Nacht war es eine andere Gestalt, die Sie gesehen haben“? fragte Mark Weedman und man sah ihm dabei an, dass er sich höchst unbehaglich dabei fühlte.
„So ist es“, antwortete ihm Elli Flint. „Außerdem möchte ich sie fragen, was der LKW hier soll, den ich hinten in einem der alten Brauereigebäude entdeckt habe. Gehört das Fahrzeug Ihnen?“
„Der Lastwagen gehört meinem Freund Fred White“, erklärte der Gehilfe. „Ihr Onkel war damit einverstanden, ihn dort unterzustellen. Ich habe ganz vergessen, Sie auch um Erlaubnis zu bitten. Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind. Das Fahrzeug stört schließlich niemanden. – Ach, ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie die Gebäude nicht besichtigen können, weil sie stark einsturzgefährdet sind. Ich könnte es nicht verantworten, Ihnen den Schlüssel zu geben.“
„Ach, wirklich? Aber Ihr Freund, der kann unbesorgt aus und eingehen, wie er will. Finden Sie das nicht ein bisschen seltsam, Mr. Weedman?“
Der Mann hob beide Hände, als wolle er etwas abwehren.
„Mein Gott noch mal. Der fährt doch nur in den Innenhof, Miss Flint. Bis dahin können Sie selbstverständlich auch gehen. Kein Problem. Ich meinte ja nur, dass es gefährlich ist, die Gebäude zu betreten. Überall sind schon Steine herabgefallen, und die Decken haben große Löcher. So oft es meine Zeit erlaubt, repariere ich alles, so gut es geht. Und mein Freund hilft mir natürlich dabei, weil ich allein das sonst nicht schaffen würde. Das ist übrigens eine Regelung, die Ihr Onkel noch getroffen hat.“
„Die Reparaturarbeiten können Sie ab sofort einstellen. Sie brauchen sich keine weitere Mühe mehr zu geben, Mr. Weedman. Ich habe nämlich vor, einen Großteil der sanierungsbedürftigen Gebäude abreißen zu lassen. Die alten Werkhallen sind hässlich und dienen keinem Zweck mehr. Ich habe Pläne, hier einen Reitstall mit Wirtschaft und Herberge zu errichten. Das kommt bei den Leuten immer gut an und wird viel Geld bringen, auch für die kleine Ortschaft. Ich habe dem Bürgermeister schon schriftlich davon in Kenntnis gesetzt. Er ist von meiner Idee begeistert.“
„Was, Sie wollen die Gebäude abreißen lassen? Das können Sie nicht machen!“
Mark Weedman wurde mehr als nervös. Sein rechtes Augen zuckte unkontrolliert auf und ab.
„Und warum nicht?“ frage Miss Flint.
„Weil die Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Das weiß ich von Ihrem Onkel. Er hatte ebenfalls Pläne und wollte immer das Anwesen der alten Brauerei einem anderen Zweck zuführen. Leider hat ihm da die Denkmalschutzbehörde stets einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch Sie haben die Verpflichtung, alles zu erhalten. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen, Miss Flint.“
„Ich werde die Sache überprüfen lassen. Auf jeden Fall wird sich hier in nächster Zeit einiges ändern. Ich will nicht mein ererbtes Vermögen ausschließlich in den Erhalt einer baufälligen Immobilie stecken. Wenn es sein muss, lasse ich die Wände stehen, die dann renoviert werden müssen. Aber innen kann mir niemand vorschreiben, was ich mit den neuen Räumen danach machen werde.“
Mr. Weedman fing plötzlich an zu schwitzen. Dann stand er erbost auf und verließ die Küche. Draußen vor der Tür hörte man ihn fluchen und auf seine neue Herrin schimpfen.
***
Am nächsten Tag fuhr Miss Flint in die nah gelegene Ortschaft Blairhall. Sie wollte einige Besorgungen machen und sich vor allem einen Hund kaufen. Das Gelände der Brauerei konnte einen aufmerksamen Beschützer gut gebrauchen. Nachdem sie soweit alles erledigt hatte, entschloss sie sich dazu, das kleine Café aufzusuchen, wo Betty auf sie wartete. Das Dienstmädchen hatte heute frei und war zu Besuch bei ihrer Schwester Stella.
Aber Betty war nicht allein. Ein breitschultriger Mann mit schwarzen Haaren, den Miss Flint nur von hinten sehen konnte, saß an einem der rückwärtigen Tische und erklärte dem jungen Mädchen offenbar etwas.
Miss Flint beschlich ein unangenehmes Gefühl. Wer mochte schon Betty Mills kennen? Zudem erinnerte sie der Mann mit den schwarzen Haaren an jemanden, den sie in der schmuddeligen Raststätte schon mal gesehen hatte. Er war ihr durch seine anzüglichen Sprüche aufgefallen, als sie mit Sonja Lux geredet hatte.
Entschlossen steuerte sie auf den Tisch zu. Der Mann drehte seinen Kopf nach hinten und sah sie an. Elli Flint erstarrte. Es war tatsächlich derselbe Typ, der ihr vor ein paar Tagen in der herunter gekommenen Gaststätte begegnet war.
Bei ihrem Anblick erhob er sich wortlos, aber mit einem Blick, der das junge Mädchen erschauern ließ. Dann verließ der Mann grußlos das Lokal und knallte die Tür hinter sich zu.
Betty machte einen etwas verwirrten Eindruck auf Miss Flint.
„Wer war das denn? Wollte der Mann was von dir?“
Ihr Dienstmädchen schüttelte den Kopf.
„Ich saß gerade am Tisch und trank meinen Kaffee, als dieser Kerl zur Tür hereinkam und sich einfach unaufgefordert zu mir setzte. Dann sagte er, dass ich doch das Dienstmädchen der Brauereifamilie Flint sei, und was ich hier in Blairhall mache. Schließlich begann er, mich nach Ihnen auszufragen, Miss Flint. Aber ich habe nicht viel gesagt – und wenn, nur Gutes. Zum Glück sind Sie gekommen. Er selbst hat sich mir nicht vorgestellt.“
Miss Flint runzelte die Stirn. Sie bestellte bei Bettys Schwester einen Kognak und für ihr Dienstmädchen eine Tasse Kaffee. Dann unterhielten sie sich eine Weile. Dass sie den schwarzhaarigen Mann schon mal getroffen hatte, verschwieg sie dem Mädchen. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und hatte auch keine große Lust zum Rätselraten. Etwa eine Stunde später verließ sie das Café wieder und fuhr zu einem Hundezüchter ganz in der Nähe, der auf Wachhunde spezialisiert war. Dort angekommen erschien dieser auch gleich mit einem jungen, kräftigen Schäferhund, der Elli Flint lebhaft anbellte. Es war ein lieber Kerl, kohlrabenschwarz und schien sehr aufmerksam zu sein. Er hörte auf den Namen Ricky.
Der Hundezüchter versicherte ihr, dass er auf jedes fremde Geräusch reagiere und mit seinem wütenden Bellen unliebsame Besucher fernhielt. Aber er konnte auch gut zubeißen, wenn es sein müsste.
Miss Flint war zufrieden und nahm den Schäferhund gleich mit, der auf dem Rücksitz des Aston Martins Platz nehmen musste.
Als die junge Frau mit ihrem Aston Martin den Heimweg antrat, war es draußen schon wieder dunkel geworden.
***
Die Nacht war nasskalt und ein dichter Nebel stieg auf. Es war fasst die gleiche Situation wie auf der ersten Fahrt zum Anwesen ihres verstorbenen Onkels vor wenigen Tagen.
Miss Flint fand ihre Idee plötzlich kindisch, wieder zurückzufahren. Sie hätte auch in Blairhall übernachten können. Andererseits wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie Betty mitgenommen hätte. Wegen ihr hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen, als sie beim Verlassen des Cafés ihr Dienstmädchen nervös mit bleichem Gesicht am Tisch sitzen sah. Aber über ihre Freizeit konnte sie nicht bestimmen.
Diesmal fand sie sich gut zurecht auf der Straße. Trotz des Nebels verfehlte sie den Schotterweg nicht. Sie ging vom Gas weg, schaltete einen Gang zurück und schaute während des Lenkeinschlags hinüber zum Anwesen der Brauerei, als sie plötzlich mehrere Lichter verschwommen durch die trübe Nebelküche erblickte.
Ellis Flint Herz begann ängstlich zu pochen. Etwas ging dort vor sich. Sie schaltete die Autoscheinwerfer aus, fuhr den Aston Martin rechts auf den Grünstreifen und verließ das Fahrzeug. Den Schäferhund nahm sie mit. Er spürte, dass Frauchen etwas vorhatte. Aufgeregt zog er an der Leine und wollte voraus preschen, doch die junge Frau hielt ihn energisch an der Leine zurück.
Als Elli Flint den Hof fast erreicht hatte, sah sie ganz deutlich alle Lichter in dem alten Brauereigebäude brennen. Im Hof stand ein großer Lastwagen mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfer.
Ein unwillkürliches Zittern überlief Miss Flint, und einen Moment lang war sie versucht, einfach zum Auto zurückzugehen und weiter zu fahren. Aber dann dachte sie sich, dass damit nichts gewonnen wäre. Sie nahm jetzt ihren ganzen Mut zusammen und schlich mit dem Hund zusammen über den Nebel verhangenen Hof rüber zum Haus. Sie wollte sich dort hinter der nächsten Ecke verstecken.
Doch das war gar nicht so einfach. Plötzlich traten drei Männer aus dem großen Tor und gingen auf den Lastwagen zu. Einer davon war Mark Weedman, das konnte Elli Flint ganz deutlich feststellen. Als sie den anderen Mann erkannte, überlief sie ein eisiges Gefühl. Es war kein anderer als der Typ aus dem Café, der ihr schon zweimal unangenehm aufgefallen war und wohl Fred White hieß. Er war ein enger Freund von Mark Weedman. Den dritten Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen.
„Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie mit halblauter Stimme in sich hinein und dachte, dass das nichts Gutes sein konnte.
Die junge Frau hielt den kräftigen Schäferhund noch kürzer, der jetzt auf einmal ganz still geworden war. Er witterte etwas und starrte konzentriert in eine Richtung.
Im nächsten Augenblick begann Ricky zu knurren, riss sich los und schoss wie ein Blitz auf die drei Männer zu. Elli hielt die Leine fest in der Hand und wollte den Hund zurück reißen, was ihr in der Aufregung nur schlecht gelang. Sie konnte nicht verhindern, dass der Schäferhund den Mann mit den schwarzen Haaren ansprang und ihn dabei fast in den Hals gebissen hätte.
„Was zum Teufel soll das? Wo haben Sie den Köter her? Und wieso sind Sie auf einmal hier?“ rief Mark Weedman wütend.
„Hast du nicht zu uns gesagt, wir sind heute ungestört?“ zischte der Schwarzhaarige aufgebracht und rieb sich mit der rechten Hand die Kehle. Seine Augen blitzten böse und angriffslustig auf. Am liebsten hätte er wohl den Hund eigenhändig erschlagen.
Eine namenlose Angst kroch in Miss Flint hoch. Hastig zog sie den wild bellenden Schäferhund an sich. Dann beruhigte sie ihn, so gut es ging.
„Wir sprechen morgen darüber, Mr. Weedman, was hier los ist. Ich habe jetzt keine Zeit für lange Streitereien“, rief sie steif und ging mit Ricky eilig ins Haus.
Als die junge Frau die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, verzichtete sie zunächst darauf, das Licht anzumachen. Den Hund band sie an einen der hölzernen Bettfüße fest, der immer noch sehr aufgeregt war. Sie streichelt ihn zur Beruhigung liebevoll über den Rücken und ging schließlich zum Fenster hinüber, verbarg sich aber hinter dem Vorhang.
Der Lastwagen fuhr gerade ab. Doch nur der Schwarzhaarige saß darin. Mr. Weedman und der andere Mann verschwanden im Brauereigebäude. Kurze Zeit später gingen dort die Lichter aus und die Tore wurden wieder verriegelt. Dann kamen die beiden Männer über den Hof und traten ins Haus. Miss Flint hörte noch unterdrückte Stimmen und leise Schritte, dann wurde es still.
***
Miss Flint erwachte am nächsten Morgen sehr spät. Sie war wie gerädert und hatte leichte Kopfschmerzen. Gerade als sie aufstehen wollte, klopfte es an der Tür.
Ricky, der Schäferhund, der die ganze Nacht in ihrem Zimmer verbracht hatte, fing sofort zu bellen an.
Als sie die Tür öffnete, stand Betty vor ihr und brachte das Frühstück. Sie sah blass und übernächtigt aus.
„Guten Morgen Miss Flint“, begrüßte sie das Mädchen und stellte das silberne Tablett ab. Als sie Ricky sah, streichelte sie den Hund und fragte die Hausherrin, ob sie ihm etwas zum Fressen bringen soll.
„Ich habe mein Auto oben an der Straße stehen. Im Kofferraum liegen ein paar Säcke mit Hundefutter. Ich werde es nachher selbst holen und Ricky damit füttern. Du kannst ihm aber schon mal etwas zu trinken hinstellen. Ich glaube er ist durstig.“
Betty nickte zerstreut. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.
„Zuerst dachte ich, Sie hätten bereits in der Küche gefrühstückt als ich heute morgen nach unten kam. Auf dem Tisch standen bereits einige Frühstücksgedecke, die alle benutzt worden waren.“
„Ach so, ja. Wir hatten in der Nacht einige Gäste“. Dann erzählte Miss Flint von ihren Beobachtungen und den seltsamen Vorkommnissen in der alten Brauereihalle.
„Mir macht das alles irgendwie Angst, Miss Flint. Die Männer sind gefährlich. Die führen irgend etwas im Schilde. Sie sollten die Polizei rufen und nachsehen lassen, was sie in der alten Brauerei zu verbergen haben.“
„Vielleicht ist es dazu noch zu früh. Ich werde aber heute noch runter nach Blairhall fahren und Mr. Stone anrufen. Unsere Telefone sind tot und der Störungsdienst wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis alles wieder funktioniert.“
Dann schickte sie Betty weg.
Nach dem Frühstück holte sie den Wagen und parkte ihn in der Garage. Das Futter für Ricky nahm sie gleich mit, füllte eine Schale damit auf und stellte sie nach draußen auf die Treppe. Als sie den Schäferhund von der Leine ließ, rannte dieser sofort aus dem Schlafzimmer über die Holztreppe runter durch die offene Tür nach draußen auf den Hof. Miss Flint rief ihn zurück und zeigte ihm den gefüllten Napf. Sofort war Ricky wieder zur Stelle und fiel mit Heißhunger über das Futter her.
Plötzlich stand Mrs. Weedman hinter ihr.
„Wieso haben Sie einen Hund mit ins Haus gebracht?“ fragte die alte Frau mürrisch.
„Ich sehe keinen Grund, warum ich keinen Hund halten sollte. Ricky ist ein besonders aufmerksames Tier, das ich hier gut brauchen kann. Der Hund wird die anderen wohl kaum stören, höchstens nächtliche Besucher ihres Sohnes. – Übrigens, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, ohne meine persönliche Zustimmung hier in meinem Haus jemanden übernachten zu lassen?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss Flint. Ich habe die ganze Nacht durchgeschlafen und verbitte mir derartige Anspielungen. Damit habe ich nichts zu tun. Da müssen Sie schon meinen Sohn fragen. Leider ist er heute nicht da.“
Wütend drehte sich die alte Haushälterin herum und verschwand im Innern des Hauses.
Nach dem Mittagessen machte Miss Flint einen ausgedehnten Spaziergang. Sie ging ein Stück die Hauptstraße entlang bis zur Abzweigung und dann rüber über ein paar Felder den Hügel hinauf, der sich hinter der alten Brauerei erhob. Ein verwilderter Pfad führte durch das Dickicht, den sie von hier oben deutlich erkennen konnte. Er endete am Tor der verwitterten Brauereimauer, wo sich eine kleiner Durchbruch befand, der gerade so groß war, dass sie hindurch passen würde. Interessiert folgte sie dem Pfad, kam bald an den besagten Mauerdurchbruch, krabbelte mit Ricky hindurch und stand im nächsten Moment schon auf der anderen Seite. Dann hörte sie ein deutlich kratzendes Geräusch aus dem vor ihr liegenden Gebäude.
Vor Aufregung blieb ihr fast das Herz stehen, als sie durch das hohe Gras auf das Gebäude zu schlich und durch das hintere Eingangstor spähte. Sie sah, wie Mark Weedman im Innenhof damit beschäftigt war, einen Stapel Kisten abzutragen und durch eine kleine Maueröffnung schob. Auch der Lastwagen stand nicht mehr da. Sicher war er derselbe, den sie in der Nacht gesehen hatte und der dann weggefahren war. Hatte er diese Kisten gebracht? Und was enthielten sie?
Miss Flint zwang sich zum nüchternen Denken.
Der Lastwagen gehörte Marks Freund Fred White, wenn sie damit richtig lag, dass das der Mann mit den wilden schwarzen Haaren war.
Sie konzentrierte sich und fasste zusammen.
Der Typ darf den LKW hier abstellen und hilft Mr. Weedman dabei, das schadhafte Gebäude zu reparieren. Doch warum geschah das niemals am Tag? Alles passierte nachts. Tagsüber waren die Brauereigebäude zudem verriegelt. Enthielten die Kisten Baumaterial? Das hätte man ihr sagen müssen. Außerdem waren bisher keine Rechnungen aufgetaucht, die Angaben über gekauftes Baumaterial enthielten. Also musste in den Kisten etwas anderes sein.
Bei dieser Vorstellung überfiel sie eine heftige Angst. Wenn Mr. Weedman wirklich etwas Ungesetzliches tat und sie ihn dabei ertappte, konnte es sein, dass er möglicherweise kurzen Prozess mit ihr machte. Sie traute diesem Kerl ohne weiteres zu, was für ihn sicherlich kein Problem war, in den hier stehenden, halbverfallenen Gebäuden einen Unfall vorzutäuschen.
Langsam trat sie mit Ricky den Rückzug an. Der Hund verhielt sich vorbildlich, als ahnte er, was hier abging. Sie machte einen kleinen Umweg, um nicht aufzufallen, erreichte bald den Hof und ging ins Haus, um mit Mrs. Weedman bestimmte Punkte der Haushaltsführung durchzusprechen. Das Gespräch dauerte nicht lange und nach dem Abendessen ging Miss Flint in ihre Räume hinauf.
Als die junge Frau ihren Wohnraum betrat, hatte sie das seltsame Gefühl, als wenn noch jemand anders in diesem Zimmer gewesen wäre. Ein ganz schwacher, süßlicher Tabakgeruch hing im Raum.
Sie wusste, das Mark Weedman Pfeifenraucher war.
Und dann, ganz unvermittelt, entdeckte sie den kleinen Schraubenzieher, der halb verborgen unter dem Sessel lag. War der Sohn von Mrs. Weedman hier oben gewesen? Miss Flint hob den Schraubenzieher auf und legte ihn auf den Tisch gleich neben die Blumenvase. Dann holte sie sich ein Buch aus dem Regal und machte es sich im Sessel bequem.
Draußen erhob sich ein starker Wind. Er wurde immer heftiger, heulte und pfiff bald durch alle Ritzen. Die großen Laubbäume des kleinen Wäldchens rauschten wie die anbrandenden Wellen einer Meeresküste. In der Ferne war ein rumpelndes Donnergrollen zu hören. Die junge Frau war so in ihrer Lektüre vertieft, dass sie von alledem nichts mitbekam. Erst als die kleine Stubenuhr auf dem Kaminsims zwölfmal schlug, hob sie den Kopf und lauschte den Klängen der Uhr gedankenverloren nach.
Mitternacht, Geisterstunde! dachte sie mit einem merkwürdigen Gefühl in der Bauchgegend. Sie klappte das Buch zusammen und wollte ins Bett gehen. Sie stand auf und begann sich auszukleiden.
Plötzlich hörte sie ein seltsam scharrendes Geräusch. Es schien von gar nicht weit her zu kommen. Dazwischen vernahm sie immer wieder ein unterdrücktes Schluchzen. Ein Gänsehaut überzog Miss Flints Rücken. Sie hielt den Atem an, schaltete das Licht aus, ging leise rüber ins Bad, schlüpfte in den Schlafanzug und schlich hinüber zum Fenster.
Gerade als sie den Vorhang etwas zur Seite schob, erhellte ein greller Blitz die nächtliche Dunkelheit. Für Bruchteile von Sekunden sah Miss Flint etwas metallisches aufblitzen, konnte aber nicht erkennen, was es war. Danach war alles wieder in tiefe Finsternis getaucht. Auch die alten Brauereigebäude lagen vollkommen im Dunkeln. Sie schob vorsichtig den Vorhang zurück und begab sich ins Bett. Doch kaum hatte sie die weiche Daunendecke zugezogen, als sie erschreckt wieder in die Höhe fuhr.
Das laute Geräusch war diesmal nicht zu überhören. Es kam von draußen und hörte sich an, als lande ein Flugzeug mit heulenden Turbinen.
Ein Zittern überkam Miss Flints Körper. Sie verließ das Bett, schaltete das Zimmerlicht ein, das aber im selben Moment wieder erlosch.
Jemand hatte wohl absichtlich den Strom abgeschaltet.
Kalter Schweiß stand der jungen Frau jetzt auf der Stirn. Sie wollte in der Dunkelheit nach Hilfe rufen, brachte aber keinen Laut heraus. Sie stolperte ins Bett zurück, kroch ängstlich immer weiter unter die Decke, bis nur noch die Augen herausschauten. Miss Flint seufzte und versuchte sich zu beruhigen. Wie gerne hätte sie jetzt den Schäferhund bei sich gehabt. Aber sie hatte dem Dienstmädchen erlaubt, ihn mit auf sein Zimmer zu nehmen, weil Ricky ein aufmerksamer Hund war, der jeden heimlichen Schleicher sofort entdeckte. Betty fühlte sich einfach mit dem Hund sicherer in diesem Haus.
Plötzlich ging das Licht wieder an. Elli Flint erschrak, doch dann dachte sie daran, dass wohl die Stromversorgung durch das Gewitter unterbrochen worden war. Sie löschte das Licht wieder und rollte sich nach einer Weile auf die Seite. Bald war sie eingeschlafen.
***
Am Morgen erwachte die junge Frau mit schmerzenden Gliedern. Es war ein trüber, grauer Morgen, als sie aus dem Fenster schaute. Das schlechte Wetter brachte sofort die Erinnerungen an die Schrecken der letzten Nacht zurück. Sie war sich allerdings jetzt nicht mehr so sicher, ob sie all diese unheimlichen Geräusche bei vollem Bewusstsein gehört hatte.
Es klopfte an der Tür und Betty trat mit dem Frühstückstablett ein. Ihre Augen waren angstvoll auf die Hausherrin gerichtet.
„Haben Sie es auch gehört, Miss Flint? Es war wieder da...in der Nacht.“
„Ja, ich habe sie ebenfalls gehört. Es hat sich angehört wie die laufenden Turbinen eines Flugzeuges. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wer oder was dieses Geräusch erzeugt hat. Trotzdem muss es eine logische Erklärung dafür geben. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Es gibt keine Geister und Gespenster“, sagte Miss Flint zu ihrem Dienstmädchen mit zuversichtlicher Überzeugung.
„Und wenn doch, Miss Flint? Ich meine, wenn es was anderes ist, als wir denken oder vermuten.“
Miss Flint schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, mein liebes Kind. Es muss für die Ereignisse hier auf dem Anwesen meines Onkels eine logische Erklärung geben. Und ich werde sie finden.“
Als Miss Flint nach unten in die Küche ging, machte sie ein möglichst gleichgültiges Gesicht. Mrs. Weedman war gerade dabei, einige Töpfe einzuräumen. Als sie die junge Herrin sah, schien sie etwas verlegen und unschlüssig zu wirken. Doch schien das nur äußerlich so zu sein.
„Haben Sie gut geschlafen, Miss Flint?“ erkundigte sie sich und fuhr fort: „Ich denke mal, nein. Sicher wissen Sie jetzt auch, dass es in der alten Brauerei Ihres verstorbenen Onkels spukt. Jetzt, wo sie da sind, eine Angehörige der Familie Flint, fängt das Ganze wieder von neuem an.
Miss Flint zog die Augenbrauen hoch.
„Wollen Sie damit sagen, dass ich an allem schuld bin, Mrs. Weedman?
Die alte Frau nickte.
„Aber das ist doch lächerlich. Es gibt für diese Vorgänge mit Sicherheit eine Erklärung. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, als die Menschen aus Angst vor Geister und Gespenster gestorben sind.“
„Nicht für die Vorgänge hier“, beharrte die alte Wirtschafterin. Auf ihren Wangen bildeten sich auf einmal hektische rot Flecken. Ihr Gesicht schien sich zu verändern, für wenige Sekundenbruchteile nur.
„Aber Sie werden sie schon noch merken und am eigenen Leib zu spüren bekommen, auch wenn Sie sich jetzt so überlegen geben“, sagte sie und fuhr im gehässigen Ton fort, „und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie schon sehr bald die Flucht ergreifen werden. – Wenn Sie können...“
Die Worte der alten Frau ließen Mrs. Flint aufhorchen. Und als sie dem hasserfüllten lauernden Blick der Wirtschafterin begegnete, kam in ihr eine fürchterlicher Verdacht auf. Griffen die Weedmans bereits zu solchen Mitteln, um sie von hier zu vertreiben? Oder fürchteten sie sich nur davor, dass ich eines Tages etwas entdecken könnte, das sie sorgfältig geheim zu halten versuchten? In diesem Zusammenhang fiel ihr der Tod ihres Onkels wieder ein, der an Herzversagen gestorben sein soll. Hatten die Weedmans vielleicht ein bisschen nachgeholfen?
Miss Flint fühlte, wie ihr der kalte Schweiß über die Stirn lief. Die düstere Vorahnung einer drohenden Gefahr rollte wie ein große Woge auf sie zu. Hastig verließ sie die Küche und ging nach draußen.
Auf dem Hof angekommen, beschloss zu kurzerhand einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie wollte einfach nur frische Luft schnappen und sich etwas entspannen.
Sie ging wieder in Richtung des kleinen Wäldchen. Plötzlich entdeckte sie auf dem Feldweg ein Auto, das jemand anscheinend dort geparkt hatte. Als sie sich dem Wagen näherte, stieg ein Mann aus und kam ihr entgegen.
Elli Flint musterte ihn erst misstrauisch, doch dann hatte sie das Gefühl, dass ihr von ihm keine Gefahr drohen würde. Im Gegenteil! Sie spürte, dass ihre Sympathie ihm förmlich entgegenflog und dies eine schicksalhafte Begegnung war.
Der fremde Mann mochte ein paar Jahre älter als sie sein. Sie schätze ihn auf etwa achtundzwanzig Jahre. Er hatte eine überaus sportliche Figur, war ungefähr einsachtzig groß und strahlte viel Männlichkeit aus. Die kastanienbraunen Haare hingen ihm keck in die Stirn und seine blauen Augen leuchteten wie zwei Diamanten. Sein stets lächelnder Mund machte ihn doppelt sympathisch.
Die junge Frau starrte ihn fasziniert an.
Großer Gott, was für ein Mann! dachte sie.
Als er auf ihrer Höhe war, grüßte er sie gut gelaunt.
„Guten Tag, schöne Maid. Sie sind sicher das Hausmädchen der Familie Flint.“
Sie blickte ihn an und grüßte freundlich zurück. Dann korrigierte sie ihn.
„Sie werden es vielleicht nicht glauben, mein Herr“, sagte sie neckend, „aber ich bin die neue Besitzerin der alten Brauerei meines Onkels Lionel Flint, der erst kürzlich verstorben ist. Ich kann also nicht das Haus- oder Dienstmädchen sein...“
Sie schaute dabei an sich herunter und betrachtete die verdreckten Gummistiefel. Dann lachte sie.
„Oh, entschuldigen Sie vielmals, Miss...“
„...Miss Elli Flint. Ich komme aus der Gegend von Alloa und wohne seit einer zirka Woche hier auf dem Anwesen der Brauerei. Darf ich wissen, wer Sie sind?“
„Äh.., ich heiße Heinz-Walter Hoetter“, stammelte der junge Mann sichtlich verwirrt. „Es tut mir wirklich leid, Miss Flint, aber...“
„Schon gut“, unterbrach ihn die junge Frau lachend. Ich bin in diesem Aufzug selber schuld an dieser Verwechslung. Aber selbst wenn ich spazieren gehe, lege ich meine Arbeitskleidung nicht immer ab.
Mr. Hoetter schenkte ihr einen bewundernden Blick aus seinen blauen Augen. Dass das Mädchen ihm auf Anhieb gefallen hatte, war unschwer zu erkennen. Auch Elli Flint ging es nicht anders. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der nette junge Mann nie wieder aus ihrem Leben verschwinden möge.
Dann fragte sie ihn, wohin er wollte, da der Weg direkt zum Anwesen der Flints führen würde.
„Ja, in der Tat, ich war auf dem Weg zur alten Brauerei“, erwiderte der junge Mann spontan, „oder genauer gesagt, zu Ihnen, Miss Flint. Wissen Sie, ich bin Schriftsteller und arbeite gerade an einem Buch über geheimnisvolle Begebenheiten und unerklärliche Vorkommnisse. Ich wollte Sie eigentlich darum bitten, mir Gelegenheit zu geben, die alten Gebäude auf Ihrem Gelände ansehen zu dürfen. Ich suche Inspirationen. Sicher sind die Anlagen noch erhalten und es existieren vielleicht sogar irgendwelche historisch wertvolle Unterlagen im Archiv Ihres verstorbenen Onkels, die für mich sehr nützlich sein könnten.“
„Oh, Sie sind Schriftsteller“, sagte die junge Frau beeindruckt. „Natürlich dürfen Sie mich jederzeit besuchen kommen. Ich würde mich sogar darüber freuen, Ihnen alles zu zeigen. Ich würde Ihnen wirklich gerne dabei helfen, dass Ihr Buch ein interessantes, aufschlussreiches und informatives Lesewerk wird, Mr. Hoetter.“
„Das ist überaus nett von Ihnen, Miss Flint. Ich bin hoch erfreut darüber, dass Sie mir soviel Vertrauen entgegenbringen. Das ist nicht alltäglich“, sagte der junge Mann. „Hätten Sie vielleicht auch ein Zimmer für mich? Selbstverständlich bezahle ich für Unterkunft und Verpflegung.“
„Dagegen habe ich etwas. Sie dürfen aber mein Gast sein“, bestimmte Elli Flint kurzerhand. „Sie können solange in meinem Haus wohnen, wie es Ihnen gefällt.“
Die Aussicht, diesen wirklich gutaussehenden jungen Mann nun jeden Tag um sich zu haben, verursachte ein äußerst aufregendes Kribbeln in Elli Flint. Allein bei dem Gedanken schnellte ihr Puls in die Höhe.
„Sind Sie schon länger hier in der Gegend, Mr. Hoetter, nicht wahr.“
Der junge Mann sah sich verlegen um.
„Ja, das stimmt. Ich kam gestern mitten in der Nacht hier an und konnte sie doch unmöglich stören. Ich blieb deshalb im Wagen, und wollte jetzt einen Spaziergang machen und Sie bei dieser Gelegenheit besuchen“, sagte er.
„Was? Sie haben die ganze Nacht in Ihrem Auto verbracht?“ fragte Miss Flint verwundert. Im gleichen Moment erinnerte sie sich daran, dass sie vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation gewesen war.
„Warum sind Sie nicht nach Blairhall gefahren und haben sich dort ein Hotelzimmer gesucht“, fragte sie weiter.
„Weil..., weil es einfach schon so spät war und ich keine Lust mehr hatte, draußen in der nasskalten Nacht herumzufahren. Während er sprach, setzte er sich ins Auto und startete den Motor.
Elli Flint beäugte ihn verstohlen von der Seite, setzte sich dennoch zu ihm in den Wagen auf den Beifahrersitz und beide fuhren sie zusammen den kurzen Weg nach Hause. Sie hatte zu ihm Vertrauen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Trotz ihrer derzeitigen Schwierigkeiten mit einem Teil des Personals und des neuen Besitzes durfte sie ihr Misstrauen nicht auch auf ihn ausdehnen. Sie hatte einen guten Freund zur Zeit bitter nötig. Und sie dachte ein Stück weiter. Vielleicht, wenn er länger bei ihr wohnen bleiben würde, könnte er ihr dabei helfen herauszufinden, was hier nicht stimmte.
***
Als Miss Flint zusammen mit ihrem Gast ins Haus trat, rief sie sofort nach Mrs. Weedman und dem Dienstmädchen Betty. Mark Weedman schien nicht da zu sein.
Als sich alle in der geräumigen Eingangshalle versammelt hatten, trat die jung Hausherrin vor und wies auf den jungen Mann neben ihr.
„Das ist Mister Heinz-Walter Hoetter, unser neuer Gast. Mr. Hoetter ist Schriftsteller und arbeitet zur Zeit an einem Buch. Er ist auf der Suche nach verlassenen Häusern, alten Gebäuden und verfallenen Gemäuern, die für ihn eine gewisse Inspiration darstellen. Ich wünsche, dass er eines der neu renovierten Zimmer auf dem oberen Gang im ersten Stock bekommt. Er wird mit uns alle Mahlzeiten einnehmen und darf sich auf dem gesamten Gelände frei bewegen.“
Das Dienstmädchen Betty nickte mit dem Kopf und begrüßte den Mann freundlich. Nur Mrs. Weedman starrte den neuen Gast an, wie einen Außerirdischen.
„Sie wissen doch, Miss Flint, dass wir hier keine Fremden haben wollen“, knurrte sie gehässig.
Die junge Frau war erbost über diese unfreundlichen Worte. Im Beisein von Mr. Hoetter wandte sie sich an die alte Dame und sagte zu ihr: „Was Sie wollen, ist mir egal, Mrs. Weedman. Sie werden sich nach meinen Wünschen ausrichten oder ich hole mir eine neue Wirtschafterin“, sagte sie hart.
Mrs. Weedeman lief leichenblass an, sagte aber kein Wort mehr, sondern verließ auf der Stelle den Raum.
Nach diesem unfreundlichen Ereignis entschuldigte sich Miss Flint bei ihrem Gast und führte ihn durchs ganze Haus. In der Bibliothek, wo sie zum Schluss hinkamen, ließen sie beide zu einem Drink nieder. Mr. Hoetter zeigte sich von den alten Fachbüchern tief beeindruckt.
„Ich sehe schon, dass es hier einen reichhaltigen Bücherfundus gibt. Das hätte ich mir nie zu träumen gewagt. Ich frage mich nur, wann ich das alles lesen soll.“
„Oh, Sie können hier bleiben, solange Sie es für nötig halten“, erwiderte die junge Frau und fühlte, wie ihr eine leichte Röte über die Wangen kroch.
Der junge Mann bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln.
„Ich bin darüber sehr froh, Miss Flint.“ Dann schaute er zum Fenster hinaus und deutete auf die alten Brauereigebäude.
„Wie stets mit denen da drüben? Kann man die Gebäude besichtigen und sind die Anlagen noch vorhanden?“
„Nein... ja, das heißt...die Tore sind...“
Die hübsche Hausherrin wusste auf einmal nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich dafür, dass sie ihren Besitz nicht einmal richtig kannte.
Sie entschloss sich dazu, Mr. Hoetter die Wahrheit zu sagen. Sie sprach von dem widerspenstigen Person, dem Lastwagen, den fremden Männern in der Nacht und dass Mark Weedman ihr untersagt hatte, die Gebäude innen zu betreten, er selbst jedoch mit seinen engsten Freunden darin ein und ausging. Auch von den seltsamen Geräuschen berichtete sie ihm, die sie des nachts in Angst und Schrecken versetzt haben.
Der junge Mann hörte ihr interessiert zu. Zu interessiert, wie sie fand, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken. Sie war froh darüber, sich jemanden anvertrauen zu können.
Nach dem Mittagessen verlangte sie von Mark Weedman energisch die Schlüssel zu den alten Brauereigebäuden. Mit einiger Genugtuung sah sie, wie Mr. Weedman erblasste. Doch sein hasserfüllter Blick jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein.
„Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich niemanden den Zugang ins Innere der Gebäude gewähren kann, außer dem arbeitenden Personal, die sich um die Instandhaltung kümmern, Miss Flint“, sagte er mit scharfer Stimme, „und Fremde haben da drüben schon gar nichts verloren. Haben Sie die Folgen schon bedacht, wenn ihnen oder Ihrem Begleiter etwas zustoßen würde?“
„Das müssen Sie mir nicht erzählen. Sie verstoßen ja ständig dagegen, Mr. Weedman. Wir wollen vorläufig ja auch nur den Innenhof besichtigen“, erklärte Miss Flint und streckte ungeduldig die Hand nach den Schlüsseln aus.
Mark Weedman fiel es anscheinend sehr schwer, sich jetzt noch zu beherrschen.
„Ich komme auf jeden Fall mit“, sagte er dann etwas freundlicher, „bitte gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, ich möchte mich nur von meinem Freund verabschieden.“
Miss Flint blickte ihm skeptisch hinterher. Dieser Mann besaß eine unglaubliche Dreistigkeit. Er schien sie immer noch wie eine Fremde zu behandeln, obwohl er genau wusste, dass sie die neue Herrin war. Aber vielleicht würde sich schon bald eine günstige Gelegenheit ergeben, um ihn ein für allemal loszuwerden. Dieser Kerl war für sie untragbar.
Draußen vor der Tür traf Mr. Weedman auf seine Mutter. Er hielt sie am Arm fest und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann verschwand er hastig.
„Gehen wir doch einstweilen schon mal rüber, Miss Flint“, schlug der junge Schriftsteller plötzlich vor, „Sie können mir ja vorher noch das Grundstück zeigen, wenn es Ihnen recht ist.“
„O nein, bleiben Sie doch bitte noch da“, rief Mrs. Weedman auf einmal etwas schrill aus der Küche. „Ich wollte Ihnen eben eine Eistorte in der Bibliothek servieren.“
Und schon kam sie mit diesen Worten aus der Küche und trug ein wahrhaftes Kunstwerk von Eis und Biskuits vor sich her. Ohne einen Einwand abzuwarten, steuerte sie damit auf die Bibliothek zu.
„Ein Eistorte? Das ist ja wunderbar! Darauf hätte ich jetzt einen Riesenappetit.“
Ohne zu zögern folgte Mr. Hoetter der alten Frau und Miss Flint ärgerte sich darüber, dass sie keine Möglichkeit hatte, die Sache zu ändern. Sie wollte ihren Gast nicht verprellen. Deshalb ging sie ebenfalls rüber in die Bibliothek und ließ sich ein Stück von der Eistorte geben.
„Ich kann Ihnen viele interessante Geschichten erzählen, junger Mann. Die Bücher hier in der Bibliothek sind ein Vermögen wert. Teilweise sind es richtige kleine Kunstwerke und älter als wir alle zusammen genommen. Können Sie sich vorstellen, was die bei einer Auktion bringen würden? Mr. Lionel Flint hatte zu Lebzeiten schon sehr früh damit begonnen, einen Teil seiner sehr wertvollen Bücher schätzen zu lassen. Als er einige davon schließlich versteigern ließ, war der Erlös gewaltig. Und das waren nur ein paar ganz wenige Exemplare aus dem vorhandenen, uralten Familienbesitz. Eigentlich gehören sie gar nicht hierhin. Sie sind von unschätzbarem Wert. Stellen Sie sich nur vor, Diebe brechen ins Haus ein und würden diesen wertvollen Kulturschatz rauben. Das wäre eine Katastrophe für uns alle.“
Miss Flint hätte die alte Frau am liebsten auf den Mond geschossen. Sie ärgerte sich maßlos darüber, dass der junge Mann mit der Wirtschafterin so ins Gespräch vertieft war und löffelt deshalb missmutig ihr Eis.
Plötzlich hörte sie ein lautes Motorengeräusch. Der jungen Mr. Hoetter schien sich nichts dabei zu denken, aber in den Augen der alten Frau blitzte es befriedigt auf.
So ist das also. Man hatte sie auf raffinierte Art und Weise reingelegt, dachte Elli Flint wütend und warf einen Blick durchs Fenster. Sie konnte zwar nicht erkennen, aber sie wusste auch so, dass eben der Lastwagen aus dem Innenhof der Brauerei gefahren wurde. Sie und ihr Gast Mr. Hoetter sollten den Lastwagen nicht sehen und unter die Lupe nehmen können. Sicherlich hatte er etwas geladen, was niemand wissen sollte.
Nach einer Weile verabschiedete sich Mrs. Weedman mit einem triumphierenden und gehässigen Blick auf ihre Herrin. Plötzlich erschien auch wieder ihr Sohn auf der Bildfläche und tat so, als wäre nichts geschehen.
„Wollen wir jetzt gehen?“ fragte Miss Flint den jungen Mann, der sogleich nickte und sich aus dem Sessel erhob. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, mit ihm hinüberzugehen. Mark Weedman hatte ja Zeit genug gehabt, alles zu vertuschen. Sie würde kaum noch etwa Interessantes oder Verbotenes entdecken.
Wenige Minuten später betraten sie alle gemeinsam den Innenhof, in dem noch die Reifenspuren von dem LKW zeugten. Ein paar Backsteinhaufen waren an den Wänden aufgeschichtet worden. Daneben lagen Bretter und ein Betonmischer stand in er Nähe einer schadhaften Mauer, die wohl erst vor kurzem ausgebessert worden ist.
Während Mark Weedman ihrem Gast alles erklärte, schaute sich die junge Frau um. Ihr Blick fiel dabei zufällig auf ein vergittertes Fenster, das sich etwa einen halben Meter über dem Boden in einer alten Ziegelmauer befand. Es sah aus wie ein altes Kellerfenster. Dahinter konnte sie nichts als pechschwarze Dunkelheit erkennen. Als sie sich dem Gitter unauffällig näherte, roch es förmlich nach Geheimnis, Tod und Verbrechen. Vielleicht ein Kerker mit Leichen?
Die junge Frau erschrak vor ihren eigenen Gedanken und schüttelte sich vor Entsetzen. Ihr Angstgefühl verstärkte sich noch weiter, als sie einen Kellerschacht sah, in den Mark Weedman vor ein paar Tagen anscheinend noch Kisten runter gebracht hatte. Jetzt war er bis zum Rand mit altem Baumaterial zugeschüttet worden.
Mark Weedman warf ihr einen eigentümlichen Blick zu. Offenbar beobachtete er sie, was sie tat.
„Miss Flint hat vor, das Gebäude abreißen zu lassen“, hörte sie ihn gerade laut sagen. „Aber es steht unter Denkmalschutz, und es wäre ja wohl auch schade darum.“
„Kann mir bitteschön jemand einen anderen Vorschlag machen“, sagte sie, als sie zu den beiden Männern getreten war.
„Ich würde eine Kernsanierung durchführen lassen und ein Museum daraus machen. Die meisten Geräte und Kessel sind schließlich noch hier, und die wertvollen alten Bücher samt historischen Trinkgefäße könnte man in sicheren Panzerglasvitrinen ausstellen“, meldete sich Mark Weedman zu Wort.
„Keine schlechte Idee“, gab der junge Gast anerkennend zu. „Sie könnten vielleicht sogar zusätzlich noch ein Gasthaus bauen lassen und die Sache hätte somit Hände und Füße. Interessenten würden bestimmt nicht ausbleiben. Zusätzlich müssten noch genügend Parkplätze gebaut und die Zufahrtstraße erweitert werden, wegen der Busse mit den zahlungskräftigen Urlaubsgästen, die dann zu erwarten wären“, meinte Mr. Hoetter.
Miss Flint starrte den jungen Mann verblüfft an. Die Idee war wirklich nicht schlecht, zudem so ein aufwändiges Projekt sicherlich mit staatlicher Unterstützung rechnen könnte. So käme sie in den Genuss von nicht unerheblichen Zuschüssen und könnte ihr eigenes Vermögen schonen.
Dann blickte sie zu Mark Weedman hinüber, der mit den Händen in den Hosentaschen gelangweilt dastand. Im Prinzip kam der Vorschlag ja von ihm, aber in seinen Augen glaubte sie, eine Warnung zu lesen.
Außerdem konnte sie sich keinen Reim darauf machen. wieso ausgerechnet er ihr jetzt dazu riet, ein Museum daraus zu machen? Sie hatte doch ehr den Eindruck gehabt, als wolle man sie von hier vertreiben.
Alle drei machten später noch einen Rundgang und ihr Gast und sie durften sogar eine Halle betreten, in der riesige Kupferbottiche standen. An einer Stelle war die Decke durchbrochen, und Miss Flint konnte sich selbst davon überzeugen, dass es ein große Gefahr darstellte, die Gebäude zu betreten. Sie wurde immer unsicherer und verwirrter. Gab es hier in der alten Brauerei überhaupt ein Geheimnis? Langsam zweifelte sie daran.
Sie atmete einmal tief durch. Dann fielen ihr wieder die Kisten und der verschüttete Kellergang ein. Es sah trotzdem so aus, als wenn Mr. Weedman und seine alte Mutter etwas zu verbergen hatten. Sie würde schon noch dahinter kommen, dachte sie so für sich selbst.
Nachdem sie wieder ins Haus zurückgekehrt waren, bekam Mr. Hoetter ein hübsches Zimmer in der Nähe von Miss Flints Räumen. Sie half ihm dabei, es entsprechend häuslich einzurichten.
Während sie das Fenster des Zimmers öffnete, um den Raum zu lüften, fing der junge Mann plötzlich an zu reden.
„Ist es für eine so hübsche Frau wie Sie, Miss Flint, hier nicht ein wenig zu einsam?“ fragte er rundheraus.
„Nun ja, wie man’s nimmt. Ja doch, eigentlich schon. Jedenfalls für jemanden wie mir, der eigentlich aus der Stadt kommt. Es ist schon eine Umstellung. Aber es kommt darauf an, mit wem man zusammenlebt und wie man sich versteht, denke ich mal. Dann wird so manches erträglicher. Aber ob ich auf Dauer hier bleiben werde, wird sich dann noch herausstellen.“
„Wie finden Sie die Idee mit dem Museum?“ wollte Mr. Hoetter wissen.
„Eigentlich nicht so schlecht. Geld wäre für so ein Projekt mehr als genug da. Die Einnahmen würden bald die Ausgaben wett machen. Ich arbeitete vor meiner Erbschaft in einer Anwaltskanzlei und kam immer wieder mit Geschäftsleuten in Kontakt, die ähnliche Projekte an ebenso weit abgelegenen Orten durchzogen. Sie waren alle erfolgreich. Außerdem kämen wieder viele Gäste nach Blairhall und in die alte Flint’sche Brauerei. Dann wäre hier wieder ganz schön was los und die Einsamkeit dahin.“
„Und dann gäbe es sicher noch einen jungen Mann, der Sie heiratet und bei Ihrer anstrengenden Arbeit unterstützt“, sagte Mr. Hoetter mit einem fast bedauerlichen Gesichtsausdruck.
Miss Flint errötete bis unter die blonden Haarwurzeln.
„Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber bestimmt wird mir eines schönen Tages ein schöner Märchenprinz über den Weg laufen und mich vom Fleck weg heiraten“, sagte sie mit verschmitztem Lächeln.
In Gedanken aber fragte sie sich, ob sie das nicht schon war und schaute dem jungen Mann dabei tief in die Augen.
Der Schriftsteller war ein Mann, den sie lieben könnte, auch wenn sie nicht viel von ihm wusste und ihn erst seit wenigen Stunden kannte.
Sie saßen noch lange zusammen an diesem Abend. Als Miss Elli Flint weit nach Mitternacht ihrem männlichen Gast eine gute Nacht wünschte, hatte sie das schöne Gefühl, einen guten, verlässlichen Freund gefunden zu haben.
Und vielleicht, wenn das Schicksal es so wollte, noch ein bisschen mehr...
***
Der Mond schien bleich wie ein trübe Funzel in Miss Flints Schlafzimmer. Sie lag mit offenen Augen im Bett und konnte nicht schlafen.
Ricky, der treue Schäferhund lag, alle Viere von sich gestreckt, auf einer warmen Decke unter dem Fenster und schlief. Manchmal zuckte er zusammen und knurrte dabei, als würde er im Traum jemanden verfolgen.
Plötzlich glaubte Miss Flint, draußen auf dem Flur Schritte zu hören. Auch der Hund war wach geworden und spitzte die Ohren. Er sah zur Schlafzimmertür rüber.
Wer mochte mitten in der Nacht auf dem Gang herumschleichen. Vielleicht ihr neuer Gast?
Die junge Frau verließ das Bett, ging entschlossen zur Tür, öffnete sie vorsichtig und schaute auf den Gang hinaus. Doch alles war vollkommen finster und leise.
Schon wollte sie wieder die Tür schließen, als sich hinten am Fenster ein Schatten bewegte. Elli Flint erschrak. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Am liebsten hätte sie laut um Hilfe gerufen. Doch dann riss sie sich zusammen.
„Ist da jemand?“ rief sie mit erstickter Stimme in den Gang hinein. Doch nichts und niemand rührte sich. In diesem Moment fiel ihr die Taschenlampe ein, die sie gleich neben der Tür auf ein kleines Regal gestellt hatte, sozusagen für alle Fälle. Schnell griff sie nach ihr und leuchtete in die dunkle Ecke. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich getäuscht haben musste. Sie verschloss trotzdem die Tür und ging wieder ins Bett zurück.
Am nächsten Morgen machte sich Miss Flint sorgfältig zurecht. Sie wollte ihrem neuen Gast gefallen, das gestand sie sich offen ein. Sie hatte dem Dienstmädchen angeordnet, diesmal im Speisesaal frühstücken zu wollen.
Als sie dort ankam, saß der junge Mann bereits am Tisch und trank gerade seinen Kaffee. Ihr Herz klopfte, als sie ihn sah und mit einem freundlichen ‚Guten Morgen’ begrüßte. Er grüßte ebenso freundlich zurück.
Dann setzte sie sich zu ihm.
„Haben Sie in ihrer ersten Nacht in meinem Haus gut geschlafen?“ erkundigte sie sich bei ihm.
„Ich habe wunderbar geschlafen und fühle mich wie neugeboren“, sagte er mit einem frischen Lachen.
„Und Sie, Miss Flint?“
Was sollte sie darauf antworten und wich seiner Frage murmelnd aus. Sie widmete sich schnell dem Frühstück. Sie hatte keine große Lust dazu, über den nächtlichen Vorfall mit ihm zu reden.
Als ihr Dienstmädchen später reinkam, um das benutzte Geschirr abzuräumen, sah Miss Flint, dass auch sie in der Nacht offenbar schlecht geschlafen und die Geräusche auch wieder gehört hatte. Miss Flint wusste, dass sie irgend etwas unternehmen musste, doch war ihr nicht klar, was.
Mr. Hoetter hatte sich mehrere Bücher aus der Bibliothek geholt und mit auf sein Zimmer genommen. Er schien bereits an seinem Manuskript zu schreiben. Jedenfalls gab er das vor. Miss Flint konnte ihn einmal sogar dabei beobachten, wie er heimlich, als er sich unbeobachtet fühlte, ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche hervor holte und darin etwas hineinschrieb.
So ging das die ganze Zeit. Miss Flint blieben nur ein paar Stunden am Abend, wo sie mit dem jungen Mr. Hoetter bei einem Drink zusammensitzen und plaudern konnte. Aber diese Zusammenkünfte hatten genügt, um sich über ihre Gefühle zu ihm klar zu werden. Noch niemals zuvor in ihrem ganzen Leben hatte ein Mann auf sie einen solch starken Eindruck gemacht. Er schien ihre Gefühle ebenfalls zu erwidern, obwohl er es tunlichst vermied, sich ihr zu nähern.
Die beiden Weedmans standen der neuen Hausherrin nach wie vor feindselig gegenüber. Auch Mr. Hoetter gegenüber hatte die alte Wirtschafterin ihre Redseligkeit eingestellt und behandelte ihn mürrisch und voller Misstrauen.
Überhaupt schien etwas in der Luft zu liegen. Die Weedmans wirkten seltsam nervös und beobachteten die anderen Bewohner des Hauses mit lauernden Blicken.
Plötzlich fasste Miss Flint einen Entschluss, als sie sah, das Mr. Hoetter in der Bibliothek Platz genommen hatte und sich über ein paar alte Dokumente beugte, die er offenbar gründlich studieren wollte.
Die Gelegenheit war also günstig.
Sie ging nach oben in den Flur, sah sich nach allen Seiten vorsichtig um und öffnete dann leise die Tür ihres Gastes. Miss Flint hatte zwar ein unbehagliches Gefühl dabei, aber die Neugierde war einfach größer als ihre moralischen Bedenken. Sie wollte endlich einen Blick auf seine Arbeit werfen. Vielleicht fand sie auch etwas, das ihr mehr Aufschluss über Mr. Hoetter brachte.
Der wuchtige Schreibtisch war für einen Schriftsteller viel zu ordentlich aufgeräumt. Keine Bücher, kein lose herum liegendes Papier war zu sehen. Nur ein Laptop befand sich darauf, der aber geschlossen war. Auf dem polierten Deckel hatte sich eine kleine Staubschicht gebildet, was darauf hinwies, dass er wahrscheinlich nur selten benutzt wurde.
Miss Flint fragte sich, was Mr. Hoetter den ganzen Tag auf ihrem Gelände so trieb. Sie konnte es sich nicht erklären. Dann verließ sie den Raum wieder, schloss leise die Tür und ging wieder nach unten.
Als sie in die Bibliothek sah, war der junge Schriftsteller nicht mehr da. Sie erschrak etwas. Hatte er bemerkt, dass sie ihm nachspionierte?
Wo mochte er nur stecken?
Sie ging auf den Hof hinaus, wo sein Auto stand. Also konnte er nur irgendwo auf dem Gelände sein. Erleichtert atmete die junge Frau auf. Peinlich, wenn sie ihn in seinem Zimmer erwischt hätte.
Sie dachte darüber nach, was sie jetzt machen sollte und entschloss sich dazu, wieder einen kleinen Spaziergang zu machen, diesmal ohne ihren männlichen Gast.
Wie schon so oft ging Miss Flint immer die gleiche Strecke hügelan.
Von hier oben aus hatte sie einen fantastischen Blick über die gesamte Landschaft. Die abgelegene Stelle auf dem Hügel war ihr Lieblingsplatz geworden. Sie blieb noch lange hier oben. Langsam wurde es dunkel.
Als sie sich endlich wieder auf dem Heimweg machte, nahm sie die Abkürzung durch den kleinen Mauerdurchbruch und stand bald wieder an der rückwärtigen Front des alten Brauereigebäudes. Plötzlich entdeckte sie eine Holzleiter unter einem der vergitterten Fenster. Es sah fast so aus, als hätte sie jemand dorthin gestellt, um besser durch das Fenster sehen zu können.
Der Zauber der Abendstunde war verflogen. Miss Flint wurde von einer inneren Unruhe und drängelnden Neugierde gepackt. Mit einem Satz sprang sie auf die Leiter, kletterte Sprosse für Sprosse hoch, streckte ihre Hände nach den Gitterstäben, um sich daran festzuhalten zu können. Die Holzleiter wackelte bedenklich, als sie noch weiter hinaufstieg. Plötzlich rutschte die Leiter mit einem Ruck zur Seite und die junge Frau verlor den Halt. Instinktiv hielt sie sich an den Gitterstäben fest und konnte so einen gefährlichen Sturz in die Tiefe vermeiden. Die Holzleiter kippte jetzt ganz um und Miss Flint hang hilflos an den Gitterstäben des steinernen Fensters hoch über dem Boden. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, doch niemand hörte ihre ängstlichen Rufe. Nach einer Weile erschlafften ihre gefühllos gewordenen Hände und sie ließ sich kraftlos aus über drei Meter Höhe in die Tiefe fallen. Sie schlug hart auf den trockenen Erdboden auf und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Benommen wollte sie sich noch aufrichten, sank aber im nächsten Augenblick in eine bodenlose Finsternis.
***
Als die junge Frau wieder zu sich kam, lag sie auf einer schmutzigen Pritsche in einem provisorisch eingerichteten Kellerraum. Sie schaute sich um und erblickte durch ein Eisengitter drei Männer und eine Frau, die an einem alten Holztisch saßen und offensichtlich Whiskey tranken.
„Eure neugierige Herrin habe ich sicher eingesperrt“, erklärte Fred White, der Mann mit den schwarzen Haaren und stieß ein hässliches Lachen aus.
„Eigentlich schade um das schöne Kind“, meinte Mark Weedman und nahm einen tiefen Schluck aus dem Whiskeyglas.
„Habt jetzt bloß keine Mitleid mit ihr!“ giftete die alte Mrs. Weedman. „Wir können sie hier nicht gebrauchen. Um ein Haar hätte sie uns alles verdorben mit ihrer verfluchten Schnüffelei.“
Etwas wie Irrsinn flackerte in ihren Augen.
„Und dieser Mr. Hoetter ist genauso neugierig. Er steht als nächster auf unserer Abschussliste, bemerkte der dritte Mann, der ihr bisher unbekannt geblieben war.
„Richtig Chad. Du warst schon immer für klare Verhältnisse. Das schätze ich so an dir“, sagte Fred White grinsend zu ihm. Mr. Weedman nickte bestätigend mit dem Kopf.
„Wenn wir ihn haben, wird er ausgeschrieben haben. Beide werden den Keller nicht mehr lebend verlassen, sobald der Unheimliche kommt und sich ihrer genüsslich annimmt“, fügte Mark Weedman noch hinzu. Er löste damit ein schallendes Gelächter aus. Zwischendurch klirrten immer wieder die Whiskeygläser. Dann verließen sie den Kellerraum und schalteten das Licht aus. Eine schwere Holztür wurde zugeschlagen. Dann trat eine fürchterliche Stille ein.
***
Miss Elli Flint schrie und tobte wie von Sinnen. Sie hämmerte gegen das Eisengitter, bis ihre Hände blutig waren. Immer wieder schrie sie um Hilfe, obwohl sie wusste, dass sie hier unten im Keller der alten Brauerei niemand hören konnte. Jedenfalls niemand, der ihr wieder hier raus helfen würde. Als aus ihrer Kehle nur noch ein heiseres Krächzen kam, brach sie ab und sank erschöpft zu Boden. Sie saß völlig im Dunkeln. Offensichtlich gab es hier kein Fenster, denn nicht einmal der kleinste Lichtschein drang zu ihr.
Jetzt bemerkte sie auch, wie schlecht die Luft hier unten war. Sie vermochte kaum zu atmen. Es roch nach Moder und verwestem Fleisch. Der penetrante Geruch ließ panische Angst in ihr hochkommen. Vielleicht wurden in diesem weitläufigen Kellerräumen Menschen getötet und ihre Leichen irgendwo verscharrt?
Elli Flint schluchzte leise vor sich hin. War sie nun verloren oder gab es doch noch Rettung für sie? Sie fragte sich außerdem, was man mit ihr vorhatte und wen Mark Weedman meinte, als er von dem „Unheimlichen“ sprach, der sich ihrer genüsslich annehmen würde.
Verzweifelt klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihr Hausmädchen Betty vielleicht die Polizei verständigte, wenn sie nicht mehr auftauchen würde. Doch Stunde um Stunde verging. Die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit. Elli Flint hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren.
Irgendwann hörte sie ein Geräusch. Schritte mehrerer Personen näherten sich. Sie konnte die jammernde Stimme eines Mannes hören, der offenbar in den Keller geschleppt wurde. Doch die Schritte gingen an ihrem Kellerverlies vorbei. War das Mr. Hoetter, den man hier nach unten brachte? Sie wusste es nicht.
Plötzlich schrie eine Männerstimme von schlimmen Schmerzen gepeinigt laut auf. Dumpfe Schläge waren zu hören, wie Schläge mit einem harten Stock auf einen nassen Sack. Das schreckliche Geräusch brechender Knochen drang zu Miss Flint vor, das sie in panische Angst versetzte. Dann fing sie wie von Sinnen an zu schreien.
Jemand öffnete die Tür.
Mit einem höhnischen Auflachen, das gespenstisch durch das Kellergewölbe hallte, trat der schwarzhaarige Mann in den Raum und kam auf das Verlies zu, in dem Elli Flint zitternd auf dem Boden kauerte. Er war über und über mit Blut und menschlichen Fleischresten besudelt.
„Ruhe sanft, meine Süße. Ich bin gekommen, um dich zu fressen. Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich mir deinen verfluchten Schriftsteller vorknöpfen. Leider ist er bis jetzt noch nicht aufgetaucht, aber ich werde ihn schon finden. Vielleicht brauche ich auch nur auf ihn zu warten, bis er nach dir zu suchen anfängt. Dann ist es aus mit ihm“, sagte der Mann und fing boshaft zu grinsen an.
Von Grauen geschüttelt wich Miss Flint bis in den hintersten Winkel des Kellerverlieses zurück. Mit maßlosem Entsetzen musste sie miterleben, wie sich Fred White langsam Schritt für Schritt in eine Echsen artige Kreatur mit riesigen Reißzähnen verwandelte und die eisernen Gitterstäbe mit seinen gewaltigen Pranken wegriss, als wären sie aus dünnem Sperrholz.
Die junge Frau hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick den Verstand zu verlieren. Keuchend lehnte sie sich vor die feuchte Wand und musste sich übergeben. Nebel tanzte vor ihren Augen und dann glitt sie mit einem erstickten Schrei halb bewusstlos zu Boden. Das Grauen löschte ihr Bewusstsein aus, als das schreckliche Ungeheuer durch die verbogene Gitterkonstruktion stieg und langsam schleichend mit weit aufgerissenem Maul auf sie zukam. Dann schoss plötzlich eine schwarze Flüssigkeit auf sie zu, die ihre blass gewordene Haut zum Brodeln brachte. Doch die Schmerzen der ätzenden Säure spürte sie nicht mehr. Miss Elli Flint war schon tot, als sich die grausame Bestie brüllend vor Gier auf Menschenfleisch über sie warf und genüsslich grunzend verspeiste.
Als die blutige Fressorgie des unheimlichen Monsters endlich vorbei war, nahm es plötzlich einen silberfarbenen, Bumerang ähnlichen Gegenstand zwischen seine Klauen und drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche, die sofort rot aufleuchteten. Im nächsten Moment löste sich der Körper der schrecklichen Kreatur wie eine geisterhafte Erscheinung langsam im Nichts auf, als hätte es sie nie gegeben. Dann wurde es ruhig im Kellerverlies der alten Brauerei. Nur ein paar blutverschmierte Knochen, die zusammen mit einigen Fleischresten verstreut auf dem kalten Steinfußboden lagen, hatte es zurückgelassen.
Später, es war schon weit nach Mitternacht.
Ein dichter Nebel lag wie ein trüb weißes Leichentuch über der stillen Landschaft, als sich eine kleine, oval förmige Flugmaschine aus einer der halbverfallenen Brauereigebäude erhob, sich einmal schwungvoll um die eigene Achse drehte und schließlich mit aufheulenden Triebwerken rasend schnell in den nächtlichen Himmel jagte.
Mrs. Weedman und ihr Sohn Mark standen draußen auf dem dunklen Hof und blickten dem seltsamen Flugobjekt mit böse grinsenden Gesichtern hinterher. Sie hatten dem Ungeheuer aus dem All wieder einmal Menschennahrung im Überfluss beschaffen können. Es würde lange dauern, bis es zu ihnen erneut käme, und wenn, dann aber bestimmt nicht wieder in der Gestalt von Fred White.
***
Mr. Heinz-Walter Hoetter, der junge Schriftsteller, fuhr seinen Wagen an den Rand des Feldweges. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und versuchte Herr über seine Gedanken zu werden. Was immer auf dem Anwesen der alten Flint’schen Brauerei vorgegangen sein mochte, er konnte sich des seltsamen Gefühls nicht entziehen, dass er für den schrecklichen Tod der jungen Frau irgendwie mitverantwortlich gewesen war.
Nachdenklich stieg er aus und marschierte in der Dunkelheit jenen Hügel hinauf, den auch Miss Flint so oft auf ihren Spaziergängen besucht hatte. Von der Anhöhe aus hatte man eine fantastische Aussicht nach allen Seiten über die weite Landschaft.
Als er oben angekommen war, blickte er hinunter auf das von wallenden Nebelschwaden durchzogene Anwesen der Familie Flint. Nur der Mond warf sein bleiches Licht in den leeren Innenhof und erhellte ihn auf gespenstische Weise.
Er bekam gerade noch mit, wie zwei schemenhafte Gestalten im trüben Hoflicht die Treppe hinaufgingen und im Haus verschwanden. In den Räumen, wo Miss Flint die ganze Zeit über gewohnt hatte, ging plötzlich das Licht an.
Mr. Hoetter ahnte schon, was sie vorhatten.
Irgendwo schrie im nah gelegenen Wald ein Käuzchen. Für den jungen Schriftsteller wurde es langsam Zeit zu gehen.
Er holte noch schnell sein Notizbuch hervor und schrieb etwas hinein, das nur für ihn bestimmt war.
Hier ist die Geschichte zu Ende. Leider konnte ich Miss Elli Flint vor dem schrecklichen Monster nicht retten.
Danach ging er zu seinem parkenden Fahrzeug zurück, stieg ein, startete den Motor und brauste im dichten Nebel davon.
Seitdem ward er in dieser Gegend nie wieder gesehen.
© Heinz-Walter Hoetter
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Heinz-Walter Hoetter
***
„Es wird Zeit. Du musst aufstehen!“ sagte die mechanisch klingende Stimme aus dem unsichtbaren Bettlautsprecher. „Draußen scheint die Sonne und es wird heute ein herrlicher Tag! Die Vögel zwitschern lustige Lieder, die Bäume rauschen sanft im lauen Morgenwind! – Also…, raus aus dem Bett!“
Ron Livingston stöhnte leise, legte sich das breite Kopfkissen auf die Ohren und drehte sich widerwillig auf die andere Seite. Er wollte einfach nichts hören.
„Aufstehen! Was ist mit dir?“ drängte die Stimme. „Ich bin davon überzeugt, dass du voller Energie, Schwung und Tatendrang bist. Die Welt da draußen wartet auf dich! Also raus aus dem warmen Bett! Stell’ dich nicht so an! Komm schon!“
„Verdammt noch mal, hör endlich auf!“ stöhnte Ron.
Ein paar Minuten später.
„Du bist ja immer noch nicht aufgestanden! Ich möchte, dass du jetzt sofort aufstehst!“ befahl die plärrende Stimme energisch. „Die Zeit drängt. Es ist schon sehr spät. Wie oft soll ich denn noch sagen, dass du aufstehen sollst? Ich werde mich jetzt abschalten. Das hast du nun davon.“
Die metallisch klingende Stimme verstummte. Ron Livingston fühlte sich irgendwie erleichtert. Dann machte er sich daran, einfach weiterzuschlafen. Im gleichen Augenblick ertönte aus dem Lautsprecher ein nervtötender, heller Dauerton, der wie eine Polizeisirene klang. Ärgerlich warf Ron das Kissen auf den Boden und setzte sich aufrecht ins Bett. Wutentbrannt schlug er mit beiden Fäusten auf die hölzerne Bettkante und schrie tobend ins Zimmer hinein.
„Verflucht noch mal! Du sadistischer Hund! Wie kann man nur so gefühllos sein!“ tobte er. „Warum lässt du mich nicht schlafen? Es könnte mir schlecht gehen, oder ich könnte sogar im Sterben liegen. Aber was kümmert dich das schon? Du bist ja nur ein seelenloses Programm.“
Als Ron Livingston endlich am Bettrand saß, dachte er über die Stimme nach, die er für total verlogen hielt. Wo waren denn die Vögel, die so schön zwitscherten und die Bäume, die angeblich im Wind rauschen? Und falls es eine Sonne geben sollte, würde sie mit Sicherheit vor lauter Smog und Dreck niemand sehen können. Er fühlte sich auch nicht voller Energie, Schwung und Tatendrang. Im Gegenteil! Jeder Muskel seines Körpers tat ihm weh. Deshalb sehnte er sich danach, einfach in Ruhe gelassen zu werden. Aber der Tag hatte nun schon mal angefangen. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
Ron schleppte sich mürrisch hinüber in den Duschraum. Seine Gedanken kreisten um seine körperliche Erschöpfung und er fragte sich, weshalb er so erledigt war. Hatte er vielleicht nur zu viel gearbeitet? Könnte aber auch ganz gut sein, dass er sich in der letzten Zeit insgesamt einfach zu viel zugemutet hatte. Manchmal waren die Nächte ziemlich lang geworden. Trotzdem müssten in seinem Alter eigentlich fünf bis sechs Stunden Schlaf ausreichen, sinnierte er.
In Wirklichkeit sind es die Sorgen, die mich quälen, grübelte Ron Livingston weiter. Nebenbei griff er nach dem Rasierschaum und verteilte ihn gleichmäßig auf Kinn und Wangen. Vieles in meinem Leben war schiefgelaufen und manches hätte ich bestimmt besser machen können, fiel ihm während des Rasierens ein. Aber das Jammern hilft jetzt auch nichts mehr und im Nachhinein ist man immer klüger, murmelte Ron mürrisch vor sich hin. Er sah dabei sein Gesicht im Spiegel und es kam ihm so vor, als würde er einen Fremden in die Augen sehen.
Nachdem er seine Toilette beendet hatte, ging er rüber in die Küche und kramte in den Schubladen herum. Er suchte nach einem Kaffee und wenn es diesen nicht gab, so hoffte er doch insgeheim irgendein Pulver zu finden, um dem heißen Wasser wenigsten etwas Geschmack geben zu können. Fluchend suchte Ron überall weiter, fand aber nichts. Er machte sich deshalb einige Vorwürfe und schwor sich, beim nächsten Einkauf an Kaffee, Tee und Geschmackspulver zu denken. Nebenbei dachte er an seinen Bruder Robert, der sich ab und zu bei ihm einquartierte, wenn er wieder mal knapp bei Kasse war. Aber auf den war auch nicht immer Verlass. Gutheit ist eben Dummheit, machte er sich zum Vorwurf.
Wütend über sich selbst zog sich Ron an und verließ die schicke Wohnung. Draußen im Hausflur standen bereits einige Bewohner vor dem Aufzug, der gerade surrend ankam. Als sich die breite Fahrstuhltür geräuschlos öffnete, zwängte sich Ron zusammen mit den anderen Wartenden hinein und die Fahrt ging hundert Stockwerke tief bis runter ins Erdgeschoss. Unten angekommen hastete er durch das Gewühl der Leute rüber zur Cafeteria. Zum Glück fand er gleich einen Sitzplatz an der Theke. Kurz darauf erschien ein weiblicher Bedienandroide und fragte nach seinen Wünschen. Ron bestellte sich einen heißen Kaffee und etwas Marmorkuchen. Keine fünf Minuten später stand alles vor ihm auf dem Tresen.
Gerade als er nach der Tasse Kaffee greifen wollte, wurde er von einer jüngeren Frau angesprochen, die plötzlich neben ihm auf dem freien Stuhl Platz genommen hatte. Die Frau rückte näher an Ron Livingston heran, dem das gar nicht behagte.
„Essen Sie oft hier in diesem Laden?“ fragte sie etwas ungeschickt.
Ron schaute die junge Frau verdutzt an und schüttelte instinktiv mit dem Kopf. Dann drehte er sich wieder um, als hätte er sie nicht gesehen.
Die Frau ließ sich davon nicht entmutigen, als sie bemerkte, dass ihre Frage offensichtlich nicht auf Gegenliebe stieß.
„Ich auch nicht. Ich bin sowieso der Meinung, dass es zu Hause immer noch am Besten schmeckt. Meinen Sie nicht auch? Übrigens wohne ich im neunzigsten Stockwerk, Wohnbox Nr. 90 12 52. Sie wohnen im gleichen Wohnturm… Stimmt’s?- Ich heiße übrigens Marie Warless.“
„Ron Livingston, 100 20 46. Ich bin eigentlich auf dem Weg zur Arbeit und hab’ es eilig.“
„Was? Sie sind Ron Livingston? Der bekannte Filmemacher? Sie wohnen nur zehn Stockwerke über mir? Ich habe schon viel von Ihnen gehört Mr. Livingston. Ich finde ihre Filme einfach hinreißend. Besonders der letzte, na wie hieß der noch?“
„Das Leben der Ritter im Mittelalter?“
„Äh, ja genau der!“ gab die Frau zur Antwort.
„Hat ihnen der Film wirklich gefallen?“
„Ich fand ihn einfach großartig!“ Das Gesicht der jungen Frau lief plötzlich rot an und glühte wie eine heiße Ofenplatte.
„So viele interessante Details. Na ja, Sie wissen schon, was ich meine, Mr. Livingston. Ist es wahr, dass die Frauen im Mittelalter tatsächlich Keuschheitsgürtel tragen mussten, wenn ihre Männer in den Krieg zogen? Und schliefen die Menschen von damals wirklich alle in einem Raum zusammen mit den Tieren? Sie müssen unheimlich klug sein, wenn Sie das alles wissen, Mr. Livingston. Ich bewundere Sie dafür.“
„Na ja, ich musste natürlich viel recherchieren und bin oft wochenlang von einer Bibliothek in die nächste gezogen. Sie wissen schon…, Nachschlagewerke wälzen und so weiter.“
„Und dann Ihren Beitrag über die 60er und 70er Jahre“, fuhr sie ohne Unterbrechung fort. „Ich habe den Film ’HIPPIES. DIE BLUMENKINDER’ sogar zweimal gesehen. Mein Gott! Die haben ja damals schlimme Sachen gemacht. Partnertausch, Drogen, Sex und Alkohol waren an der Tagesordnung. Was für eine haltlose Zeit! Die Menschen von damals waren verrückt. Schade, dass viele von ihnen im Irrenhaus gelandet sind oder sterben mussten, weil sie von den Drogen nicht mehr loskamen. Sie haben das gut recherchiert.“
Ron Livingston blickte die junge Frau jetzt interessiert an. Sie war ziemlich hübsch und hatte eine gute Figur.
„Sie wissen ja gar nicht, wie ich mich darüber gefreut habe, Sie kennen gelernt zu haben, Mr. Livingston. Ich werde das natürlich überall herum erzählen. Meine Bekannten werden vor Neid erblassen, wenn sie hören, dass ich mit Ihnen zusammen gefrühstückt habe. Würden Sie mir ein Autogramm geben?“
Die junge Frau hielt Ron plötzlich eine uralte Postkarte aus den siebziger Jahren unter die Nase.
„Wo hat sie bloß diese Karte her?“ dachte er halblaut vor sich hin.
Die junge Frau suchte in ihrer poppig grünen Ausgehtasche nach etwas, womit man schreiben konnte. Als sie endlich einen alten Kugelschreiber gefunden hatte, reichte sie ihn lächelnd rüber und fragte Ron so ganz nebenbei nach seinem nächsten Film.
„DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE TEIL II“, antwortete Ron wie aus der Pistole geschossen. Es war eine glatte Lüge, denn eigentlich war er schon lange nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf zuhause, weil er vor vielen Jahren schlichtweg in die Pleite gegangen war.
Er hatte die junge Dame offenbar total falsch eingeschätzt. Sie war sehr neugierig und gut informiert, was seine Filme anbelangte. Sie wusste allerdings nichts davon, dass er schon seit einigen Jahren keinen einzigen Streifen mehr gedreht hatte und als Folge seines damaligen ruinösen Lebenswandels heute als biederer Sachbearbeiter in einem großen galaktischen Konzern arbeitete. Das dort verdiente Geld reichte gerade mal aus, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Trotzdem signierte er die vergilbte Postkarte, schlürfte schnell seinen Rest Kaffee hinunter und verabschiedete sich von seiner aufgeweckten Gesprächspartnerin. Die Sache hätte peinlich für ihn werden können, wenn er noch länger dageblieben wäre.
„Vielen Dank für das Autogramm, Mr. Livingston. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!“ rief sie ihm winkend hinterher.
***
Ron erreichte seinen Arbeitsplatz um mehr als dreißig Minuten zu spät. Jemand hatte sich vor die U-Bahn geworfen, und er musste den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Das kostete natürlich Zeit. Als er gerade vor seinem Computer Platz genommen hatte stand auch schon der Abteilungsleiter Ben Riversite vor ihm.
„Mr. Livingston“, schnaubte der fettleibige Riversite aufgeregt. “Die Bestimmungen unserer Arbeitsordnung sind Ihnen doch bekannt. Wer mehr als fünf Minuten zu spät kommt, muss sich bei mir melden. Wenn ich wollte, könnte ich Ihnen dafür eine ganze Stunde abziehen. Sie sind aber schon mehr als eine halbe Stunde überfällig. In diesem Falle dürften Sie normalerweise gar nicht mehr die Schicht antreten. Wissen Sie das überhaupt?“
„Ja, ist mir bekannt Mr. Riversite. Ich kenne jeden einzelnen Punkt der Arbeitsbestimmungen. Das dürfen sie mir ruhig glauben. Aber leider hat es einen schrecklichen Zwischenfall gegeben. Hören sie denn keine Nachrichten? Ein Fahrgast hat Selbstmord begangen und sich vor die fahrende U-Bahn geworfen. Deshalb komme ich zu spät.“
„In diesem Falle drücke ich mal ein Auge zu, Livingston. Sie haben sich ja bisher nie etwas zuschulden kommen lassen. Aber beim nächsten Mal rufen Sie mich bitteschön an und geben mir rechtzeitig Bescheid, damit ich meine Arbeitsplanungen nicht ändern muss. Ich ziehe Ihnen deshalb nur eine halbe Stunde ab. Ich möchte gegen diese Maßnahme keinen Widerspruch hören! Also, machen Sie weiter und Schwamm drüber!“
„Vielen Dank, Mr. Riversite! Ich weiß ihre Großzügigkeit zu schätzen.“ Innerlich dachte sich Ron, dass dieser übergewichtige Fettsack eigentlich ein richtiges Arschloch war. Aber jeder Streit mit diesem nach Schweiß stinkenden Kerl war sinnlos. Außerdem wollte er seinen Job nicht in Gefahr bringen. Riversite hatte einfach die bessere berufliche Position und arbeitete bereits schon seit über 35 Jahren für den welt- und galaktischweit bekannten Konzern TRANSGALAKTIKA, der überall seine Hand mit im Spiel hatte, sowohl im Transportwesen, als auch im Film- und Glücksspielgeschäft. Ben Riversite’s freundschaftliche Beziehungen reichten bis in die obersten Chefetagen der riesigen, krakenartigen Firma, was einiges hieß. Vor diesem Schleimer musste man sich jedenfalls gehörig in acht nehmen.
Direkt vor Ron Livingston, einen Schreibtisch weiter, saß der 63-jährige Sachbearbeiter Harry Rutherford, der alles mit angehört hatte. Rutherford war einer der ältesten Mitarbeiter innerhalb des lukrativen Konzernzweiges, der sich für das intergalaktische Transportwesen zuständig zeichnete. Sein Gesicht war zwar immer braun gebrannt, aber von tiefen Falten durchzogen, die ihn noch älter erscheinen ließen.
„Hallo Ron! Ich habe hier einige Unterlagen für dich, die der Chef dringend braucht. Da du nicht anwesend warst, habe ich mir erlaubt, diese schon mal vorab zu bearbeiten. Ich habe dich nur in Schutz nehmen wollen, weil es sonst Ärger für dich gegeben hätte. Sie sind fast fertig. Hier, nimm sie und gehe sie nochmals durch!“
„Okay, Harry, wie lieb von dir. Du bist ein echt toller Kumpel. Auf dich kann man sich wenigstens verlassen. Wie kann ich das nur wieder gut machen?“
„Ach was, Ron. Keine Ursache. Du weißt doch wie das ist. Ich helfe, wo ich kann. Wir sind nun mal so erzogen worden. Wenn’s irgendwo schief läuft, fällt das sowieso auf die ganze Abteilung zurück. Wollte ich nur vermeiden.“
Der alte Rutherford stammte tatsächlich aus einer längst vergangenen Zeit, wo sich die meisten Menschen noch gegenseitig geholfen haben und Gemeinsinn pflegten. Heute dachten nur noch alle rücksichtslos an sich selbst und jeder kämpfte gegen jeden. Eine Gesellschaft von Egoisten war entstanden, wie sie schlimmer nicht hätte sein können. Aber sie funktionierte wie eine geölte Maschine, was besonders den übermächtigen Megakonzernen zugute kam, die diesen Prozess dadurch forcierten, in dem sie den Arbeitsdruck auf die Massen ständig erhöhten, um die Produktion kontinuierlich zu steigern. Und weil jeder Angst vor dem Verlust seines Arbeitsplatzes hatte, gab es auch keine Gewerkschaften oder Demonstrationen gegen die mächtigen Konzernbosse. Ron ekelte sich vor diesen brutalen gesellschaftlichen Zuständen, die er mit seiner wahren inneren Einstellung und den gewonnenen Lebenserfahrungen nicht vereinbaren konnte.
Die Unterlagen bestanden aus einigen Reklamationen. Ron ging sie der Reihe nach durch. Eine Sendung Schutzanzüge war nicht auf dem Gasplaneten Kandelar II angekommen. Mehrere Großcontainer mit Diamant-Bohrköpfen sind anscheinend irgendwo im Siriussystem verlorengegangen, was zu einer Beschwerde des FANWUNG-Konzern geführt hatte, der dringend auf neue Bohrköpfe angewiesen war. Die Ölproduktion auf mehreren Planeten musste wegen der fehlenden Lieferungen deswegen schon gedrosselt werden. Mehrere wasserdichte Metallcontainer, voll mit neuen Filmrollen einer Film-Produktionsgesellschaft aus Hollywood, waren fälschlicherweise auf dem Planeten Alathar I gelandet, der sich irgendwo in der Andromeda-Galaxie befand.
Alles Routinearbeit, dachte sich Ron Livingston, die jeder der hier anwesenden etwa eintausendachthundert Sachbearbeiter hätte erledigen können. Müde und schlaff drückte er einige Sensoren auf seinem elektronischen Schreibtisch und überprüfte die verschiedenen Lieferungen über den Hauptcomputer in der Zentrale. Die Schutzanzüge befanden sich noch im Hauptlager und die Diamant-Bohrköpfe für den FANWUNG-Konzern waren nicht im Siriussystem verlorengegangen, sondern aus Versehen auf dem Mars gelandet, wo sie eigentlich nicht hingehörten. Die Container mit den Filmrollen waren tatsächlich auf Alathar I gelandet, wo sie jetzt nutzlos in irgendeinem Lagerraum herumstanden.
Nach etwas mehr als zwei Stunden waren soweit alle Reklamationen erledigt. Noch ein paar Anweisungen an die jeweiligen Versandabteilungen und die Arbeit war getan. Als Ron sich gerade den nächsten Stapel Unterlagen vornehmen wollte, kam das hübsche Lehrmädchen von der Kantine mit einem Servierwagen vorbei und brachte ihm ein sprudelndes Erfrischungsgetränk an seinen Schreibtisch. Ihr Körper war super geformt, ihre junge Brust prall wie zwei Fußbälle und ihre schönen Beine endeten in einem viel zu kurzen Minirock. Ron sah ihr verzückt hinter her. Dieses hübsche Dingelchen wäre jede Sünde wert, dachte er.
„Ja, ja, die jungen Mädchen“, hörte man plötzlich den alten Rutherford murrend und etwas abfällig aus dem Hintergrund sagen. „Ihr Jungen denkt doch nur an das Eine. Als ich in deinem Alter war, da gab es so was nicht. Wir mussten ran an die Arbeit und das von morgens bis abends. Geschwitzt haben wir. Für Tagträumereien gab es keine Gelegenheit. Und wenn wir mal welche hatten, hat man sie uns schnell wieder ausgetrieben.“
Ron schaute hinüber zu seinem gebückt da sitzenden, schon fast pensionsreifen Kollegen. Er tat ihm irgendwie leid.
"Und was hast du jetzt davon gehabt?“ fragte Ron ihn.
„Ich habe die ganzen Jahrzehnte hindurch meinen Job behalten. Mein Altersruhegeld ist sicher und in weniger als zwei Jahren werde ich aufhören zu arbeiten. Das hab’ ich davon gehabt.“
Als Ron schwieg sprach der alte Rutherford einfach weiter.
„Man muss doch froh sein, wenn man eine vernünftige Arbeit hat. Hast du schon einmal in deinem Leben Armenschlafsäle gesehen? Oder Millionen von Arbeitslosen und Bettler, die überall in der Stadt herum gelungert haben? Bestimmt nicht! Sei bloß froh darüber, dass du diese Zeiten nicht mitmachen musstest. Dann kamen die Aufstände. Eine schlimme Zeit für viele Menschen damals. Die Chaoten hatten das Sagen. Sie machten alles nur noch schlimmer. Es waren die reinsten Hungerjahre. Ich will darauf wetten, dass du noch nie in deinem Leben ein viel zu enges Zimmer mit fünf anderen Mitbewohnern teilen musstest.“
Ron fiel Harry ins Wort.
„Harry, wie oft willst du mir diese Geschichte eigentlich noch erzählen?“ fragte er seinen Kollegen etwas harsch.
„Dachte ich’s mir doch. Von diesen unangenehmen Dingen wollt ihr nichts mehr wissen. Ihr Jungen lebt in einer Zeit, wo man alles haben kann, was man sich wünscht. Uns Alten kommt das mehr so vor, als lebten die Menschen von heute in einem Paradies und keiner ist sich dessen so richtig bewusst, wie gut es ihm geht.“
Harry Rutherford trank seinen Tee aus, den das sexy Lehrmädchen aus der Kantine vor ihm auf seinen Schreibtisch gestellt hatte, ohne sie überhaupt auch nur eines Blickes zu würdigen.
Ron wurde etwas nachdenklich. Der alte Rutherford hatte sicherlich schon irgendwo Recht, dachte er für sich. Den alten Menschen muss in der Tat die Welt von heute wie ein üppiges Paradies vorkommen. Es gab alles in Hülle und Fülle in dieser Ellenbogengesellschaft. Einmal abgesehen von einigen Berufssparten, in denen schon immer manuell hart gearbeitet werden musste, gab es fast keine schwere körperliche Arbeit mehr. Ganze Produktionsvorgänge liefen vollautomatisch ab. Dienstleistungen standen ganz oben an erster Stelle. Die so lebenswichtige Bereitstellung von Energie war im Überfluss da und wurde von Kernfusionsreaktoren erzeugt. Die Leute bekamen eine gute ärztliche Versorgung, die nirgends besser sein konnte. Alles war perfekt organisiert.
Und doch hatte dieses Leben eine Menge Schattenseiten. Die Natur war zum größten Teil arg geschädigt oder auf den meisten Kontinenten der Erde fast zur Gänze vernichtet worden. Es gab in vielen Gegenden keine Vögel, keine Bäume, keine grünen Landschaften mit schönen Flüssen und Seen mehr. Das Sonnenlicht wurde durch schmutzig-graue Wolken und dichtem Smog verdunkelt. Umweltschutz gab es keinen mehr. Wozu auch? Wer wollte und konnte, suchte sich einfach ein neues Zuhause auf einem anderen lebensfreundlichen Planeten, auf dem die heimische Natur noch in Ordnung war. Davon gab es im Universum mehr als genug.
Die Reichen und die Superreichen, ja, die konnten sich alles leisten und hatten es schon immer besser. Sie schufen sich künstliche Welten, abgesondert von dem Rest der Bevölkerung. Damals wie heute. Die breite Masse dagegen ging mehr oder weniger leer aus, wenn es um die gerechte Verteilung des erarbeiteten Reichtums ging. Sie bekam eigentlich nur noch den Rest von allem. Die meisten Menschen mussten trotz eines guten und abgesicherten Lebensstandards hart und diszipliniert dafür arbeiten. Sie waren wie ein Millionenheer von fleißigen Ameisen, die jeden neuen Tag unermüdlich schufteten, um die straff organisierte Wirtschaft weltweit in Gang zu halten, damit das wachsende Bruttosozialprodukt von Jahr zu Jahr gesteigert werden konnte. Aus diesem System gab es für die meisten Menschen kein entrinnen. Für manche bis an ihr Lebensende nicht.
„Zum Teufel damit! Verdammtes Ausbeutersystem! Verfluchte Arbeiterei! Sie ist etwas, was man schnell hinter sich bringen musste“, murmelte Ron laut vor sich hin, sodass sein Kollege Rutherford zu ihm herüberblickte und verständnislos den Kopf schüttelte. Ron konzentrierte sich derweil wieder auf die vor ihm liegende Arbeit und hielt jetzt lieber seinen Mund.
***
Angie Forrest war knappe vierzig Jahre alt und Junggesellin. Sie arbeitete im Archiv des Megakonzerns TRANSGALAKTIKA. Sie war eine heimliche Romantikerin, las gute Bücher und ging gerne ins Kino. Ihre Männer suchte sie sich immer dann aus, wenn es wieder mal zwischen den Beinen juckte.
Ron hatte öfters mit ihr dienstlich zu tun. Auch heute musste er wieder zu ihr. Als er in das großräumige Büro trat und auf sie zuging, lachte sie ihn mit weit geöffneten Mund an, sodass sich das Licht auf ihren weißen Zähnen spiegelte.
Sie stellte einen Stapel Akten ab, den sie gerade einräumen wollte und wischte sich schnell den Staub von der Kleidung. Ihr einfaches Streifenkleid trug zwar nicht zur Verschönerung ihrer Figur bei, machte sie aber auch nicht hässlicher.
„Ron!“ rief sie erfreut. „Ich habe schon gedacht, du hättest uns vergessen.“ (Die Mehrzahl galt ihr und den vielen Akten im Archiv.) „Du warst sicherlich viel beschäftigt. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass der eine oder andere Filmfreund von früher dich zu seinen Partys eingeladen hat. Tja, und die Frauen himmeln dich ja heute noch an. Ich finde es eigentlich schade, dass du nicht mehr im Filmgeschäft bist. Aber so ist das nun einmal. Geld regiert die Welt.“
„Keine Partys, Angie. Auch keine Geldgeber für einen neuen Film sind in Sicht. Einem Pleitegeier wie mir traut niemand mehr. Hart aber wahr. Wenn es nicht bald besser wird, muss ich mir vielleicht sogar einen zweiten Job anlachen.“
„Was, so schlimm steht es schon um dich?“ fragte seine Kollegin ihn mitfühlend. „Ich kann das einfach nicht glauben! Du hast doch mal so gute Filme gemacht und viel Money damit verdient. Wo ist denn die ganze Kohle geblieben? Entschuldigung! Geht mich nichts an. Will sich denn niemand mehr an dich erinnern? Undank ist eben der Welt Lohn, Ron. Aber vielleicht kommst du eines Tages noch mal ganz groß raus und wirst wieder berühmt, so wie früher.“
„Wenn das so kommen sollte, dann nur mit dir, Angie!“ Er legte seinen rechten Arm auf ihre Schulter, zog sie zu sich her und drückte sie. Sie roch verführerisch nach Moschus.
„Ich werde immer daran denken, wie sehr du mir geholfen hast, als ich ruiniert und völlig zerstört am Boden lag. Du hast mir diesen Job verschafft, Angie. Wenn ich’s wieder schaffen sollte und reich werde, mache ich dich zu meiner Privatsekretärin. Dann arbeiten wir beide zusammen, teilen die Einnahmen aus meinen Filmen und ficken mindestens jeden Tag einmal miteinander. Das verspreche ich dir hoch und heilig! Aber bis es soweit ist, bleibt mir eben nur die Hoffnung, dass sich mein Schicksal irgendwann wieder zum Guten hin wendet.“
„Du musst auch was dafür tun, mein Lieber. In dieser Firma wirst du versauern.
Fang’ einfach noch mal von vorne an. Das ist zwar leichter gesagt als getan, aber du weist doch selbst, dass du als Sachbearbeiter bei TRANSGALAKTIKA nicht weiter kommen wirst. Der Konzern bietet zwar die unterschiedlichsten beruflichen Karrieremöglichkeiten…, aber nicht für dich, Ron“, sagte sie mit nachdenklicher Miene zu ihm.
Dann folgte eine spontane Frage.
„Worüber wirst du als nächstes einen Film drehen, wenn du genug Geld zusammenbekommen würdest? Über Sex? Über Krieg und Gewalt in der Gesellschaft? Vielleicht über eine neue Moral oder über zwischenmenschliche Beziehungen? – Sag’ schon!“
Angie war wirklich ein liebes Geschöpf, dachte Ron. Immer voller Hoffnung und voller neuer Ideen. Außerdem war sie supergescheit und eine Bombe im Bett. Allein schon deshalb brauchte er sie.
Darüber hinaus: Ihr spezialisiertes Wissen und ihr Zugang zu den Bergen von Akten im Archiv des Konzerns TRANSGALAKTIKA waren Gold wert. Hier lagerten Jahrhunderte alte Dokumente in allen nur denkbaren Speichermedien, die der Konzern nach und nach zusammengetragen hatte. Über klassische Akten aus Papier bis hin zu den hochkomplexen Speichermolekülen der supermodernen Quantencomputer mit ihrer unglaublichen Informationsdichte.
Kein Wunder, dass sich manche für dieses bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zurück reichende Wissen interessierten.
Angie redete nach ein paar Minuten des Schweigens weiter. Irgendwie schien sie heute anders zu sein als sonst.
„Ich hab’ hier was über Religion gefunden, das mehrere hundert Jahre alt ist. Alles auf uralte DVD’s abgespeichert, noch immer vakuumverpackt. Wie wär’s damit?“ fragte sie.
„Ohne Geld geht nichts. Aber deine Ideen sind nicht schlecht. Ich sollte mir das eine oder andere mal durch den Kopf gehen lassen“, antwortete Ron ihr.
„Und hier ist eine ganze Menge über Perversionen.“
Angie war fest entschlossen zu helfen. Sie saß ja direkt an der Quelle und es gab keine Information, die sie nicht über ihr Terminal abrufen konnte. Der arme Ron sieht so müde aus. Sie machte sich wirklich Sorgen um ihn. Am liebsten hätte sie ihn in die Arme genommen und seinen Kopf auf ihren Busen gelegt. Er ist so verwundbar und sieht immer noch umwerfend gut aus, dachte sie.
„Sex würde auch ein tolles Thema sein“, sagte sie plötzlich zu Ron, der ihr geduldig zuhörte. „Flagellation, Fellatio, Fetischismus oder Sodomie. Du müsstest dich natürlich intensiv damit beschäftigen.“
„Mit ihr?“ Ron musste bei dem Gedanken grinsen. Nicht zum ersten Mal hatte er den seltsamen Eindruck bei Angie gewonnen, dass er bei ihr eine Fliege im Spinnennetz war. Sie wollte ihn haben. Er konnte sie natürlich nicht einfach so links liegen lassen und wieder gehen, dann würde er zu viel verlieren.
„Guter Sex wäre nicht schlecht“, sagte er mit fester Stimme. Aber die andere Art von sexueller Betätigung ist nicht meine Art. Wie wäre es dagegen mit Drogen? War da nicht was mit Bewusstseinserweiterung durch Halluzinogene oder so ähnlich?“
Angie schaute Ron vielsagend an. Doch dann kam sie schnell wieder zur eigentlichen Sache.
„Mmh! Welche Zeit? Drogen haben die Menschen eigentlich schon immer zu sich genommen. In den neunzehnhundertsiebziger Jahren gab es eine Menge darüber und später noch mehr als man den Drogenkonsum legalisierte. Vor dreißig Jahren wurden dann schließlich alle Drogen freigegeben. Seit der Zeit hat man niemand mehr für illegalen Drogenbesitz strafrechtlich verfolgt oder ging man dafür in den Knast, wenn man als Dealer Rauschmittel jeglicher Art zum Verkauf anbot.
Ron überlegte kurz. Dreißig Jahre wären eine zu kurze Zeit für eine filmische Dokumentation. Möglicherweise hätten die Leute kein Interesse daran, wenn er über Belangloses berichten würde, was den meisten aus eigener Erfahrung schon bekannt sein müsste. Achtzig Jahre und mehr hörte sich da schon wesentlich abenteuerlustiger an.
„Such’ mir was aus dieser Zeit raus, Angie!“ sagte er schließlich zu ihr. „Ich werde mir damit die Langeweile vertreiben.“
„Ich fange gleich damit an das Richtige für dich herauszusuchen“, antwortete sie ihm. „In den Archiven liegt eine Menge alter Information zu diesem Thema, die du sicherlich gut gebrauchen kannst. Ich werde extra für dich das Nützlichste davon raus filtern. – Möchtest du vielleicht noch einen Tee?“
„Gerne Angie! Was gibt es Schöneres, als mit dir zusammen einen heißen Tee zu trinken“, flüsterte Ron ihr leise ins Ohr.
Endlich! Sie lächelte zufrieden und ging mit ihm zusammen in den kleinen, privaten Pausenraum im hinteren Teil des Büros, der nur Angie allein gehörte. Beide verschwanden darin, dann fiel die Tür klickend ins Schloss und sperrte sich von innen automatisch ab. Vorne im Büro, genau gegenüber des Einganges, warf ein Projektor im gleichen Moment ein Standbild auf die weiße Werbewand.
„Komme gleich wieder!“ stand da zu lesen.
***
Als Ron gegen Abend zu Hause ankam, befand sich sein jüngerer Bruder Robert Livingston bereits in seiner Wohnung, dem er seinen Zweitschlüssel aus ganz bestimmten Gründen überlassen hatte. Als Wachmann arbeitete er meistens nachts, und er hätte von Rechts wegen schon längst unterwegs sein müssen. Ron schaute im Beisein seines Bruders gleich mehrmals hintereinander auffällig auf die Zimmeruhr.
Robert zuckte die Schultern. „Ich weiß, ich weiß Ron. Ich müsste eigentlich schon längst weg sein. Aber stell’ dir vor, ich habe heute eine Freischicht und nicht einen einzige Cent in der Tasche. In dieser Situation will natürlich mein Mädchen nichts von mir wissen. Kannst du mir einen kleinen Schein leihen?“
„Die Zeiten sind auch für mich nicht gerade rosig. Ich hab’ selbst kein Geld, Robert. Er legte demonstrativ sein Portomonaie auf den Tisch und klappte es auf. Außer ein paar Münzen fiel nichts raus.
„Ich muss arbeiten. Ich habe nicht die Absicht auch noch für dich aufkommen zu müssen. Wie du weist, haben wir eine Vereinbarung getroffen. Du kannst hier von mir aus wohnen, kommen und gehen, wann du willst, aber du musst auch regelmäßig zur Arbeit gehen, bist du wieder Boden unter den Füßen gewonnen hast. Ansonsten werden sie dich eines Tags kurzerhand auf die Straße setzen, mein Bruder. – Ach noch was! Du hättest beispielsweise schon mal zwischendurch Milch und Kaffee besorgen können.“
„Und womit denn? Würde ich dich anpumpen, wenn ich Geld hätte?
„Lass’ es gut sein, Robert. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass auch du deine Aufgaben hast. Mach’ dich in der Küche nützlich und koche was für uns. Ich hab’ einen schrecklichen Hunger bekommen.“
Robert war ein guter Hobbykoch, der aus wenig Fressalien ein schmackhaftes Essen zubereiten konnte. Als er den grünen Salatkopf in der Spülnische mit Wasser reinigte, rief er Ron zu sich.
„Beinahe hätte ich’s vergessen, dass irgend so ein Agent vorhin angerufen hat. Ich wusste eigentlich nicht genau, was ich ihm sagen sollte und hab’ ihm nur mitgeteilt, dass du bald von der Arbeit kommen wirst. Er solle deshalb noch mal anrufen.“
„Hat der Agent seinen Namen gesagt?“ wollte Ron wissen.
„Ja. Ich glaube er nannte sich Frederick Random.“
„Den kenne ich nur zu gut. Hat er dir nicht gesagt, was er von mir wollte?“
„Nein, hat er nicht! Aber hier ist seine Telefonnummer. Er hat sie mir zur Sicherheit durchgegeben.“
Ron ging schnell zum Videotelefon hinüber und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand. Kurz darauf strahlte ihn Frederick Random am flimmernden Bildschirm an.
„Ron, mein alter Junge, Sie sehen einfach blendend aus. Ich nehme mal an, dass es Ihnen gut geht. Oder irre ich mich da etwa?“
„Kommt darauf an. Hängt ja auch zu einem gewissen Grad von ihnen ab. Haben sie in der letzten Zeit etwas für mich tun können?“
„Glauben Sie mir Ron, ich bemühe mich die ganze Zeit. Aber es ist nicht leicht, mein Junge. Die Zeiten haben sich geändert. Es ist verdammt schwer geworden. Aber ich tue mein Bestes, das dürfen Sie mir glauben.“
„Ist schon in Ordnung, Random. Und warum haben sie bei mir angerufen?“
„Das ist es ja. Eine große Chance! Ein richtig großer Fisch, den ich schon lange an der Angel habe. Jetzt hat er endlich richtig angebissen. Sie haben sicherlich schon mal was von Mercedes Mendoza gehört. Na, Sie wissen schon, die von da ganz oben in der großen Gesellschaft. Sie veranstaltet hin und wieder ausgewählte Ausstellungen, deren Erlös für die Armen in den Slums der Großstädte verwendet wird. Sie hat großen Einfluss in den allerhöchsten Kreisen. Stellen Sie sich vor, sie hat zufällig einen Film von Ihnen gesehen und möchte Sie unbedingt kennen lernen. Schreiben Sie sich die Adresse auf! Ich gebe sie Ihnen gleich durch. Haben Sie etwas zu schreiben da?“
Random wartete bis Ron Livingston einen Stift gefunden hatte.
„Sie will, dass Sie so bald wie möglich bei ihr erscheinen. Zögern Sie nicht so lange damit, Mercedes Mendoza zu besuchen. Und wenn Sie bei ihr sind, machen Sie Werbung für sich so gut es geht. Das könnte ihre große und wohlmöglich letzte Chance sein auf die Sie so lange gewartet haben. Wenn Sie die richtigen Leute für Ihre Projekte interessieren, sind Sie bald alle Ihre finanziellen Sorgen los, mein guter Junge.“
„Einen Moment noch, Random. Welchen Film hat sie denn von mir gesehen?“
„Ich glaube es war der Film mit dem Titel ’DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE’ oder so ähnlich. Jetzt hängt es von Ihnen ab. Ich habe dafür gesorgt, dass Sie noch einmal ein Chance bekommen, Ron. Gehen Sie also hin zu ihr!“
Stirnrunzelnd wandte sich Ron von dem abgeschaltetem Bildschirm ab. Sein Bruder Robert hatte alles mitbekommen und ihn aufmerksam beobachtet.
„Du gehst doch hin oder?“ fragte er Ron.
„Bleibt mir in meiner miesen Situation etwas anderes übrig? Aber wie so oft, wird sich wieder alles als reine Seifenblase entpuppen. Echte Zeitverschwendung dorthin zu gehen. Ich bin schon zu oft enttäuscht worden.“
„Na und? Du kannst dir immer noch auf ihrer Party den Bauch voll schlagen und soviel trinken, bist du umkippst. Denk’ daran, es gibt Schlimmeres. Ich habe von Mercedes Mendoza gehört, dass sie sich selbst für eine großartige Künstlerin und Kunstkennerin hält und Geld wie Heu hat. Wenn du es richtig anfängst könntest du schon was bei ihr erreichen, Ron. Versuch’ es wenigstens! Random hat Recht wenn er sagt, es ist eine großartige Chance, die du nicht verpassen solltest.“
„Na schön, mein Bruder. Ich werde also dort herumstehen und Phrasen dreschen und meine Filme hochleben lassen. Niemand wird sich dafür interessieren. Es wird im Prinzip nichts bringen, aber dir zuliebe gehe ich hin.“
„Aber nicht so!“ sagte Robert abwehrend. „Nicht in diesem Aufzug und mit dieser negativen Einstellung.“
„Und? Was hast du denn daran auszusetzen?“
„Ich will dir mal was sagen, mein Lieber. Du warst früher anders, zum Teufel noch mal! Mann kapiere doch endlich! Du hast dich an die Rolle als Sachbearbeiter gewöhnt. Du hast dich angepasst. Ich kenne dich aber aus den Anfangszeiten deiner großartigen beruflichen Filmerfolge als Burschen, der sich knallhart durchsetzen konnte.“
Robert musterte jetzt kritisch seinen größeren Bruder Ron. Dann fuhr er fort:.
„Schau’ dich an! Du bist immer noch groß, breitschultrig, überaus stark und auffallend muskulös. Du siehst immer noch sehr gut aus. Fast wie ein Gladiator. Wie alt bist du jetzt? Fünfunddreißig Jahre? Sag’ ihr einfach, du bist achtundzwanzig oder mach’ dich noch jünger von mir aus. Hauptsache ist, du kommst mit ihr ins Gespräch – egal wie!“
„Ich soll also in gewisser Hinsicht als Schauspieler auftreten? Das willst du doch damit sagen – oder?“ Ron schüttelte zweifelnd den Kopf und wandte sich direkt an Robert.
„Eigentlich ist das Betrug. Ich weiß nicht so recht, irgendwie gefällt mir das nicht. Warum soll ich mich Mercedes Mendoza gegenüber anders geben und nicht so, wie ich wirklich bin?“
„Verflucht noch mal, Ron. Soll ich dir sagen warum? Weil DU eine Null geworden bist, mein Bruder. Eine verdammte Null, die keine Ahnung davon hat, dass man eine derartig einmalige Chance ohne Wenn und Aber beim Schopf ergreifen muss. So eine Gelegenheit wird vielleicht nie wieder kommen. Lass’ sie nicht einfach so mir nichts dir nichts an dir vorübergehen.“
Ron wollte eigentlich aufbrausen. Sein Bruder hatte ihm aber die Wahrheit diesmal regelrecht um die Ohren gehauen, mit aller Härte, die man sich nur vorstellen kann. Das hat gewirkt.
Er schwieg betreten. Robert hatte nur allzu recht, sinnierte er. Es gab einfach nichts mehr, worauf er mit Stolz zurückblicken konnte. Selbst seine ehemals erfolgreichen Filme aus früheren Jahren waren nur ein pathetischer Versuch gewesen, Individualität zu erringen, um sich innerlich zu festigen. Und was ist aus mir geworden? Ein verdammter Sachbearbeiter, der Tag für Tag stur seinen Routinejob erledigt. Ich verdiene eigentlich nichts als Verachtung. Aber ich bin noch nicht zu alt, um meinem Leben keine Wende mehr geben zu können. Verdammt noch mal!
"Ich werde nicht kneifen und auf die Party von Mrs. Mercedes Mendoza gehen“, sagte Ron mit halblauter Stimme und sah dabei seinen Bruder ins Gesicht.
Robert war von seinem größeren Bruder begeistert. Jetzt war er wieder ganz der Alte, wie er ihn von früher her kannte. Draufgängerisch und seine Ziele unbeirrt verfolgend…, wenn er wollte.
„Ich hole dir jetzt noch ein paar Sachen von mir, die du anziehen kannst. Und steh’ bloß nicht nur so herum auf der Party, sondern rede mit der Gastgeberin und den eingeladenen Gästen. Du hast Talent zum Reden. Ich weiß das. Schütt’ auch nicht zuviel von dem Alkohol in dich hinein, sondern bleib nüchtern und überlege dir genau, was du sagst. Sei ruhig einfach ein bisschen arrogant und grob, wenn man dich klein kriegen will. Mach’ mitunter ein finsteres Gesicht, wenn du es fertig bringst. Und lass dich auf keinen Fall in den Hintergrund drängen. Versuch’ dir ein hübsches Mädchen zu angeln und tanze mit ihr. Mache ihr ruhig einen Antrag. Die Konkurrenz ist groß. Aber denk immer daran, dass du besser bist, als die anderen. Gib ruhig an und lüge, dass sich die Balken biegen, wenn’s sein muss. Die Leute wollen angelogen werden, Ron. Die Wahrheit verträgt keiner und will auch niemand hören.“
Als Ron trotzdem wieder mit dem Kopf schüttelte, fuhr Robert ihn unwirsch an.
„Du warst, bist und bleibst ein grandioser Filmemacher und hast schon eine Reihe von guten Drehbüchern geschrieben. Du hättest auch ein großer Autor werden können. Du weist mit Worten umzugehen und du weist auch, wie man sie in Szene setzen muss, um erfolgreich zu sein. Das ist und war schon immer dein Beruf. Filmemacher und Autoren sind im Prinzip Lügner. Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das dürfte dir doch nicht schwer fallen, zu lügen, wenn es um die Chance geht, wieder voranzukommen – oder Ron?“
Ron atmete tief durch und schaute seinen Bruder Robert jetzt tief in die Augen.
„Eigentlich hast du vollkommen Recht, mein Kleiner. Wie konnte ich das nur vergessen? Ich tue gerade so, als hätte ich Moral und Anstand persönlich erfunden. Und außerdem: Was hab’ ich schon zu verlieren? Ich sollte dir eigentlich dafür dankbar sein, dass du mir den Kopf gewaschen hast. Lass’ uns die Sache also angehen!“
***
Die bekannte Kunstdiva Mercedes Mendoza wohnte in einem Penthouse im besten Viertel der Stadt. Ron traf etwa eine Stunde zu spät ein. Das hatte ihm Frederick Random geraten, genau wie die prophylaktische Einnahme von einigen Gläsern prickelndem Empfangssekt, der einem schon am Eingang des Appartementhauses von jungen Männern im eleganten Smoking entgegen gehalten wurde. So gestärkt war Ron entschlossen, seine Rolle zu spielen. Dann betrat er den Aufzug, der ihn nach oben zur Party bringen sollte.
Oben angekommen wurde er höflich von einem schnauzbärtigen Butler empfangen.
„Ich bin Mr. Livingston. Genauer gesagt Ron Livingston. Melden sie Mrs. Mercedes Mendoza, dass ich hier bin!“
Kaum hatte er die Worte zu Ende gebracht, trat er auch schon am verblüfften Butler vorbei hinein in einen schummrigen Saal, in der sich wahre Heerscharen von Gästen drängten. Rechts neben dem Eingang befand sich ein kaltes Büfett. Eine Musikband spielte gerade einen Foxtrott. An der Bar saßen die schönsten Frauen der Stadt und blickten gespannt in die Menge der tanzenden Männer. Ein gemischter Geruch von Räucherstäbchen und Parfüm stieg Ron in die Nase.
„Sie müssen Mr. Ron Livingston sein. Der große Filmemacher und Drehbuchautor aus längst vergangenen Zeiten!“
Mercedes Mendoza schwebte ihm förmlich entgegen. Sie war in der Tat eine jung gebliebene Fünfzigerin und immer noch von Kopf bis Fuß sehr schön. Und das auf gut zurechtgemachte Art und Weise. An den Fingern beider Hände funkelte kostbarer Schmuck und eine herrlich weiße Perlenkette zierte ihren schlanken, immer noch faltenlosen Hals.
Dann streckte sie Ron plötzlich ihre rechte Hand entgegen.
„Mr. Ron Livingston, der Macher von ’DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE’. Ich bin entzückt!“
„Ja, unter anderem auch dieser Film.“ Er drückte sanft ihre Hand und spürte dabei ihre teuren Diamantringe auf den Fingern.
„Es ist mir eine große Freude, Sie kennen zu lernen, Mrs. Mendoza.“
„Wie schön, dass Sie doch noch gekommen sind. Ich war schon drauf und dran, Sie aufzugeben. Waren Sie überhaupt schon mal bei einer meiner kleinen Geselligkeiten, Mr. Livingston? Ich habe es gerne, wenn meine Gäste pünktlich sind.“
„Pünktlich?“
Ron funkelte sie an.
„Eine freie Seele lehnt sich gegen jeden Zwang auf, Mrs. Mendoza. Sie überraschen mich! Ein Künstlerin wie Sie lässt sich von der Zeit knechten? Sie ordnen sich ihr unter? In einer Stunde können wir ein ganzes Leben genießen und in einem Jahrzehnt vielleicht nur eine Minute persönlichen Seins erleben.
In einem Film über religiöse Riten habe ich mich ausführlich mit dieser Thematik beschäftigt. Sie haben ihn sicherlich schon gesehen. Stimmen Sie mir deshalb in meinen Schlussfolgerungen zu?“
Sie zögerte nicht lange und gab schnell zur Antwort: „Natürlich, natürlich. Ich habe den Film gesehen. Ein faszinierendes Werk übrigens. Alle ihre Werke sind darüber hinaus eine Goldmine an Information. Wo haben sie die alle her? Aber ich möchte Sie nicht für mich ganz allein beanspruchen. Kommen Sie mit! Ich mache Sie den anderen bekannt.“
Ron lernte an diesem Abend die verrücktesten Leute kennen. In dieser Gesellschaft fühlte er sich wohl, weil es schon immer die seinige gewesen war.
Dann erblickte er diese wunderschöne junge Frau in ihrem hautengen gelb-grünen Bodysuit, ohne Ärmel und Strümpfe. Ihr wohlgeformter Körper war atemberaubend anzusehen. Das Gleiche galt für ihre langen Beine. Die zierlichen Füße trugen einen zartrosa gefärbten, offenen Damenschuh mit leichten Stöckelabsätzen und ihre schwarzen Haare hingen ihr runter bis zum Po. An ihren Ohrläppchen baumelten goldene Ohrringe und eine mehrfach in sich verschlungene, schwere Goldkette, die aussah wie eine kleine Schlange, hing um ihren Hals. Am unteren Ende befand sich ein seltsam aussehendes Medaillon mit einem blauen Stein in der Mitte.
Sie blickte Ron erstaunt an, als er einfach seine Arme um ihre Hüften legte und mit ihr los tanzte. Er duzte sie sofort.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wunderschön bist“, sagte er zu ihr und hob sie plötzlich mit beiden Hände in die Höhe. Erschrocken schrie sie etwas auf.
„Was soll das? Ich werde davon schwindlig“, sagte sie mit leicht erhobener Stimme zu Ron und klammerte sich an seinen starken Armen fest.
„Eigentlich wollte ich nur wissen, ob ich dich hochheben kann. Mehr nicht. Ich bin in manchen Dingen ziemlich altmodisch wenn es darum geht, meine Bräute über die Schwelle des Hauses zu tragen.“
„Das kann nur ein Mann sagen, der schon mehrmals verheiratet war. Warst du schon mal verheiratet?“
„Nein!“
„Ehrlich?“
„Ja, natürlich! Warum sollte ich lügen? Du scheinst ein wohlhabendes Mädchen zu sein. Du hast sicherlich viel Geld.“
„Nicht ich. Meine Eltern. Würde das denn einen Unterschied machen?“
„Nein“, erwiderte Ron. „Nicht, wenn es dich nicht stört, dass du von heute auf morgen mit wenig auskommen müsstest. Würdest du dir das dann vielleicht noch mal überlegen?“
„Schon möglich. Ich werde darüber nachdenken“, versprach sie und blickte auf einmal über seine breiten Schultern. „Ich glaube, Mrs. Mercedes Mendoza will was von dir. Sie schaut die ganze Zeit zu uns herüber, als wolle sie uns hypnotisieren.“
Ron verließ die junge hübsche Frau nur widerwillig. Bevor er wegging, küsste er sie zärtlich auf ihre roten, sinnlichen Lippen und streichelte ihre leicht geröteten Wangen. Dann ging er zu der Gastgeberin, die ihm entgegenblickte. Neben ihr stand ein Mann älteren Jahrgangs mit üppig grauen Schläfen. Mit seinem dezenten Anzug schien er hier irgendwie so fehl am Platze zu sein, wie ein Pinguin unter Papageien.
„Mr. Ron Livingston!“ rief Mercedes Mendoza. Ich freue mich, dass sie sich von der hübschen Felicitas losreißen konnten. Ich möchte Sie mit Reginald Rockwell bekannt machen. Reginald, das ist Mr. Ron Livingston.“
„Mr. Livingston“, sagte der Distinguierte. „Haben Sie ’DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE’ geschrieben?“
„Ja, unter anderem.“
„Das andere interessiert mich nicht so sehr. Ist das Drehbuch wirklich ihre eigene Arbeit?“
Ron stutzte für einen Moment. Jetzt galt es vorsichtig zu sein. Angriff war die beste Verteidigung.
„Was denken sie denn von mir. Natürlich habe ich das Drehbuch selbst geschrieben. Was zum Teufel soll das eigentlich?“
„Ach wissen Sie, das Drehbuch erinnert mich an etwas, das ich schon als Junge irgendwo las. Es ist zwar schon sehr lange her, ich habe die Einzelheiten jedoch vergessen, aber mir schien eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Ihre Prämisse, dass die Menschen Tiere in einem Betondschungel sind. Dass Gefühle durch die richtige Haltung und Miene herbeigerufen oder wieder vertrieben werden können, und Ähnliches. Es ist schon wirklich erstaunlich!“ Rockwell tat so, als sei er von Rons Reaktion verärgert.
Der alte Mann vor ihm war der Wahrheit verdammt nahe gekommen. Jetzt wurde es brenzlig. Ron ließ sich aber nichts anmerken, wie er um seine Haltung kämpfte. Er zwang sich innerlich zur Ruhe.
„Ich kann sie jederzeit aufklären, Mr. Rockwell. – Gewisse Dinge sind einfach grundlegend für die menschliche Rasse. Wir essen, fühlen, denken und reagieren. Wir empfinden Furcht, Hass und Ärger. Die Menschen machen sich Sorgen um territoriale Rechte und um das Eigentum, das sie besitzen. Die Welt um uns herum verändert sich zwar, aber die Menschen ändern sich nicht. Sie bleiben immer gleich. Dieses Thema ist sicherlich schon früher, also vor der Entstehung meines Drehbuches und des Films dazu, von anderen geistig begabten Menschen behandelt worden. Nun, das hat aber mit meiner Arbeit nichts zu tun. Das Drehbuch und der Film sind einzig und allein von mir.“
„Ich wollte Ihnen nicht zu nahe kommen, Mr. Livingston. Bitte regen Sie sich wieder ab! Ich wollte mich ja nur bei Ihnen erkundigen.“
„Jetzt wissen sie es aus erster Hand, Mr. Rockwell. Ich hoffe, dass ich ihre Zweifel beseitigen konnte.“
Ron wollte dem wie angewurzelt da stehenden, senil wirkenden Mann etwas entgegen kommen und lächelte ihn jetzt entspannt an.
„Wissen Sie, Mr. Rockwell, ich habe Ihnen gerade ein Beispiel gegeben. Sie haben eben versucht, ob bewusst oder unbewusst, ob absichtlich oder unabsichtlich, das mag dahingestellt bleiben, meine Integrität anzuzweifeln. Sie überschritten dadurch meine territorialen Rechte und zwar in dem Sinn, dass Sie dazu tendierten, meinen untadeligen Ruf als Autor und Regisseur in Gefahr zu bringen. Wie hätte ich Ihrer Meinung nach denn reagieren sollen, als mit Aggression?“
„Und wenn sie sich zurückgezogen hätten, Mr. Livingston? Das hätte meinem Ärger entgegengewirkt.“
„…und Sie hätten das Feld für sich gehabt. Stimmt!“ bestätigte Ron. „Aber Sie drückten aus meiner Sicht der Dinge keinen echten Ärger aus, nur eine gewisse Art von Entschlossenheit. Die Bedrohung war für mich gegenwärtig und real. Nun, wenn ich mich zurückgezogen hätte, wie Sie es vorgeschlagen haben, wären Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon überzeugt gewesen, dass Ihre angedeutete Beschuldigung des Plagiats ins Schwarze getroffen hatte.“ Ron lächelte aufs neue. Dann fügte er schnell hinzu: „Eines steht jedenfalls fest, Mr. Rockwell: Sie haben das Buch von mir gelesen.“
„Nicht nur gelesen, ich habe es studiert“, berichtete Rockwell. Plötzlich sagte er: „Wenn ich mit einer Waffe auf Sie zukäme, was würden sie dagegen tun?“
„Kann ich so auf Anhieb nicht sagen. Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Entweder abhauen oder kämpfen, falls es keine andere Alternativen gibt. Jemand mit einer Waffe in der Hand muss noch lange nicht gefährlich sein. Er könnte eventuell damit andeuten, dass er sie benutzen wird, wenn man sich seinen Forderung widersetzt. Die andere Sache wäre die, dass die Waffe ein Hinweis darauf wäre, jemanden zu vernichten. Erst die richtige Einschätzung der Lage und der Absicht des Waffenträgers würde es ermöglichen, entsprechende Gegenmaßnahmen einzuleiten bzw. entsprechend darauf zu reagieren und zu handeln.“
„Ich habe den seltsamen Eindruck, dass Sie meinen Fragen ausweichen“, sagte Rockwell unzufrieden. „Ich frage Sie deshalb noch einmal. Was täten sie dagegen unternehmen, wenn ich ein Messer ziehen würde, ich meine jetzt in diesem Augenblick, und direkt auf Sie zugehe, um Sie damit umzubringen.“
„Ich würde möglicherweise nichts dagegen unternehmen“, antwortete Ron gleichmütig.
Mrs. Mendoza meldete sich energisch zu Wort. „Reginald“, fuhr sie dazwischen, „jetzt reicht es aber! Sie werden doch nicht…“
„Aber ich bitte dich, Mercedes. Was denkst du von mir. Natürlich nicht. Alles nur rein theoretisch.“ Dann wandte er sich abermals an Ron.
Rockwell kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber mit festem Blick.
„Wieso sagen Sie das?“
„Finden sie dass denn richtig, dass Sie mir gegenüber aggressiv sein müssen? Und die Anspielungen mit dem Messer verstehe ich so, dass Sie meinen Tod wünschen. Aber was soll das alles? Sie sind einerseits ein zivilisierter Mensch und andererseits wiederum ein Produkt dieser Gesellschaft. Auch wenn Sie das nicht wahrhaben wollen. Überall Formen von Gewalt wohin man sieht. Ihnen fällt es offenbar nicht schwer, Gewalt gegen andere zu üben. Trotzdem, ich würde Ihr Verhalten als theatralische Geste bewerten und entsprechend darauf reagieren.“
„Nun gut. Was ist aber, wenn ich ein Barbar wäre? Was täten Sie dann, mein Guter?“
„Tja, was soll ich dazu sagen? Die Sache würde in diesem Fall etwas anders aussehen. Ein Barbar, sagen sie? Schön, aber selbst er müsste einen Grund dafür haben, jemanden umzubringen, denn selbst ein Wilder tötet nicht, um des Tötens willen. Da müssen schon bessere Gründe her. Vielleicht hat man seine Gottheit beleidigt oder die Gastfreundschaft des Stammes missbraucht? Unter Umständen handelt er auch nur so, wie es ihm aufgrund seiner Traditionen vorgegeben ist. Indianer beispielsweise skalpierten ihre Feinde auf grausame Art und Weise und nahmen die abgeschnittene Kopfhaut als Zierde für ihre Kleidung mit. Andererseits taten sie es auch deswegen, um damit ihre Männlichkeit und ihren Mut zu beweisen. Fragen sie mich nicht danach warum und weshalb das so war. Primitive Völker machen so was, sagen viele. Wirklich? Zivilisierte Völker haben da schon ganz andere Grausamkeiten begangen. Da muss man erst gar nicht drüber diskutieren. Bezeichnen sie unsere Zivilisation als „primitiv“, wenn Vorauskommandos der intergalaktischen Raumflotte auf anderen Planeten fremde Rassen gnadenlos vernichten, nur weil diese fremden Wesen ihren Lebensraum verteidigen? – Tatsachen bleiben Tatsachen, Rockwell. Ich wollte ihnen nur damit klarmachen, wie komplex die ganze Materie wird. Man käme vom Hundertsten ins Tausendste.“
Rockwell war erstaunt. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Dann sagte er: „Ja, das sehe auch so. Gut, Mr. Livingston, lassen wir es dabei bewenden! Jetzt muss ich mir tatsächlich etwas durch den Kopf gehen lassen.“
Ron verbeugte sich artig und verabschiedete sich von dem alten Mann. Er war froh gewesen, sich so gekonnt aus der Affäre gezogen zu haben. Dann schlenderte er rüber zum Büfett. Das Essen war gut. Nach einer Weile jedoch verließ ihn der Appetit und auch der Sekt wollte nicht mehr so richtig schmecken. Ron sah sich nach etwas anderem um. Er trank zuerst einen Whiskey, dann einen Kognak und einen Rum. Zum Schluss spülte er noch einen Weißwein hinterher. Nach einiger Zeit probierte er das etwas festere Zeug. Pfirsich in Kognak, Ananas in Kirschwasser, Trauben in Campari und Äpfel in Calvados. Die Reichen, so dachte sich Ron, wissen was gut ist.
Plötzlich stand Mrs. Mercedes Mendoza neben ihm. Er hatte sie ungewollt aus den Augen verloren. Er entschuldigte sich aber nicht bei ihr.
„Na, mein Guter? Hat der alte Rockwell Sie aus der Fassung gebracht?“
„Ich will ja nicht übertreiben, Gnädigste. Einen Berg kann ein Windhauch nicht stören!“
Eigentlich wollte er das nicht sagen. Aber der Alkohol hatte seine Zunge gelöst.
„Ist Rockwell ein guter Freund von ihnen, Mrs. Mendoza?“
„Ein guter Geschäftsfreund. Weshalb fragen Sie?“
„Er war für meinen Geschmack etwas zu arrogant. Mehr nicht.“
„Verzeihen Sie ihm, Mr. Livingston. Reginald ist ein sehr reicher Mann und ich fürchte wohl, Reiche neigen nun mal zur Arroganz.“
Sie hielt einen Augenblick inne und schaute Ron an.
„Für mich mag das Gleiche gelten. Nur auf eine andere Weise. Sehen Sie, ich bilde mir ein, dass ich sehr viel von Kunst verstehe. Schauen Sie sich doch nur meine Sammlung an! Was halten Sie davon?“
Sie zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand in alle Richtungen der Penthousewohnung, wo die seltsamsten Dinge standen.
„Gehen Sie rüber zu den Kunstwerken und betrachten Sie alles ganz genau! Ich möchte von Ihnen wissen, was Sie davon halten. Ihre Meinung ist mir wichtig.“
Sie nahm Ron an der Hand und führte ihn durch den ganzen Saal. Der Alkohol tat bereits seine Wirkung. Jetzt war wirklich nicht die richtige Zeit für eine schwere Zunge! Er hätte jetzt gerne eine gute Miene gemacht, aber es gelang ihm nicht. Wollte ihn Mrs. Mendoza nur testen?
Ein seltsamer Test, wenn sie das vorhatte, was er dachte. Kein Mensch mit gesundem Verstand käme auf so einen perversen Mist.
Vorsichtig folgte Ron Mrs. Mendoza. Sie durchquerten den ganzen Saal. Dann blieb die Gastgeberin plötzlich stehen. Eine Menge farbiger Fetzen, auf einer riesigen, einfachen Sperrholzplatte geklebt, hingen an der Wand. Ein Durcheinander von Knotenschnüren, Drähten und anderen undefinierbaren Dingen schauten aus einer dick aufgetragenen Schicht aller nur denkbaren Farben hervor. Alles wurde von einem wuchtigen, schwarzen Rahmen eingefasst. Es sollte eine dreidimensionale Abbildung eines zertretenen Wurms darstellen.
Ron schritt bedächtig die Wand entlang. Er konzentrierte sich jedoch nicht ausschließlich nur auf das angebliche Kunstwerk, sondern heimlich auch auf Mrs. Mendoza. Offensichtlich hatte der Alkohol genau das Gegenteil bei ihm bewirkt und seine Sinne geschärft, so dass er wie ein Gefühlsseismograph die leichte Spannung bemerkte, die jetzt von Mrs. Mendoza ausging. Ihre seltsamen Gesten verstärkten diesen Eindruck nur noch. Sie spielte ihm also doch nichts vor. Er ergriff seine Chance.
„Eine herrliche Komposition! Einfach einmalig!“ sagte Ron scheinbar bewundernd und voller Inbrunst. „Jeder, der dieses grandiose Kunstwerk sieht, muss davon fasziniert sein. Es zieht förmlich den Blick auf sich. Ich will nicht sagen, dass mir die anderen Kunstwerke nicht zusagen“, fügte er vorsichtshalber hinzu, „doch das hier…“ Er trat näher heran.
Aus dem Blickwinkel heraus bemerkte Ron, wie die übrigen Gäste näher kamen. Sie wollten ihm offensichtlich zuhören. Dieser Umstand, den er weder geplant hatte noch voraussehen konnte, beflügelte geradezu seine Phantasie.
Insgeheim lugte er rüber zu seiner Gastgeberin und spürte ihre zunehmende Spannung, während er sich gemächlich Zeit ließ, das Kunstwerk an der Wand vor ihm zu begutachten. Er tat das von links und von rechts, einen Schritt zurück, einen vorwärts, dann wieder nach der Seite, manchmal die Augen halb geschlossen und zum Schluss setzte er sich auch noch im Lotussitz davor direkt auf den blanken Marmorfußboden.
Nach einer Weile des Wartens und des gespielten in sich Hineinschauens sagte er wie unter Drogen: „Eine gewagte Konzeption. So gewaltig und dennoch auf kleinstem Raum konzentriert. Ein Gedicht, Poesie pur. Sie macht einen zum Gefangenen, sie hält jeden fest und lässt den Betrachter nicht mehr los. Eine mathematische Formel ist hässlich im Vergleich. Reiner Symbolismus in unbeschreiblicher Schönheit ausgedrückt. Dieses Kunstwerk drückt eine BOTSCHAFT aus. Für jeden von uns!“
Ron schrie die Wort förmlich aus sich heraus.
„Wenn jemals ein Künstler oder eine Künstlerin versucht haben sollte, das Universum zu erklären, dann ist es mit diesem Kunstwerk vollendet gelungen!“
Mit einem Schlag verstummte Ron und starrte auf das Gewirr von Fetzen, Drähten und Farbe und tat so, als sei er davon hingerissen.
Mrs. Mercedes Mendoza stand wie eine Salzsäule vor ihrem eigenen Kunstwerk.
„Es gefällt Ihnen also!“ flüsterte sie leicht hauchend vor sich hin. „Aber was bedeutet es?“
„Was soll diese Frage? – Bedeuten? Wem? Ihnen? Mir? Kann es da überhaupt einen Zweifel geben? Sind wir nicht Sklaven unserer eigenen Sinne und Schleier verhüllen die Reinheit unserer Herzen? Wohin wir auch blicken, wir stoßen immer auf Ketten, die uns fesseln wollen. Befreien wir uns und unseren Geist. Sprengen wir diese Ketten von Raum und Zeit! Dann wird unser Geist sein wie ein explodierender Stern, der die Düsternis der Gefangenschaft im intellektuellen Staub beenden wird.“
Mrs. Mendoza sagte jetzt gar nichts mehr. Stumm und mit gesenktem Kopf stand Sie da. Hatte er sich etwa geirrt? Waren der Worte gar zu viel gesprochen?
Doch ein Blick auf sie beruhigte ihn. Sie war nur benommen, aber völlig entspannt und zufrieden.
Mrs. Mercedes Mendoza holte tief Luft und sagte mit zitternder Stimme: „Ron, mein teurer Junge! Diese Tiefe, diese Begabung der Beobachtung! Mein Gott! Dieses unglaubliche Einfühlungsvermögen!“
Aus der Menge der herumstehenden Gäste trat auf einmal ein dünner Bärtiger hervor, der wie ein Guru gekleidet war. Er ging mit weit ausholenden Schritten auf Mrs. Mendoza zu und sagte: „Meine allerliebste Mercedes, wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie sich unterschätzen. Seit ich Ihr Meisterwerk zum erstenmal sah, arbeitete ich an einem Mantra, um es mit kurzen Worten zu beschreiben.“
Ein männlicher Gast mit feinen Gesichtszügen, gekleidet wie ein Dandy, beeilte sich zu sagen: „Und mir war es Inspiration für mein schönstes Gedicht.“
„Ich würdige dieses Meisterwerk mit einer Ode aus fünfundzwanzig Kilometer farbiger Seidenschnur!“ erklärte der anwesende Knotenknüpfer, der darauf hin eine artige Verbeugung vor dem versammelten Publikum machte. Keiner wusste eigentlich so recht, warum.
Und so ging das weiter.
Jeder der Anwesenden behauptet, etwas zum Ruhm des Kunstwerkes beitragen zu wollen. Ron musste sich zusammenreißen, nicht einfach das Lachen anzufangen. Schließlich griff er nach der Hand von Mrs. Mendoza und sagte mit lauter Stimme: „Ich bin wahrlich ein Besitzloser. Doch alles, was mir noch geblieben ist, würde ich Ihnen gerne zu Füßen legen, um des Vorrechts willen, Ihr wunderbares Werk, allergnädigste Mrs. Mercedes Mendoza, in größter Ruhe studieren zu dürfen.“
„Oh, mein süßer, dummer Junge!“ Sie strich ihm dabei sanft über sein welliges Haar. „Sie dürfen mein Kunstwerk natürlich jederzeit wiedersehen. So oft Sie nur wollen. Meine Tür steht immer für Sie offen. Und jetzt trinken wir ein Glas Sekt darauf. Führen Sie mich zum Tisch! Kommen Sie, mein Liebster!“
Ich habe es tatsächlich geschafft, dachte Ron. Es bleibt aber noch einiges zu tun. Zumindest ist Mrs. Mendoza auf mich aufmerksam geworden. Er war darüber erstaunt, wie man mit einer Menge geschwafeltem Unsinn über etwas total Unsinniges andere Leute in den Bann ziehen konnte. Alle hatten sein Gerede wie eine Offenbarung aufgenommen. Dekadentes Volk, diese Reichen, fiel ihm nur dazu ein und nahm einen kräftigen Schluck aus dem schlanken Sektglas. Vorher gab er Mrs. Mendoza noch schnell ein Küsschen auf beide Wangen und reichte ihr danach ein volles Glas Sekt rüber. Sie prosteten sich lachend zu und unterhielten sich angeregt die ganze Zeit. Als er sich von ihr spät in der Nacht verabschiedete, war er sich sicher eine neue Gönnerin gefunden zu haben, die ihm und seiner früheren filmischen Arbeit große Sympathie entgegenbrachte. Er wusste, dass sich sein Leben bald grundlegend ändern würde.
Als er an der Penthousetür lehnte, spürte er plötzlich die unheilvolle Wirkung des Alkohols. Er schaute auf die Uhr. Vier! In fünf Stunden musste er wieder zur Arbeit. Verflucht! Warum hatte er bloß so viel von dem Zeug getrunken. Dann schleppte er sich rüber zu dem Aufzug und ließ sich nach unten fahren.
Er musste zu Hause sein, noch bevor der Alkohol ihn ganz fertig machte.
Als er unten im Foyer des Penthouses ankam, war es menschenleer. Überall lagen Zigarettenkippen, Papierservietten und leer getrunkene Flaschen der Gäste herum, die sich hier aufgehalten hatten. Als Ron um die Ecke bog, wäre er fast mit zwei jungen Männern zusammengestoßen. Hatten sie auf ihn gewartet? Einer der beiden starrte ihn an und nickte seinem Begleiter vielsagend zu.
„Sind Sie Mr. Ron Livingston?“
„Ja! Warum?“
Ron torkelte etwas zur Seite und verlor einen Augenblick den Kontakt zu seinem Gegenüber. Mit letzter Willensanstrengung riss er sich zusammen und sagte mit lallender Stimme:
„Wollen sie etwa zur Party? Die ist dort oben, wo das Dach ist. Sie müssen den Aufzug benützen, meine Herren.“ Er deutete dabei etwas zu heftig mit der rechten Hand nach oben, um den Weg zu weisen, schlug dabei aus Versehen dem vor Ihm stehenden Kerl mit der flachen Hand so heftig unter die Nase, dass diese sofort das Bluten anfing.
„Sie Tölpel…!“ Der andere trat herbei, während sein Freund ein Taschentuch an die blutende Nase drückte. Ron ahnte, was jetzt kommen würde und wich deshalb nach hinten zurück. Er stolperte dabei über eine herumliegende, leere Flasche Whiskey, fiel der Länge nach hin, wobei der linke Fuß unkontrolliert hochschnellte und dem nachrückenden Burschen genau am rechten Knie traf. Durch den heftigen Tritt sank dieser mit Schmerz verzerrtem Gesicht auf den Boden. Diesen Moment nutzte Ron aus, um eines der wartenden Taxis herbei zu pfeifen, die auf der anderen Straßenseite wie die Geier auf Kundschaft warteten. Eines kam sofort. Als er eingestiegen war, blickte er durch die Heckscheibe des davon brausenden Fahrzeugs zurück in die von etlichen Straßenlampen hell erleuchtet Nacht. Einer der beiden Männer lief dem Wagen noch hinterher, gab aber bald auf als er sah, dass es keinen Zweck mehr hatte.
***
Am Morgen wachte Ron mit einem ziemlichen Dickschädel auf. Er versuchte aufzusitzen, fiel aber gleich wieder ins Bett zurück, als schwere Hämmer auf seine Schläfen einzuschlagen schienen. Sein Bruder Robert stand in der kleinen Küche und bereitete gerade das Frühstück vor.
„Was ist passiert. Wie bin ich nach Hause gekommen?“
„Du warst total besoffen. Ein Taxifahrer hat dich bis zur Wohnung rauf gebracht. Eine tolle Leistung, muss ich schon sagen. Du warst schwer wie ein nasser Sack Mehl. Zum Glück war noch genug Geld in deinen Hosentaschen, sonst hätte er dich bestimmt unten auf der Straße einfach liegen gelassen. Aber er wusste auch, dass du bei der Künstlerin warst und dachte wohl, du wärst so ein reicher Typ aus der High Society, die in solchen Fällen schon mal ganz schön was springen lassen. – Ich glaub’ jetzt sind wir mehr als blank. Ich hab’ ihm alles gegeben, was ich bei dir gefunden habe.“
Ron legte sich schwerfällig und stöhnend auf den Bauch, zog die Beine an und drückte sich langsam nach oben. Er achtete nicht darauf, was Robert redete. Schließlich kam er auf die Füße. Sein Kreislauf machte nur bedingt mit und das Zimmer schien sich im Kreis zu drehen. Er hielt sich an der unteren Bettkante fest und sah sich um. Seine Kleidung, die er getragen hatte, lag besudelt auf dem Boden verstreut herum. Er war nur noch mit einer verknitterten Unterhose bekleidet. Der getrocknete Schweiß und Reste vom Alkohol juckten auf der Haut.
„Hey Robert! Mach’ uns einen Kaffee, aber schnell! Ich muss was trinken. Mir wird kotzübel“, krächzte er. Dann ging Ron in die Dusche. Das kalte Wasser machte ihn zwar ein wenig nüchterner, aber er fühlte sich immer noch scheußlich, als er sich später zu seinem Bruder an den Tisch setzte, um den Kaffee zu trinken.
„Trink’ das vorher!“ sagte Robert und hielt Ron ein Glas mit Milch und Schleim entgegen. „Schluck’ es runter! Es sind rohe Eier drin. Sie werden deinen Magen beruhigen.“
Ron war zu schwach, um sich zu widersetzen. Er gehorchte seinem Bruder Robert ohne Widerspruch. Dann würgte er das Zeug runter. Und tatsächlich, bald fühlte er sich schon etwas besser. Er konnte sogar nach dem Frühstück seine Morgentoilette beenden und sich ohne große Schwierigkeiten anziehen. Das Hausmittel hatte echt gut gewirkt. Er war Robert dankbar dafür.
Der winkte nur ab, aber er fühlte sich für Ron irgendwie verantwortlich. Es machte ihn außerdem stolz, ihn in solchen Situationen zu helfen.
„So ist es schon viel besser“, lobte er Ron. „Du siehst jetzt wenigstens wieder etwas menschlicher aus. Die geliehenen Sachen von mir müssen wir wohl in den Müllschlucker werfen. Die sind total hin.“ Er blickte dabei mit einem Ausdruck des Bedauerns auf die verdreckte Kleidung auf dem Fußboden.
„Ich werde sie dir ersetzen, Kleiner“. Ron griff nach seiner Brieftasche, öffnete sie und schaut eine Weile später fragend zu Robert hinüber.
„Was schaust du mich so an? Hast du mir vorhin denn nicht zugehört? Ich musste das Taxi bezahlen. Noch dazu doppelte Gebühr, weil der Fahrer dich persönlich zu Hause abgeliefert hat. Anscheinend hat er mit dir auch noch eine Rundfahrt durch die ganze Stadt gemacht. – Ach was, vergiss den Anzug! Wir sind schließlich Brüder.“
Ron resignierte und blickte zur Uhr. Er zuckte zusammen. Wenn er rechtzeitig zur Arbeit kommen wollte, musste er wohl oder übel noch mal ein Taxi bestellen. Das kostete wieder und würde seine letzten Ersparnisse aufbrauchen. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig.
Diesmal verspätete er sich zum Glück nicht.
Die Arbeit fiel ihm aber an diesem Tag besonders schwer. Trotzdem schaffte er sie doch noch, wenngleich mit Ach und Krach. Der dicke Mr. Riversite hatte ihn zwar die ganze Zeit beobachtet, hielt sich aber merkwürdigerweise zurück und sagte nicht ein einziges kritisches Wort zu ihm.
Am späten Nachmittag machte Ron Feierabend und ließ es sich bei strahlendem Sonnenschein auf der gut besuchten Terrasse der Cafeteria bis spät in die Nacht hinein gut gehen. Hier gab man ihm wenigstens noch Kredit, jedenfalls bis zu einer gewissen Obergrenze, die auch er nicht überschreiten durfte. Bisher hatte er aber sein Limit nie ganz ausgereizt und am Monatsende, wenn das Gehalt kam, stets seine Schulden bezahlt. Nicht selten sogar die von seinem Bruder Robert gleich mit.
***
Am nächsten Tag rief Frederick Random an und bat Ron zu sich. Er ging gleich zu ihm, weil er später noch etwas anderes erledigen wollte. Sein Agent hatte ein kleines Büro mit zwei Räumen im Keller eines Wolkenkratzers. Die oberen Büroetagen waren einfach zu teuer.
In einem Raum wohnte Random, den anderen benutzte er als Büro. Letzteres war recht gut ausgestattet, was darauf hinwies, dass sein Agent einigermaßen erfolgreich in seinem Beruf war. Frederick Random war außerdem ein sparsamer Mensch, der jeden Cent zwei bis drei Mal umdrehte, bevor er ihn ausgab.
Als Ron in sein Büro eintrat, kam ihm Random mit strahlendem Gesicht entgegen und bot ihm gleich einen bequemen Sessel an. Trotzdem schien er irgendwie nervös. Vielleicht hatte er nicht damit gerechnet, dass er so schnell gekommen war.
„Ich freue mich, Sie zu sehen, Ron. Diesmal sind Sie ja mehr als pünktlich. Das liebe ich! In unserem Geschäft ist Zeit Geld. Nun, machen Sie es sich doch bequem! Möchten Sie etwas zu trinken? Ich kann Ihnen da einiges anbieten. Natürlich auch alkoholfreies, wenn Ihnen das lieber ist. Ron entschied sich für ein Glas Orangensaft mit Eiswürfel. Random ging sofort zum Kühlschrank und servierte ihm alles nach Wunsch.
„Sie arbeiten doch in Ihrer Freizeit an einem neuen Drehbuch, habe ich mir sagen lassen. Ist das richtig? Wie weit sind Sie damit schon gekommen?“ fragte ihn sein Agent.
„Nicht sehr weit“, erwiderte Ron. Ich schreib’ daran, wenn mir danach ist. Der Titel steht auch noch nicht fest.“
„Gut, gut. Aber erzählen Sie mir nichts darüber. Ich werde mir das Drehbuch anschauen, wenn es fertig ist. Übrigens sind einige Ihrer alten Filme plötzlich wieder in den Kinos zu sehen, und das mit einigem Erfolg. Dafür gibt es zwar nichts, aber das fördert Ihr Prestige, mein Junge. Es scheint mit Ihnen wieder aufwärts zu gehen, Ron. Ist Ihnen das schon aufgefallen?“
„Nein, noch nicht, Random. Jedenfalls nicht am Geldbeutel.“
„Ach was. Warten Sie nur ab! Früher oder später klingelt die Kasse auch bei Ihnen.“
„Wie sieht es überhaupt mit dem Verkauf auf anderen Welten aus? Haben sie schon was unternommen? Bisher habe ich jedenfalls noch keinen einzigen Cent gesehen, Random.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, Ron. Es ist alles eine reine Zeitsache. Es ist schwer, jemanden wieder ins große Geschäft zu bringen, der mal schlimm auf die Nase gefallen ist, so wie Sie.“
„Und weshalb haben sie mich eigentlich so dringend herbestellt?“ fragte Ron seinen Agenten.
„Das sage ich Ihnen gleich“, erklang eine Stimme hinter ihm. Reginald Rockwell trat an den Schreibtisch und setzte sich zu den beiden.
Ron war überrascht.
„Ich komme ohne Umschweife zur Sache, Mr. Livingston. Ich bin an Ihnen interessiert. Ich habe alle Ihre früheren Filme gesehen und auch die Bücher dazu gelesen. Ich bin von allem fasziniert, was Sie gemacht haben und wollte Sie deshalb mal persönlich kennen lernen. Wissen Sie, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Auf meine Veranlassung hin lud Sie Mrs. Mercedes Mendoza ein. Ich muss im Nachhinein gestehen, ich war nicht enttäuscht.“
Ron warf Random einen fragenden Blick zu. Der nickte nur mit dem Kopf und tat hilflos wie ein kleines Kind. Auch Rockwell war zu früh gekommen, dachte sich Ron und sein Agent hatte keine Zeit mehr, ihm zu sagen, wie er sich verhalten soll. Offenbar hatte der alte Reginald Rockwell den gleichen ungehobelten, draufgängerischen Burschen erwartet, den er auf der Party so überzeugend gespielt hatte.
Unfreundlich sagte Ron: „Ich nehme einmal an, dass Sie sich etwas dabei gedacht haben, mich hier abzufangen, Rockwell.“
„Haben Sie doch etwas Geduld“, ermahnte ihn der reiche Mann etwas gereizt. "Eigentlich wollte ich Ihnen nur einen Vorschlag machen. Ich möchte mich außerdem bei Ihnen entschuldigen. Die beiden Männer habe ich auf Sie gehetzt. Es war ein Test, das gebe ich zu. Ich wollte mich nur vergewissern, ob Sie der richtige Mann sind, den ich suche. Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht. Täuschen, Überraschungsangriff aus der Verteidigung heraus und schneller, strategischer Rückzug. Das war einzigartig! Ich bezweifle auch nicht, dass Sie beide hätten töten können, wenn es Ihre Absicht gewesen wäre.
Ron dachte einen Augenblick nach. Dann fiel ihm wieder ein, was letzte Nacht nach der Party unten vor dem Penthouse auf der Straße passiert war. Das also meinte Rockwell. Die beiden wartenden Männer, seine ungewollte Gewalt und die anschließende, verzweifelte Flucht mit dem Taxi. Bestimmt hatten die zwei Typen die Sache aufgebauscht, um ihren Ruf nicht zu schädigen. Deshalb beschloss er, lieber darüber zu schweigen. Das war in diesem Falle wohl das beste.
Der alte Rockwell räusperte sich ein wenig.
„Also, ich möchte jetzt mal endlich zur Sache kommen, Mr. Livingston. Sie sind genau der richtige Mann für mich. Ihr Film ’DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE’ beweist, dass Sie die Theorie des Überlebens genau kennen. Meine Beobachtungen haben mir darüber hinaus bestätigt, dass ich mit Ihnen völlig richtig liege. Sie sind hart, schlau, gerissen, reaktionsschnell und vor allen Dingen intelligent. Ich frage Sie daher, ob Sie für mich arbeiten wollen. Sie werden es nicht bereuen, Ron…, wenn ich doch Ron zu Ihnen sagen darf?“
Frederick Random mischte sich plötzlich ein.
„Einen Moment mal, Mr. Rockwell! Als Mr. Livingstons Agent erledige ich alle Geschäfte für ihn. Bitte haben Sie die Güte und sagen mir, an welche Art von Beschäftigung Sie denken und wie viel Sie dafür zu zahlen bereit sind. Ich werde einen Vertrag aufsetzen müssen.“
Ron schnitt seinem Agenten das Wort ab. „Für Sie arbeiten, Rockwell? – Was ist das für eine Arbeit?“
„Sie sollen meinen Sohn zur Erde zurückbringen, wo er hingehört. Er ist mein einziger Erbe, aber ein ziemlicher Dickschädel. Leider ist er auch leicht beeinflussbar durch nicht gerade wünschenswerte Freunde. Über Nacht war er weg, regelrecht abgehauen und seitdem ist er so gut wie verschollen. Ich möchte nur, dass Sie ihn mir zurückholen. Ihnen ist sicherlich bekannt, dass ich ein sehr reicher Mann bin. Ich komme für alle Spesen auf, wenn Sie ihn zurückgebracht haben und erhalten noch einen höheren Betrag dazu.“
„Ron, mein guter Junge!“ warf Random hastig dazwischen. „Ich kümmere mich um die finanzielle Seite. Klar?“
Ron achtete nicht auf seinen Agenten.
„Ich weiß nicht so recht. Ist Ihr Sohn nicht schon volljährig?“
„Er ist volljährig, natürlich. Warum fragen Sie?“
„Nun, dann braucht er ja nichts zu tun, was er nicht will.“
Der alte Rockwell wurde etwas mürrisch. Ihm gefiel das Frage- und Antwortspiel nicht. Doch er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen.
„Sicher, dem Gesetz nach natürlich nicht“, gab Rockwell zu. „Warum zerbrechen Sie sich eigentlich den Kopf darüber? Ich möchte ja nur, dass Sie ihn mir zurückbringen. Die Einzelheiten überlasse ich Ihnen. Ich für meinen Teil bin nur am Ergebnis interessiert. Ich weiß, dass Sie der richtige Mann für mich sind, der mit allen Schwierigkeiten fertig wird, falls welche auftauchen sollten. Dessen bin ich mir ganz sicher.“
Frederick Random quatschte schon wieder frech dazwischen.
"Mr. Rockwell! Ich kann Ihnen versichern, dass er den Auftrag annimmt. Die einzige Voraussetzung ist eigentlich nur, dass ich mit dem Honorar einverstanden bin. Ich habe den Vertrag bereits aufgesetzt und…“
„Jetzt halten Sie mal die Luft an, Random!“ sagte Ron mit scharfem Ton. „Machen Sie hier nicht einen auf übereifrig. Ich will nichts überstürzen. Und wenn hier einer in dieser Angelegenheit was zu sagen hat, dann bin ich es.“
Random lehnte sich mit weit geöffneten Mund nach hinten in den weichen Ledersessel, schnappte nach Luft und rollte gekränkt mit den Augen. Diesen Ton hatte er von Ron nicht erwartet, dass er ihn im Beisein von Mr. Rockwell praktisch das Wort verbat, wo er doch sein Agent war.
Ron Livingston blickte den reichen Rockwell erneut an und sprach ruhig weiter.
„Ich nehme mal an, dass Sie es schon öfters versucht haben, Ihren Sohn heimzuholen, nicht wahr? Warum hat es bisher niemand geschafft?“
„Nun, Mr. Livingston. Die anderen waren die reinsten Schlappschwänze. Bitte entschuldigen Sie meine unflätige Wortwahl. Aber ich ärgere mich heute noch über diesen Haufen ignoranter Schwachköpfe. Sie hatten einfach keinen Mumm in den Knochen. Ein ganzes Team mit über dreißig Männern habe ich losgeschickt. Sie fanden meinen Sohn auf Helios II, wo er von einem einheimischen Stamm vorübergehend als Häuptling auserkoren war. Auf meinen Befehl hin brachten meine Männer über zehn Tonnen Modeschmuck und sonstigen Krimskrams dorthin, um das ganze Zeug dem Ältestenrat des Stammes als Gegenleistung zu überlassen. Meine einzige Forderung lautete: Übergebt mir meinen Sohn unbeschadet!“
Nach einer kleinen Pause sprach er weiter.
„Mein Sohn war komischerweise damit einverstanden, machte aber die Andeutung, dass die Mädchen des Stammes unter dem Schutz des gewählten Häuptlings stünden, weil dieser immer der stärkste Mann war. Jeder einzelne meiner angesetzten Männer müsste zuerst gegen ihn ohne Waffen kämpfen. Würde er nur gegen einen verlieren, käme er sofort mit. So lauteten jedenfalls die Regeln des Kampfes. Sicherlich kenne Sie meinen Sohn nicht. Er ist stark wie ein Grizzlybär und ist mehr oder weniger ein Produkt der Klonlaboratorien auf dem Planeten Derion Xylar gewesen, wenn Sie wissen, was ich damit meine. Die Feiglinge weigerten sich natürlich, gegen ihn anzutreten.“ Er blickte Ron etwas hilflos an, der aber kein einziges Wort dazu sagte.
Dann fuhr Rockwell fort.
„So oder ähnlich war es auf jedem Planeten, wo man meinen Sohn aufgetrieben hatte. Immer gelang es ihm, sich mir auf irgendeine Weise zu entziehen. Mittlerweile ist mein Gesundheitszustand aber nicht mehr der allerbeste, Mr. Livingston. Ich möchte meinen einzigen Sohn wiedersehen, ehe es zu spät ist. Ich liebe ihn über alles.“
„Von was lebt eigentlich Ihr Sohn, Mr. Rockwell? Schicken Sie ihm Geld?“ fragte Ron unverblümt.
„Er ist finanziell völlig unabhängig von mir. – Wann können Sie aufbrechen, Mr. Livingston? Ich möchte nicht mehr lange warten.“
„Von mir aus sofort“, mischte sich plötzlich Frederick Random wieder ein.
„Sachte, sachte!“ protestierte Ron. „Ich habe noch nicht zugesagt.“
Dann wandte er sich wieder an Rockwell.
„Wie viele Männer, die Sie beauftragt haben, sind bei der Suche nach Ihrem Sohn schon draufgegangen?“
„Spielt das eine Rolle?“ platzte abermals sein Agent dazwischen. Jetzt, da er das große Geld roch, war er nicht mehr zu halten.
Der alte Rockwell runzelte die Stirn.
„Keiner dieser Männer war wie Sie, Ron. Ich darf doch Ron zu Ihnen sagen – oder?“
Der Angesprochene nickte leicht mit dem Kopf.
„Sie hatten auch nicht das spezialisierte Wissen in Überlebenstaktiken. Sie schon. Mich interessiert nicht, woher Sie dieses Wissen haben. Ich weiß nur, dass es von unschätzbarem Wert ist, um da draußen in den Weiten des Alls den vielfältigen Gefahren gewachsen zu sein. Außerdem sind sie von ungewöhnlich kräftiger Statur. Woher haben Sie bloß diese Muskelpakete?“
„Auf keinen Fall antrainiert, wenn Sie das denken, Rockwell. Die Natur hat manchmal so ihre Launen. Bei mir muss sie wohl besonders launisch gewesen sein.“
Über Rockwells Gesicht huschte ein seltsames Lachen, das bald wieder einer ernsteren Miene wich.
“Nun, Mr. Livingston, wie haben Sie sich entschieden? Ich lasse Ihnen noch etwas Bedenkzeit, wenn Sie wollen. Reden Sie noch mal mir Ihrem Agenten über alles und teilen Sie mir dann Ihren Entschluss mit. Ich warte.“
Random strahlte. „Na, sehen Sie, Ron? Sie haben keinen Grund, sich negative Gedanken zu machen. Ich mache für Sie das Geschäft perfekt. Mr. Rockwell ist auch dazu bereit ein Erfolgshonorar in beträchtlicher Höhe zu zahlen…, nicht wahr Mr. Rockwell?“
Der reiche alte Mann nickte bedächtig mit dem Kopf.
„Na, was hab’ ich gesagt? Sei nicht so zögerlich und unterschreibe den Vertrag!“
Von wegen, dachte Ron säuerlich. Es gab eigentlich noch zu viel, was er nicht wusste. Die anderen Männer waren bestimmt auch nicht schlechtere Experten gewesen, als er. Vielleicht hatten sie bei ihren Unternehmungen aber einfach nur kein Glück gehabt. War immerhin möglich. Andererseits war der Gedanke, hier von der übervölkerten und total verschmutzten Erde wegzukommen, sehr verlockend. Er würde endlich wieder durchs Universum reisen können, wie früher, Urlaub machen auf unbekannten Welten, fern von seiner Arbeit als mickriger Sachbearbeiter bei TRANSGALAKTIKA. Und das Geld wäre wieder im Überfluss vorhanden, was auch seinem Bruder Robert zugute käme.
Der Multimilliardär Reginald Rockwell beobachtete ihn argwöhnisch. Er war über das grübelnde Schweigen Rons besorgt. Dann sagte er spontan: „Sie können selbstverständlich über das Spesenkonto ab sofort frei verfügen. Geld spielt keine Rolle.“
„Und eine kleine Vorauszahlung auf das Honorar!“ sagte der Agent Random vorlaut, der vom großen Kuchen natürlich auch etwas abhaben wollte.
„Aber das können Sie alles ruhig mir überlassen. Sie gehen jetzt nach Hause und erledigen, was zu tun ist. Wenn Mr. Rockwell den Vertrag unterschrieben hat, rufe ich Sie an. Sie machen bitte Ihre Unterschrift gleich hier unten links, Ron!
***
Im riesigen Raumhafen war der übliche Betrieb. Ron hatte sich zusammen mit seinem Bruder Robert total neu eingekleidet. Wenn es einen echten Luxus gab, dann war es der, wenn man kaufen konnte, was man wollte. Und das hatten beide ausgiebig getan. Ron stand da in Knie hohen Stiefeln, laminierter Hose und Blouson in dezentem Lavendel, breiter Gürtel und dazu passende lange Jacke. In der rechten Hand hielt er seine Aktenmappe und blickte auf das Gewühl der Männer, Frauen und Kinder, die mit allerlei Gepäck beladen durch die Abfertigungshalle drängten.
Robert hatte einen dieser neumodischen Anzüge an, die mit einer eingenähten Musikanlage ausgestattet waren. Er wippte mit seinem Körper leicht hin und her. Er strahlte über das ganze Gesicht. Ron hatte ihn als Verwalter seines Geldes eingesetzt, ihm alle Schulden bezahlt und eine neue Wohnung mit allem Drum und Dran im bevorzugten Wohnviertel der Stadt besorgt. In der Garage stand ein Antigravitationsgleiter der neuesten Bauart, der ein Vermögen gekostet hat.
Endlich waren die verfluchten Jahre des Einschränkens vorbei, dachte sich Robert und sah zufrieden zu Ron hinüber, der Anstalten machte, sich von ihm zu verabschieden. Beide fielen sich in die Arme, drückten sich so lange, bis es fast peinlich wurde und dann marschierte Ron plötzlich los, nicht ohne ein paar Mal nach seinem allein da stehenden Bruder zurück zu blicken. Winkend verschwand er schließlich im hinteren Teil der Abfertigungshalle und betrat ein breites Terminal, wo Ron sich am Ende einer langen Warteschlange einreihen musste. Im gleichen Moment wurde er von einem Mann mit Wieselgesicht angesprochen.
„Möchten Sie einen Platz ganz vorne, Mister? Wirklich sehr billig und absolut sicher.“
Ron zögerte etwas.
„Was verstehen Sie unter billig? Sagen Sie schon!“
„Schauen Sie mal nach vorne! Ja, genau da! Der Mann, dessen Platz Sie einnehmen können, steht schon mehr als zehn Stunden hier in der Schlange. – Sagen wir, fünf pro Stunde?“
„Vier.“
„Vierfünfzig?“
„Von mir aus. Einverstanden“, willigte Ron ein.
Er folgte dem Wieselgesicht bis fast zum Kopf der wartenden Menge, wo ein dickleibiger, runzeliger Alter geduldig ausharrte und ihm seinen Platz wortlos überließ, nachdem Ron dem Vermittler die vereinbarte Summe gezahlt hatte. Einige in der Schlange raunten, mischten sich aber nicht ein.
Der fette Kerl ließ sich seinen Anteil geben, watschelte im gleichen Moment los und stellte sich wieder hinten an.
Mit Geld kann man sich eben alles kaufen, dachte Ron und musste sich eingestehen, dass es ihm Spaß gemacht hatte.
Eine halbe Stunde später erreichte er endlich den Schalter. „Ihr Ausweis, mein Herr!“ Der Beamte schob ihn in einen Schlitz. Das Lämpchen darüber leuchtete grün auf. „Alles Okay, Sie können passieren. Keine Schulden, und Sie werden auch nicht von der Polizei gesucht.“ Der Uniformierte gab Ron den Ausweis zurück. Zum Schluss der Prozedur fragte er noch, was er in der Tasche habe.
„Papiere.“ Ron öffnete die Aktentasche, hielt sie dem Beamten unter die Nase und zeigte den Inhalt.
„Sie reisen nur mit leichtem Gepäck. Natürlich ist das Ihre persönliche Sache. Ich muss Sie aber darauf aufmerksam machen, dass Sie, sobald Sie die Erde verlassen haben und sich außerhalb ihrer Zuständigkeit befinden, von keiner terrestrischen Botschaft Hilfe oder sonstige Unterstützung erwarten können. Sollten Sie eine Außerirdische heiraten, können weder Ihre Frau, noch ihre Kinder Bürger von Terra werden. Wenn Sie außerdem an einer beabsichtigten oder tatsächlichen Aggression gegen diese Welt oder ihre Einrichtungen bzw. Institutionen teilnehmen, machen Sie sich des Hochverrats schuldig und müssen bei Ergreifung mit der sofortigen Hinrichtung rechnen. Ist Ihnen das klar?“
„Und ob mir das klar ist. Sie haben das ja klar genug ausgedrückt“, versicherte ihm Ron.
Der Mann rückte seine Dienstmütze zurecht, setzte plötzlich eine strenge Miene auf und musterte den Fluggast von oben bis unten. Nach einer Weile sagte er schnaufend: „Gut, Sie können gehen! – Der nächste bitte!“
***
Außerhalb des Terminals erhob sich eine etwa dreißig Meter hohe Mauer, deren Krone mit übereinander gesetzten, rötlich leuchtenden Laserstrahlen abgesichert war. Sie umgab das gesamte Feld des Raumflughafens. Dahinter herrschte ein unbeschreiblicher Trubel. Die Reisenden waren in einer unglaublichen Hochstimmung.
„Hallo, mein Freund, kommen Sie hierher!“ klackte ein zottiges Mischwesen, dass an einen Bären erinnerte.
„Freier Flug nach Wellmenos IV! Arbeitsplatz garantiert, inklusive Urlaub! Freie Unterhaltung durch besonders qualifizierte Schiffsmädchen! Essen und Trinken kostenlos. Heuern Sie gleich an! Sie erhalten sofort eine Reiseprämie! Lassen Sie sich also diese einmalige Gelegenheit nicht entgehen!“
Neben dem bärenartigen Wesen brüllte eine kräftige Gestalt mit vier Armen und einer buschigen Löwenmähne lauthals nach allen Seiten.
„Reisen Sie mit der Lockheed Superstar! Lichtsprungtauglich! Wir fliegen alle Planeten des Rigelsystems an. Absolut niedriger Flugpreis, außergewöhnlich hoher Komfort. Wir starten in Kürze. Wir sind mit der intergalaktischen Plakette für gute Raumtüchtigkeit bereits zweimal ausgezeichnet worden.“
„Wir fliegen Sie direkt nach All Deberan!“ kreischte eine andere Kreatur, die irgendwie an eine Zuckerrübe erinnerte. „Sonnenschein den ganzen Planetentag, da zwei Sonnen. Künstlicher Regen! Künstliche Nächte in unseren modern eingerichteten Kuppelstädten! Vollverpflegung für die ganze Familie! Greifen Sie jetzt zu!“
Ein heuschreckenartiges Wesen zirpte mit hoher Stimme stur in eine Richtung.
„Billigflug mit gut erzogenem Bordpersonal unseres Heimatplaneten. Naturalien werden als Teilbezahlung angenommen. Wir haben außerdem noch Arbeitsplätze frei! Nicht lange zögern! Zugreifen! Wer jetzt mitfliegt, zahlt später. Ratenzahlung ebenfalls möglich!“
Ron verharrte einige Augenblicke und betrachtete all die verschiedenartigen Bauernfänger und ihre Raumschiffe im Hintergrund. Alles war vorhanden: von Kugel-, Kegel-, Rechteck-, Hantel- oder Zigarrenraumer. Ihre gewaltigen Triebwerke waren genauso unterschiedlich, wie ihre Formen. Einige befanden sich außen am Raumschiff, andere waren verdeckt.“
Das bärenartige Wesen bemerkte seine Unentschlossenheit und kam behäbigen Schrittes auf ihn zu.
„Sie können sich nicht entscheiden? Sie wissen nicht wohin, Sir? Kommen Sie nach Wellmenos IV. Kostenlose Beförderung! Nur sechs Planetenmonate Arbeit in menschenfreundlich ausgebauten Minen, die mit allen modernen, arbeitserleichternden Maschinen ausgerüstet sind. Einfache, absolut bequeme Förderung von Zybridkristallen. Zehn Prozent ihres Abbaues dürfen Sie behalten. Sie wissen doch sicherlich, was dieser Kristall für einen Wert auf dem freien Markt hat – oder? Kommen Sie! Unterschreiben Sie jetzt!“
„Unterschreiben Sie bloß nicht! Sie würden es bestimmt hinterher bereuen!“ sagte eine tiefe Frauenstimme hinter Ron, bevor er ablehnen konnte. Sie gehörte zu einem korpulenten, missmutig dreinblickenden Mann in wallendem Umhang und einem breiten Schlapphut auf dem Kopf. Auf der rechten Brustseite befanden sich eine Vielfalt von Abzeichen und kleinen Fähnchen.
„Das Essen in den Minen ist teuer. Es kostet Sie alles, was Sie verdienen werden. Lassen Sie lieber die Finger davon!“
„Sie verleumden mich und meinen Arbeitgeber. Wellmenos IV hat eine freundliche Zivilisation. Auch für Menschen. Sie werfen Zweifel auf meine Integrität! Ich habe große Lust, die Aufsicht herbeizuholen, um ihren Namen feststellen zu lassen, damit ich mich beim Verband der Vermittler über Sie beschweren kann.“
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Pelziger! Meine Zeit ist zu kostbar, als mit Ihnen zu streiten!“ sagte die Frau mit bissigem Unterton. Sie warf dem Dicken einen vielsagenden Blick zu, der plötzlich lächelte. Dann hakte er sich bei Ron unter und führte ihn von dem erbosten Zottelwesen fort.
„Er wird sich schon bald wieder abregen. Seine Arbeit ist ihm wichtiger. Aber Sie können von Glück reden, mein Freund“, ergänzte der Dicke neben Ron. Die Frau folgte ihm unauffällig.
Schnell fuhr er fort. „Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle? Ich bin Senator Melledin vom terrestrischen Bund für Reisehilfe. Wir sind eine gemeinnützige Gesellschaft, die sich ausschließlich nur durch freiwillige Spenden finanziert.“
„Ich verstehe“, murmelte Ron.
„Glauben Sie mir, hätten Sie den Vertrag unterschrieben, wären Sie zu lebenslanger Minenarbeit verdammt gewesen. Nur wenn Sie ernstlich erkranken, kämen Sie unter Umständen frei. Ich bin daher froh, dass ich Sie vor einem solch schlimmen Schicksal bewahren konnte, mein Freund“, fügte der Senator bedeutungsvoll hinzu.
„Wie sagt man so schön? In der Tugend liegt ihr eigener Lohn?“ war Rons milde Antwort.
Der dicke Melledin atmete tief durch. Dann sagte er: „Sie sind ein Gentlemen, ein ehrlicher, verständnisvoller Mann, einer von der Sorte, der mit einer kleinen Spende für eine gute Sache nicht zurückhalten würde. Ich war Ihnen doch von Nutzen, nicht wahr? Ich werde auch anderen helfen. Aber jeder muss nun mal essen, mein Freund.“
„Ja, stimmt. Das ist richtig“, bestätigte ihm Ron und musterte den angeblichen Senator und die Frau mit der tiefen Stimme neben ihn, die sich die ganze Zeit in seiner Nähe herumdrückte.
„Aber manchmal frage ich mich…, warum?“
Um Melledins Verwünschungen oder noch Schlimmeren zu entgehen, suchte Ron so schnell es ging Zuflucht in einem Speiserestaurant der gehobenen Klasse ganz in seiner Nähe, wo er geduldig an einem freien Tisch Platz nahm und wartete, bis die Bedienung erschien.
Diesmal kam keine Androidenkellnerin oder ein Androidenkellner, sondern eine liebenswürdige, menschliche Bedienung chinesischer Herkunft. Freundlich fragte sie nach seiner Bestellung. Ron ließ sich von ihr ein ganz normales Essen bringen, bestehend aus Kartoffelbrei und Schweineschnitzel mit Rahmsauce, dazu einen gemischten Salat mit Essigdressing und ein ganz gewöhnliches Bier. Ein uraltes Gericht, das man schon früher hier auf der Erde aß.
Noch während des Essens machte er sich an das Studium der Angaben über den vermissten Sohn Jack, die Rockwell ihm in einem Hefter gegeben hatte. Dem beigefügten Foto nach konnte man sich vor dem Mann fürchten. Er war groß, sportlich, mit langer, blonder Mähne und einem Muskel bepackten Körper, wie man ihn nur selten zu Gesicht bekommt. Der Gesichtsausdruck war der eines widerspenstigen jungen Mannes. Es steckte ein gewisses Feuer in seinen Augen, dachte Ron. Auch Arroganz und bisschen Verrücktheit meinte er zu entdecken, denn weshalb sonst würde er die Wünsche seines Vaters so missachten?
Sein Benehmen, seit er die Erde verlassen hatte, bestärkte seinen Verdacht. Taxifahrer auf Fellodom 20, auf dem Planeten Juhl Musiker in einem Sextett, Schiffsmaat auf einem grendolosischen Erzfrachter, Restaurant- und Sexclubbesitzer auf dem Doppelplaneten Bellar, Züchter von hallistischen Schnecken auf Poll X, Totengräber auf Sensisolaris… Die Liste war endlos. Ein Mann im Prinzip auf der Suche nach sich selbst! Ein armer Kerl, der seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hatte. Ziemlich unbequem, wenn man seine Nähe erdulden musste, aber für Ron im Augenblick ein bezahlter Urlaub.
Gut gelaunt steckte Ron die Akte wieder ein und genoss weiterhin das einfach zubereitete Essen, das Ihm vorzüglich schmeckte.
Er würde zumindest so tun, als ob er Rockwells Sohn suchte, entschloss er sich. Vielleicht fand er ihn sogar, dann würde er ihn ersuchen, ein ganz lieber Junge zu sein und wieder nach Hause zu seinem alternden, vielleicht schon vom Tode gezeichneten Vater zurückzukehren.
Natürlich betraf das nur eine annehmbare Umgebung. Keinesfalls würde er ihn durch Sumpf und Dschungel aufzuspüren versuchen, sein Trommelfell durch irgendwelche Ultraschallungeheuer in Gefahr bringen, oder mit Jack Rockwell auf Leben und Tod kämpfen wollen. Das hatte Ron auf gar keinen Fall im Sinn.
„Mein Herr, gestatten Sie?“
Über die ungewöhnliche Höflichkeit schaute Ron zu dem Sprecher hoch, ein Mann mittleren Alters, mit tiefen Falten im Gesicht und hängenden Augenlidern eines Schweißhunds, dezent in Dunkelblau und Gold gekleidet. Er hielt eine dampfende Tasse Tee und einen Teller mit Keksen in den Händen.
„Aber bitte, setzen Sie sich doch! Es sind noch Plätze frei“, sagte Ron.
Der Mann ließ sich ihm gegenüber nieder und machte sich mit der Konzentration eines hungrigen Wolfes über sein Essen her. Ron blickte durch die breite Glaswand des Restaurants hinaus auf den steten Strom von Auswanderern und Reisenden. Die meisten wussten, wohin sie wollten, und eilten schnurstracks auf ihre wartenden Raumschiffe zu. Andere wiederum hörten sich erst nach besonderen Angeboten bei den stimmgewaltigen Werbern um. Zwischendurch hob immer wieder ein Schiff ab und verließ mit heulenden Antriebsmotoren den riesigen Raumhafen. Manchmal landete auch eins.
„Nun sehen Sie sich das an“, sagte auf einmal der Mann. Er schob seinen leeren Teller von sich auf die Tischmitte. „Wie die Ameisen. Himmel noch mal! Großer Gott, ich wusste bisher nicht, dass es so viele Leute in der Galaxis gibt.“ Er griff nach seiner Tasse Tee.
„Timotey“, machte er sich bekannt. „Timotey Millston. – Sie?“
“Ron Livingston”, und fragte sofort: „Wandern Sie aus?“
„Nein. Ich bin schon vor vielen Jahrzehnten ausgewandert und fliege jetzt hin und wieder heim zur Erde. Von einer Woche bin ich nur mal kurz hierher gekommen, um meinen kleinen Bruder zu überreden, zu mir zuziehen. Ich habe eine große Rinderfarm auf dem erdähnlichen Planeten Karrington Umballa. Ein hübscher Besitz mitten in einem herrlichen Wald, überschaubarem Viehbestand und fließendem, absolut reinem Wasser direkt aus einem Bergsee. Ich kann es kaum erwarten wieder dort hin zu kommen. Hier auf der Erde sieht es ja schlimm aus. Dieser Planet ist zur stinkenden Müllkippe verkommen.“
„Und ihr Bruder?“
„Der hat es wieder einmal abgelehnt, mitzukommen. Er will einfach nicht weg“, antwortete Timotey Millston verärgert. „Ich habe mir den Mund fusselig geredet, ihm all die Vorteile einer unberührten Natur in einer sauberen Welt geschildert, aber der Blödmann war nicht zu überzeugen. Er lebt in einer dieser schrecklich engen Boxen, wie man das hier wohl so nennt, hoch droben in einem Wohnturm: zwei kleine Zimmerchen, eine Miniküche und einen kleinen Duschraum, in dem man sich nicht einmal gescheit umdrehen kann, und um bis zur Straße hinunterzukommen, braucht man sage und schreibe mehr als zwanzig Minuten. Das ist doch irre!“
„Er ist zu beneiden“, sagte Ron.
„Was sagen Sie da? Zu beneiden? Teufel noch mal, wie kommen Sie darauf? Ich könnte ihm ein eigenes Haus auf eigenem Grund bauen und mit allen Bequemlichkeiten einrichten, die er sich wünscht, aber er will ausgerechnet hier auf der verdammten Erde bleiben; er sagt, er habe einen sicheren Arbeitsplatz und es gefiel ihm alles so, wie es ist. Der Dreck würde ihn nicht sonderlich stören, solange man versucht, die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern, um die Luft einigermaßen rein zu halten. Und wer mal eine grüne Landschaft mit einem echten Wald genießen wolle, der könne ja noch immer die erhaltenen Naturreservate unter den riesigen gläsernen Kuppelanlagen besuchen, die extra überall für die Bevölkerung eingerichtet worden sind. Mein Bruder hat eben Angst, mal was anderes auszuprobieren. Sicherheit geht im vor. Ah, zum Teufel mit ihm!“
Millston nahm wieder einen Schluck von seinem Tee.
„Er ist verweichlicht, wie die meisten auf der verfluchten Erde.“
„Vielleicht nicht alle!“ widersprach ihm Ron.
„Und was machen Sie hier, wenn ich mal fragen darf? Warum sind Sie noch nicht weggegangen? Können Sie mir das mal verraten? Da draußen in den unendlichen Weiten des Alls gibt es Milliarden von Welten, wo es ein Mensch mit Tatendrang noch zu etwas bringen kann, vorausgesetzt er bringt Ausdauer mit und hat keine Angst vor harter Arbeit. – Ja, arbeiten muss er, seine Nase nicht in Dinge stecken, die ihn nichts angehen, und er darf niemanden auf die Füße treten oder noch schlimmer – Klauen!“ fügte er mit erhobenem, rechten Zeigefinger drohend hinzu. „Man kann mit jedem gut auskommen, wenn man nur guten Willens ist. Egal ob er Flossen, Pfoten, Schwimmhäute, Hufe oder sonst was hat. Die Erde ist sowieso zum Bersten vollgestopft. Ich kann es daher einfach nicht verstehen, warum also die Leute nicht auswandern.“
„Weil sie nicht wollen,“ antwortete Ron. „Die meisten jedenfalls nicht. Sie sind schlichtweg zufrieden mit dem, was sie haben. Viele möchten eben nicht Sicherheit gegen Unsicherheit tauschen. Außerdem ist Enge nicht so schlimm, wie viele glauben. Man gewöhnt sich an sie. Jedenfalls kommt keine Einsamkeit auf. Es gibt überall Kontakte zu anderen. Wer die Einsamkeit liebt, der tut sich damit sicherlich schwerer, als andere, die gerne unter Menschen sind.“
Über mehr als zweihundert Jahren ist es jetzt her, dachte Ron so für sich, wobei er durch die Glaswand ins Freie schaute, als die ersten Handelsschiffe der Galaktischen Förderation intelligente Lebewesen als Besatzung mitbrachten. Es waren Kreaturen mit vier Armen und drei Elefantenbeinen. Der Mensch hatte vor Angst einige von ihnen erschossen. Beim zweiten Mal waren es Humanoiden mit bläulicher Haut und Fischaugen, aber dennoch menschenähnlich genug, dass man sie zumindest anhörte, sie ernst nahm und später als Partner respektierte. Und warum? Sie hatten eine Ladung hundertkarätiger Diamanten von ihrem Planeten mitgebracht und alles auf der Erde gegen Werkzeugmaschinen, Pelzmäntel, Pelzhandschuhe und ganze Herden von Milchkühen, Schweine und Schafen eingetauscht. Danach war eine regelrechte Sintflut von Raumschiffen gekommen, und in jedem Land auf allen Kontinenten der Erde, später sogar auf dem Mond und auf dem Mars, waren Raumhäfen entstanden. Für die Händler und Kaufleute brach eine unglaublich paradiesische Zeit an. Für die Außerirdischen war die Erde und ihre anderen Planeten eine wahre Fundgrube, und sie kamen bald von überall her. Schon nach einem halben Jahrhundert wurde Terra in die Galaktische Förderation aufgenommen.
„Sie wollen die Erde verlassen?“ fragte Millston, dem sein Tischnachbar zu lange ruhig geblieben war.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Sie sind vorsichtig. Sie tun so, als hätten Sie sich schon entschlossen, können oder wollen Ihren Entschluss aber nicht in die Tat umsetzten. So seid ihr Erdansässigen alle. Das vergesse ich immer wieder. Ich komme aus einem anderen Stall. Ich möchte was erfahren über Land und Leute, die man trifft. Wissen Sie was? Ich denke sogar, dass ich Ihnen ein wenig dabei behilflich sein könnte, Ihre verflixte Wankelmütigkeit zu vertreiben. Wohin wollen Sie denn?“
„Meine Reise soll eigentlich nach Mal de Mare gehen.“ Dort ist jemand, den ich suche, zuletzt gesehen worden. Kennen sie den Planeten?“
Timotey Millston runzelte die Stirn. „Mein Guter, die Galaxis ist riesig. Können Sie mir wenigsten das System nennen?“
Ron kramte in dem Hefter herum, den er von Mr. Rockwell erhalten hatte.
Endlich fand er einen Hinweis.
„Das System heißt Kandelar. Nummer X411787 im Führer.“
„Hm, noch nie davon gehört, aber der Nummer nach ist es ganz weit draußen. Wissen Sie eigentlich schon, wie Sie dort hinkommen?“
„Eigentlich nicht genau. Aber ich werde es schon irgendwie schaffen.“
„Oh ja, Sie schon! Bestimmt sogar. Aber trotzdem lassen Sie sich jetzt von mir mal einen Rat geben. Natürlich kostenlos“, fügte er schnell hinzu, als er bemerkte, das Ron zögerte.
„Fahren Sie immer mit einem Schiff von Humanoiden, vorausgesetzt wenn Sie eines finden können. Mit einem Haufen von intelligenten Insekten, Blasen, Bovisten oder Salatköpfen zu reisen, ist nicht immer angenehm, wenn ich mich mal so ausdrücken darf. Und passen Sie stets darauf auf, dass Sie keine bindenden Verträge eingehen, ehe Sie abreisen. Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall viel Glück, Mister Livingston!“
„Viel Glück auch Ihnen, Millston! Das kann man immer brauchen“, bedankte sich Ron und räumte den Rest seines Essens weg.
***
Das Amt für Information war das reinste Irrenhaus. Überall liefen schreiende Auswanderer und Reisende herum. Die dort tätigen Beamten waren total überfordert. Sogar die Computer schienen zu rauchen.
Ron schaute sich flüchtig nach allen Seiten um und beschloss, sich lieber selbst zurechtzufinden. Diesmal machte er allerdings einen weiten Bogen um die Werber und ging direkt auf die wartenden Raumschiffe zu. Ein quallenartiges Wesen in ihrer Plastikhülle stieß ihn an.
„Sir, sagte es sprudelnd. „Suchen sie ein Schiff? Ich kann Ihnen ein sehr gutes empfehlen, mit Sicherheitsanzügen für Luftatmer und allen anderen Bequemlichkeiten, die Sie sich denken können.“
„Fliegt ihr Raumschiff nach Mal de Mare?“
„Leider nicht, Sir. Aber es macht Zwischenstation auf vielen interessanten Welten. Auf Wunsch erhalten Sie Ermäßigung für längere Reisen.“
„Danke, nein!“ sagte Ron.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Sir, Sie können auf Olaris umsteigen, das ist ein ziemlich großer Raumhafen mit vielen Schiffen. Buchen Sie jetzt!“
Ron schüttelte den Kopf und ging weiter auf die Schiffe zu, die in einer lange Kette hintereinander standen. Etwas, was wie ein rostiger Roboter aussah, heulte wie eine Feuerwehrsirene, um die Aufmerksamkeit der Vorbeigehenden auf sich zu lenken. Ungeduldig hob Ron die Stimme.
„X411787!“ brüllte er wie ein Verrückter. „Fliegt ihr Schiff nach X411787?“
Der Roboter stellte die nervige Sirene ab.
„Wir kommen in die Nähe vom gewünschten Stern, Sir! Dort befindet sich auch der Planet Ilgalesch. Fünf Lichtjahre, Hauptknotenpunkt für das Gebiet. Nur noch kurze Reise. Post- und Versorgungsschiff kann Sie den Rest des Weges mitnehmen nach Mal de Mare.“
Ron blieb stehen. Vermutlich würde er heute nichts Besseres mehr finden.
„Gut“, rief er in normalen Ton zurück.
„Und der Flugpreis?“
„Kommen Sie erst mal an Bord plärrte der schlaksige Roboter, dann sehen wir weiter.“
Nachdem die finanzielle Seite und alle anderen Einzelheiten soweit geregelt waren, führte die Stewardess ihn in die Hauptkabine, deren Plätze mit den verschiedensten Wesen – bepelzt, gefiedert oder mit Schuppenhaut – besetzt waren.
Ein weiterer Mensch befand sich unter ihnen. Er winkte Ron zu sich her und bot ihm einen Platz neben sich an, der umgehend zusagte.
„Das ist aber ein Zufall! Ich finde es einfach großartig. Es gibt nichts Angenehmeres als einen Mitmenschen, um die Reise zu verkürzen. Steigen Sie vor oder nach mir aus?“
„Tja, wenn ich das mal wüsste“, gab Ron unumwunden zu. Er streckte seine schmerzenden Beine aus.
„Ich muss leider irgendwo umsteigen. Das Raumschiff hier kommt nur fünf Lichtjahre an meinen Zielstern heran.“
„Fünf Lichtjahre sind ein Katzensprung.“ Doch bevor sein Reisenachbar weitersprach stellte er sich schnell vor.
„Till Tellering! Navigator im Ruhestand.“
„Ron Livingston! Ehemaliger Filmemacher und Drehbuchautor. Jetzt auf der Suche nach dem Sohn eines Multimilliardärs.
Tellering nickte, redete schließlich weiter.
„So viel mir bekannt ist, müssen Sie nach mir aussteigen“, meinte er grübelnd. „Ich kenne die Route bis zum meinem Bestimmungsstern ziemlich gut, aber ich kann mich daran erinnern, schon mal was von Mal de Mare im System Kandelar gehört zu haben. Wen suchen Sie denn da, wenn ich mal fragen darf?“
Ron zögerte, dann dachte er, dass es gar nicht schaden konnte, sich dem Mann anzuvertrauen, vielleicht würde es sogar seine Suche verkürzen, und außerdem musste er ja mal mit seiner Arbeit irgendwann anfangen. Warum nicht jetzt gleich hier an Ort und Stelle? Er öffnete den Reißverschluss seiner Aktenmappe.
„Ich bin auf der Suche nach einem jungen Mann“, antwortete er und holte die Fotografie zum Vorschein. „Jack Rockwell ist sein Name. Kennen Sie ihn?“
„Nein, Mr. Livingston, „aber ich wünschte mir, ich würde diesen Jack kennen, um Ihnen weiterzuhelfen. Tut mir echt leid!“
„Haben Sie von ihm vielleicht schon mal gehört?“
„Nicht auf meiner Welt jedenfalls.“
Der pensionierte Navigator betrachtet sich jetzt das Bild genauer.
„Mann, so einen kräftigen Kerl könnte ich brauchen. Seit ich im Ruhestand lebe, habe ich mir eine kleine Farm zugelegt, die mir sehr viel Arbeit macht. War zwar anfangs so nicht beabsichtigt, aber wie konnte ich wissen, dass mein angebautes Produkt, Kartoffeln von der Erde, plötzlich von den Einheimischen wie wild gekauft wurden, weil sie ihnen so gut schmeckten. Von Jahr zu Jahr musste ich meine Anbauflächen vergrößern, was natürlich immer mehr Aufwand bedeutete. Arbeitskräfte sind rar auf meiner Welt. Alle wollen zwar meine guten Kartoffeln essen, aber keiner will für mich arbeiten. Das ist das Problem.“
So redeten sie beide weiter, während das Raumschiff durchs All raste.
Die Zeit verstrich mit Essen, Trinken und Schlafen, und die Langeweile wurde während des Fluges immer quälender. Da und dort wurden Zwischenlandungen gemacht, und immer wieder animierte man die Fahrgästen zu einigen Ausflügen. Schließlich war es soweit, dass Tellering das Raumschiff verlassen musste.
„Endlich wieder zu Hause!“ freute er sich. „Ich kann Ihnen versprechen, Livingston, dass ich in Zukunft nicht mehr so schnell verreise. Ich wünsche Ihnen viel Glück, mein Freund. Ich hoffe, dass Sie den Ausreißer finden werden und ihn zu seinem Vater zurückbringen. Und wenn Sie mal wieder in diese Ecke des Universums kommen sollten, vergessen Sie nicht, mich zu besuchen!“
„Ich werd’s versuchen, Tellering. Versprechen kann ich es nicht. Alles Gute und auch Ihnen viel Glück!“
Tim Tellerings Sitzplatz wurde von einer dicken Matrone besetzt, die Ron ausführlich von den Schwierigkeiten ihrer jüngsten Tochter erzählte und von einer merkwürdigen Krankheit, die eine Bekannte sich bei einem amourösen Abenteuer auf einem Nachbarplaneten geholt hatte.
Ron war heilfroh darüber gewesen, dass sie schon bald wieder ausstieg.
Ein religiöser Menthaler nahm anschließend den Platz der dicken Matrone ein. Er sah aus wie eine übergroße grüne Gurke und trug ein viel zu großes, bunt geschecktes Tuch auf seinem langgestreckten Kopf, das eigentlich gar nicht zu ihm passte und ihn irgendwie lächerlich aussehen ließ.
***
Die Reise ging weiter. Das Raumschiff machte irgendwann einen Lichtsprung und kam in der Nähe des Planeten Melan DC heraus, wo es eine Zwischenstation einlegte, um neue Energiezellen gegen die verbrauchten auszutauschen und Proviant aufzunehmen. Dann flog es weiter nach Ilgalesch, dem besagten Knotenpunkt, wo sie aber nicht direkt auf dem Planeten landeten, sondern an einer gigantischen Raumstation im Orbit andockten. Von dort aus wurden die Reisenden mit Raumfähren auf die Oberfläche der Welt gebracht in die Stadt Gho.
Ilgalesch war eine schöne Welt mit hohen Bergen, weit ausgedehnten, sanft wogenden Meeren, tiefen Urwäldern und weiten grünen Wiesen im strahlenden Schein einer Sonne vom Spektraltyp G.
So muss die Erde einmal ausgesehen haben, dachte Ron, als er aus dem Fenster seines Hotelzimmers im 20ten Stockwerk über die weite Landschaft blickte. Alles noch Natur pur. Die Atemluft war absolut gift- und schadstofffrei, kein Smog, kein Lärm, der krank macht. Auch die Jahreszeiten waren vermutlich wie auf der Erde. Das Erwachen des schlafenden Lebens im Frühjahr, heiße Tage im Sommer, das Fallen der Blätter im Herbst, Schnee und Frost im Winter.
Ron atmete die frische Luft tief ein und wandte sich nur unwillig vom Fenster ab. Das Hotelzimmer war sauber und luxuriös. Der Unterschied zum Raumschiff war gewaltig, auf dem es nur in den A-Klassen Komfort gegeben hatte. Einige Passagiere mussten sich sogar mit Plätzen im Frachtraum zufrieden geben. Dafür war die Reise natürlich billiger.
Aber jetzt war er endlich hier, ausgeruht, frisch gebadet und bereit, mit der Arbeit richtig anzufangen. Mr. Rockwell würde irgendwann mal einen Fortschrittsbericht anfordern, soviel war sicher, und bis dahin musste er auf jeden Fall etwas vorlegen können. Natürlich wolle er sich umschauen, was ja auch sein gutes Recht war, sagte er zu sich selbst.
Der Zeitpunkt war gut für einen echten Anfang gewählt. Er würde sich umschauen, hier und da Fragen stellen, vielleicht am Strand spazieren oder Angeln gehen. Ganz nach belieben. Vielleicht würde er sogar sein neues Drehbuch anfangen können, um über seine Abenteuer zu schreiben.
Ron öffnete die Aktenmappe und ging alle Aufzeichnungen des alten Rockwells nochmals präzise durch. Dann betrachtete er das Bild seines Sohnes Jack’s. Er fragte sich, was in einem Menschen vor sich gehe, wenn er vor seinem reichen Vater davon läuft, das unbeschwerte sorgenlose Leben einfach so aufgibt, um es gegen die Gefahren eines unberechenbaren, nicht selten sogar tödlichen Universums einzutauschen. Die Augen Jack’s schienen ihn aus der Fotografie geradewegs anzusehen und seine zu bannen. Er mochte diesen Burschen irgendwie. Jemand, der es gewagt hatte, aus den Fesseln und Zwängen eines vorbestimmten Dasein auszubrechen, um frei zu sein für die Zufälle des Lebens, sich eines unbestimmten Schicksals hingebend. Ich werde ihn finden, beschloss er, und wenn auch nur, um mit ihm ein paar Worte zu wechseln.
Ron senkte das Bild, als jemand an der Tür klopfte. Er öffnete die Verriegelung mit der Fernbedienung. Es war das Zimmermädchen, das aussah wie ein Mensch, nur mit spitzen Ohren und Katzenaugen. Ihre Haut war von einem dunklem Blau und rot lackierte Zehennägel spitzten unter dem Saum ihre langes, schwarzen Kleides hervor, das von einer weißen Schürze verziert wurde. Kleine Glöckchen hingen daran, die klingelten, wenn sie ging.
„Verzeihen Sie, Sir, wenn ich Sie frage, ob Sie auf Ihrem Zimmer oder unten im Speisesaal zusammen mit den anderen Gästen frühstücken möchten, falls sie Gesellschaft wünschen.“
„Ich gehe hinunter“, sagte Ron spontan. Ohne Vorwarnung streckte er dem Zimmermädchen die Fotografie hin.
„Kennen Sie diesen Mann? Haben Sie ihn schon mal gesehen? Laut Aufzeichnungen meines Auftraggebers muss er in diesem Hotel schon mal abgestiegen sein und für längere Zeit hier gewohnt haben.“
Sie betrachtete das Bild. „Nein, Sir. Ja, Sir.“
Sie kennen ihn zwar nicht, haben ihn aber schon mal gesehen, richtig?“
„Ja, Sir. Gesehen schon.“
„Wohnt er noch in der Stadt?“
„Keine Ahnung! Ich weiß es nicht, Sir. Würden Sie jetzt bitte mit mir runtergehen? Ich führe Sie an Ihren Frühstückstisch.“
Der große Speisesaal war fast ganz besetzt. Ron sah ein paar vereinzelte Erdenmenschen, der übrige Rest waren Einheimische beiden Geschlechts. Die Männer groß, kräftig und muskulös, mit reich verzierten Degen bewaffnet, die Frauen standen ihnen in nichts nach, nur dass sie drei Busen und einen ausgeprägten Hintern hatten.
Das Mädchen mit der blauen Haut, den spitzen Ohren und den funkelnden Katzenaugen zeigte ihm den Tisch. Ron fand auf ihm Obst, Fisch, alle möglichen Säfte, einen Kuchen und sogar einen heißen Kaffee mit Milch und Zucker. Während er aß, dachte er über seine nächsten Schritte nach.
Es wäre sicherlich nicht sinnvoll, einfach überall auf Geratewohl herum zu fragen. Er wollte sich direkt an jemanden wenden, von dem er überzeugt war, dass er ihm noch am ehesten Auskunft geben konnte.
Nachdem er gefrühstückt hatte, sah er sich draußen vor dem Hotel um. Die Straßen waren breit, penibel sauber und der Verkehr normal, ehr leise, weil überall Elektroautos herumfuhren. Ein überdimensionales Schild wies ihm den Weg zu einer Bank. Bald erreichte Ron den gläsernen Eingang. Der Einheimische an der Kasse war höflich aber bestimmt.
„Ich möchte eine Auskunft über einen Kunden von ihnen.“
„Tut mir leid, mein Herr, aber wir dürfen über unsere Kunden keine Auskunft erteilen.“
Ron war verärgert, beherrschte sich aber.
„Führen Sie mich bitte zu Ihrem Filialleiter!“
Der Bankangestellte drückte einen roten Knopf und kurz darauf erschien der Leiter der Bank.
„Sie sind Mr. Livingston, nicht wahr?“
„Ja, der bin ich. Woher kennen Sie meinen Namen?“
„Das spielt keine Rolle, Mr. Livingston. Wichtig ist für uns nur, dass Sie einsehen müssen, dass wir bestimmte Grundsätze unseres Berufsstandes nicht verletzen dürfen. Es wäre ein Verstoß gegen unsere festgeschriebenen Grundsätze, irgendeinem Fremden Auskunft über unsere Kunden zu erteilen. Das Bankgeheimnis ist uns heilig.“
Der Filialleiter schaute unmissverständlich auf seine Armbanduhr. „Sonst noch was, Mr. Livingston?”
“Ja”, antwortete Ron. „Vielleicht können Sie mir wenigsten sagen, ob es in dieser Stadt so etwas wie eine Auskunftei oder einen Privatdetektiven gibt. Jemand also, der mir helfen könnte?“
„Derartige Einrichtungen und Individuen sind auf Ilgalesch nicht erwünscht“, gab ihm der Bankleiter zur Antwort. „Falls Sie so einem Berufsstand angehören, kann ich Ihnen nur den guten Rat geben, es für sich zu behalten. Auf diesem Planten ist die Privatsphäre ein absolut unverletzbares Heiligtum. Bitte verlassen Sie jetzt die Bank. Dort drüben ist die Tür, Mr. Livingston!“
Ein anderer Terrestrier hatte Ron beobachtet und grinste ihn dumm an. Dann ging er auf ihn zu und fragte: „Auch Sie? Was ist denn mit diesem Mann, den Sie suchen?“
„Hat denn sonst noch jemand nach ihm gefragt?“
„Und ob, und es ist noch gar nicht so lange her. Ich konnte ihm zwar auch nicht entscheidend weiterhelfen, aber ich sagte ihm, wo er hingehen müsse.“
Er machte eine ziemlich bedeutungsvolle Pause.
„Vielen Dank!“ sagte er, als Ron, der sich auskannte, ein wenig mit einem Geldschein nachhalf.
„Es gibt einen hiesigen Handelsattachè bei dem Sie es mal versuchen könnten. Endor von Kur heißt er. Sein ganzes Leben hat er schon auf diesem Planeten verbracht. Wenn Sie nett zu ihm sind, können Sie vielleicht allerhand von ihm erfahren.“ Dann machte sich der unbekannte Terraner auf und davon.
Etwas später.
Endor von Kur war ein alter Herr und hatte schon fünfundsiebzig Jahre auf dem Buckel. Er ging leicht nach vorne gebückt, aber seine Augen waren hellwach und schauten mit scharfem Blick in die Umgebung. Sein Gesicht war die meiste Zeit mürrisch. Er runzelte die Nase über Rons modische Aufmachung, bot ihm jedoch freundlich einen Stuhl an.
„Ich sehe Sie zum ersten Mal auf Ilgalesch. Sie sind neu hier. Kommen Sie von der Erde? Was wollen Sie von mir?“ sagte er mit durchgehend tiefer Tonlage, ohne die Stimme wesentlich zu verändern.
Ron gab zu, dass er von der Erde kam. Er schilderte dem alten Mann, in wessen Auftrag er arbeite und warum er deshalb Fragen stellen müsse.
„Erdenbürger sind überall im Universum unterwegs. Wenn sie irgendwo hinkommen, gibt es nichts als Ärger. Ihr terrestrischen Zweibeiner seid die reinsten Störenfriede. Ihr seid Neulinge, die sich immer und überall in die Nesseln setzen. Ich rate Ihnen deshalb, sich jedes Wort auf Ilgalesch vorher genau zu überlegen. Die Einheimischen haben die komische Angewohnheit, alles wörtlich zu nehmen. Drohen Sie einem, z. B. ihn umbringen zu wollen, und sei es nur aus Blödsinn so daher geredet, bringt er Sie vorsichtshalber selbst um. Kein Gericht auf diesem Planeten würde ihn dafür verurteilen, sondern ihn aus Gründen der Selbstverteidigung freisprechen. Seien Sie also deshalb äußerst vorsichtig. Diesen kostbaren Rat erhalten Sie von mir kostenlos. – Was wollen Sie eigentlich von mir?“
Endor von Kur grinste, als er hörte, wen Ron suchte.
„Jack Rockwell, der Sohn des Multimilliardärs Reginald Rockwell.“
„Hm. Ein toller Bursche, dieser Jack. Er war schon mal hier in Gho.“
„Sie kennen ihn?“
„Eigentlich nur flüchtig. Weshalb suchen Sie ihn denn?“
„Ich habe eine Nachricht für ihn“, sagte Ron. „Ich bin Anwalt und komme im Auftrag seines Vaters“, erfand er. „Jack muss mit dem Tod seines Vaters rechnen und sein sehnlichster Wunsch ist es, dass er seinen Sohn noch einmal sehen möchte“, fügte er wahrheitsgemäß hinzu, denn sterben müsste ja wohl jeder einmal.
„Es geht aber auch um das gigantische Erbe. Sie wissen hoffentlich, dass Rockwells Sohn Jack der einzige Angehörige ist. Er liebt ihn, und er möchte, dass er heimkommt.“
„Ein Anwalt“, murmelte Endor von Kur nachdenklich. „War es das, was Sie sagten, dass Sie Anwalt sind?“
Ron nickte mit dem Kopf. Jetzt musste er bei seiner Lüge bleiben, und scheinbar war es eine recht brauchbare. Anwälte wurden offenbar auf Ilgalesch respektiert. Das verschaffte ihm möglicherweise einen Vorteil, gegenüber dem geheimnisvollen anderen, der ebenfalls auf derselben Spur war. Vermutlich einer von Rockwells Leuten, der auf eigene Faust hinter dem Geld her war.
„Ich könnte einen Anwalt brauchen“, sagte Endor von Kur, „oder besser Illis Watcom.“
„Watcom?“
„Ja. Das ist der Mann, der vor ein paar Wochen nach Jack gefragt hat, genauso wie Sie. Dabei hat er sich in enorme Schwierigkeiten gebracht. Er sitzt jetzt ganz schön in der Tinte. Nun, ich bin wirklich kein Samariter, aber ich kann einfach nicht zusehen, wenn ein Terraner durch Dummheit in Bedrouille gerät.“
„Vergessen Sie ihn im Augenblick. Was ist mit Jack Rockwell?“
„Keinen Schimmer, was mit ihm ist. Ich hörte zuletzt von ihm, als er sich irgendwo in den Bergen aufhielt. Das ist aber schon eine ziemliche Weile her. Watcom könnte es Ihnen jedoch sagen. Er war auf dem Weg zu ihm. Vielleicht können Sie ihm helfen, dann helfen Sie sich wohl möglich selbst. Als Anwalt sind Sie auf Ilgalesch ein hochangesehener Mann. Sie finden den Mann übrigens im Gefängnis“, fügte er hinzu. „Das Gebäude befindet sich gleich neben dem Krankenhaus am Ende der Straße.“
Es war ein fünfstöckiger Bau mit stabilen Eisengitter vor den zahlreich vorhandenen, runden Fenstern. Es roch eigenartig nach Schweiß. Eine Gruppe Einheimischer standen mit Knüppeln und Degen bewaffnet im Vorraum des Gefängnisses. Sie blickten Ron düster an, als er eintrat.
„Was möchten Sie, Sir?“
"Ich hätte gerne Auskunft über einen Häftling hier, einen Mann namens Watcom.“
„Bitte warten Sie einen Augenblick, Sir, ich bringe Sie zum Sergeanten.“
Zumindest sind sie hier höflich, dachte sich Ron, als der Uniformierte ihn zu einem Schreibtisch begleitete, hinter dem ein grauhaariger Beamter saß. Nachdenklich kratzte er sich hinter den Ohren, als er den Erdenmenschen sah.
„Zum wem wollen Sie? Illis Watcom? Der Terrestrier?“
„Ja.“
„Sie wollen ihn sprechen? Warum?“
„Ich bin Anwalt“, antwortete Ron geduldig. „Vielleicht ist es mir möglich, ihm zu helfen.“
„Sie sind also Anwalt? Ein Strafverteidiger sozusagen. Das meinten Sie doch, oder?“
„Sie würden es so nennen, nehme ich an. Wie lautet die Anklage gegen diesen Mann?“
„Er befindet sich zur Zeit in Untersuchungshaft, bis weiter über ihn verhandelt werden kann. Es geht offensichtlich um einen mündlichen Vertrag“, antwortete der Sergeant. „Laut unseren Gesetzen ist nichts dagegen einzuwenden, dass Sie ihn besuchen und mit ihm sprechen wollen. Er sitzt in Zelle 160, oben im dritten Stock.“
Ein Wärter führte Ron die Treppe hoch und einen Korridor entlang zu der Zelle, in der ein Mann auf einer Holzpritsche saß. Er bot keinen schönen Anblick, weil er stark abgenommen hatte. Seine Augen lagen in tiefen Tränensäcken, seine hohlen Wangen waren mit kleinen Abschürfungen überzogen, und die Kleidung wirkte arg mitgenommen. Er blickte hoch, als der Wärter die schwere Metalltür aufsperrte und sie hinter Ron sofort wieder schloss.
Illis Watcom richtete sich mühsam auf.
„Ein Mensch! Dem Himmel sei Dank! Den letzten habe ich vor Wochen gesehen. Haben Sie was zu trinken oder zu essen dabei?“
„Nein. Bekommen Sie denn hier nichts?"
„Nicht das, was mir schmeckt. Wenn Sie den Wärtern Geld geben, besorgen sie Ihnen fast alles, falls Sie bezahlen können. – Wer hat Sie geschickt? Der Handelsattachè?“
„Ich komme gerade von ihm. Er hat mir gesagt, das Sie hier sind“, antwortete Ron vorsichtig.
„Ja, ja, der gute alte Endor! Ich wusste schon immer, dass man einem trauen kann, der selvetischen Schnaps verträgt. Was ist mit einer Flasche davon? Können Sie mir eine beschaffen?“
„Vergessen Sie mal vorläufig die Flasche!“ sagte Ron mit scharfer Stimme. „Ich möchte etwas über Jack Rockwell erfahren."
„Aha, darum geht es also. Sie sind hinter ihm her. Hat Sie der alte Herr geschickt oder handeln Sie auf eigene Faust?“
„Wenn Sie es genau wissen wollen, Mr. Watcom, hat mich der alte Rockwell persönlich geschickt. Wenn Sie sich vernünftig verhalten, kann ich Ihnen zweifellos aus Ihrer schwierigen Lage helfen, sofern auch Sie mir behilflich sind. Ich frage deshalb, wo ich seinen Sohn finden kann. Erhalte ich keine Antwort von Ihnen, lasse ich Sie wieder allein.“
„Wie ist Ihr Name?“
„Ron Livingston!“
„Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, Livingston. Aber ich weiß nicht mehr so genau, wo ich Sie hin stecken soll…“ – Er machte eine kleine Pause. „Geben Sie mir bitte etwas Zeit. Ich muss mir in meinem Oberstübchen erst alles zurechtrücken.“
Watcom blies seine Wangen auf.
„Jack Rockwell“, überlegte er laut. „Und ausgerechnet Sie wollen ihn finden. Sie kommen direkt von seinem Daddy, was bedeutet, dass Sie alle Spesen ersetzt bekommen und später noch ein ziemlich hübsches Sümmchen obendrauf, wenn Sie ihn abliefern. Ich liege da doch richtig – oder?“
Er grinste, als Ron dazu kein Wort sagte. Dann redete Watcom weiter.
„Nun, Sie brauchen mir es nicht zu sagen, ich bin ja nicht von gestern. Ganz ehrlich, Sie sind nicht der erste mit dieser Idee. Ich weiß von insgesamt acht Männern, die es bisher schon versucht haben, Rockwells Sohn zu finden und nach Hause zu holen. Ich habe noch Glück gehabt und bin heil davon gekommen. Hat man Ihnen denn nicht gesagt, wogegen Sie an müssen? Ilgalesch ist eine schöne, aber sehr raue Welt mit wilden Menschen und noch wilderen Tieren. Jack Rockwell ist es gelungen, ein paar dort oben, in den Bergen, zu zähmen. Ich sagte Ihnen ja schon, dass ich Glück hatte. Mein ganzes Kapital hab’ ich in eine Expedition gesteckt. Was glauben Sie eigentlich, was die Ausrüstung gekostet hat? Jetzt bin ich mehr als pleite. Verstehen Sie das überhaupt?“
„Ich bin tief gerührt. Mir kommen gleich die Tränen, Mr. Watcom“, sagte Ron. „Geld spielt bei mir keine Rolle. Was sollte mich also daran hindern, Ihren alten Führer anzuheuern?“
„Nur zu! Versuchen Sie es doch mal!“
„Ich kann mehr als das.“
„Kann schon sein, Livingston. Aber egal, was Sie auch tun, besser als mir wird es Ihnen nicht ergehen. Sie werden schon sehen, dass Sie genau wie ich mit dem Gesicht im Dreck landen oder sogar noch schlimmer, im Bauch eine Tieres“, höhnte Watcom.
Er machte ein paar Schritte auf Ron zu. Als er direkt vor ihm stand, sprach er weiter und blickte ihm dabei unverwandt in die Augen.
„Grüne Jungs von der Erde. Ihr seid doch alle gleich. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr lerne ich schon das Überleben im All, und ausgerechnet ihr bildet euch ein, dass ihr schon alles wisst und noch mehr könnt. Reine Selbstüberschätzung, die tödlich ist. Aber tun Sie, was Sie nicht lassen können. Schaufeln Sie sich ruhig Ihr eigenes Grab, mir kann das egal sein.“
Ron war davon überzeugt, das Watcom ihn weich machen wollte. Trotzdem klangen seine Worte irgendwie vernünftig. Wenn er richtig nachdachte, verstand er vom Überleben in der Wildnis so gut wie nichts. Auf der kaputten Erde hatte er nur Bäume und Wälder in den künstlichen Naturreservaten der riesigen Kuppelanlagen gesehen, aber keine natürlichen. Er wusste in der Tat nicht, wie man sich in Wäldern mit dichtem Baumbestand zurecht finden sollte. Was macht man, wenn es Nacht wird und die Sicht auf Null schrumpft? Noch dazu ohne Kompass? Ja, das Überleben wäre ein Glücksspiel, möglicherweise sogar mit tödlichem Ausgang. Ron schauderte bei diesem Gedanken. Außerdem muss man alles über die Sitten und Gebräuche der Einheimischen lernen, um in diesem Land überleben zu können. Dazu bräuchte man Leute, die schon was davon verstehen. Und so wie er Illis Watcom verstand, war er durchaus bereit dazu, sein Wissen und seine Erfahrung zu verkaufen.
„Gut, Mr. Watcom. Wie viel wollen Sie?”
„Das hat aber gedauert, Livingston. Endlich werden Sie vernünftig. Zu zweit schaffen wir das, was einer allein auf gar keinen Fall fertig bringen würde. Wir ziehen los, überreden Rockwells Sohn zu seinem Vater zurückzukehren und teilen uns die Belohnung, richtig?“
„Falsch, so nicht“, sagte Ron.
„Was? Sechzig-vierzig? Nein? Ein Drittel?“ Watcom seufzte. „Sie sind ein ziemlich harter Bursche. Aber ich bin eben im Nachteil. Wissen Sie was, Sie kommen wenigsten für alle Unkosten auf und geben mir ein Viertel der Belohnung. Na schön, dann ein Fünftel“, prustete er, als Ron den Kopf schüttelte. „Das ist jetzt aber mein allerletztes Angebot. Lausige zwanzig Prozent. Hand drauf, Livingston, dann können wir’s sofort angehen.“
Ron machte ein nachdenkliches Gesicht. „Und wie? Sie sind ja eingesperrt.“
„Tja, das ist Ihr Problem.“ Watcom streckte sich auf der Pritsche aus. „Sie dürfen mir jetzt ruhig eine Flasche Schnaps besorgen – Partner!“
***
Frehnholder Thebensesserie war einer der obersten Anwälte und Richter auf der Welt Ilgalesch, von denen es insgesamt nur sieben gab. Einen Richterrat, sozusagen. Untere Anwälte dagegen gab es genug.
Ron betrat gegen Mittag sein Büro. Nach einer kurzen, relativ freundlichen Begrüßung setzen sich die beiden Männer zusammen.
Anwalt Thebensesserie lehnte sich in seinem weichen Sessel zurück und sagte:
„Mr. Livingston, ich bewundere Sie…, ehrlich! Ihre Entschlossenheit ist faszinierend. Ein Wesenszug, der mir bei Terrestriern schon sehr früh aufgefallen ist. Vermutlich hat er etwas mit dem gewaltigen Einfluss zu tun, den Sie alle auf die verschiedenen Kulturen haben.“
Thebensesserie schaute während des Gespräches hinüber zu einer kleinen Anrichte. „Möchten sie gerne eine Tasse Gerstentee, Mr. Livingston?“
„Danke“, antwortete Ron, „wenn Sie so freundlich wären.“
„Sehen Sie, das ist der Unterschied, den ich Ihnen jetzt mal erklären möchte. – Nicht, wenn ich so freundlich wäre, Mr. Livingston. Das sagten Sie aus Höflichkeit, weil ich ein weitgereister Mann und tolerant bin. Ich sehe darüber hinweg. Aber auf dieser Welt würde eine solche Floskel Sie sofort abstufen, erniedrigen, einen Dienstboten gleichstellen. Sie würden eben nur deshalb trinken, wenn ich so freundlich wäre, es Ihnen zu erlauben. So verstehen die Einheimischen das hier, so müssen Sie das sehen. Eigentlich sollte das auch nicht die Einstellung eines intelligenten Lebewesens sein, das sich seinem Gastgeber ebenbürtig erachtet. Nun, ich frage Sie deshalb noch einmal, ob Sie ein Glas Gerstentee möchten?“
„Ja, vielen Dank“, gab Ron diesmal zur Antwort.
Der Anwalt strahlte auf einmal dieser Verbesserung seines Besuchs wegen übers ganze Gesicht und betätigte eine kleine Kordel mit einer runden Griffkugel unten dran, die rechts von ihm hing. Es dauerte nicht lange, da kam ein freundliches Mädchen in sein Büro, die sich sogleich zur Anrichte begab und dort herumhantierte. Sie machte einen kleinen Knicks, sprach aber sonst kein einziges Wort. Wenige Augenblicke später stellte sie genauso stumm ein Tablett mit einer dampfenden Kanne und zwei Tassen auf den Schreibtisch. Danach zog sie sich sofort wieder zurück.
Ron beobachtete das Mädchen, als sie das Büro verließ.
„Es ist Ihnen schon aufgefallen, dass unsere Dienerschaft, unsere Arbeiter und andere von nicht sehr hoher Intelligenz sind und sich deshalb etwas wortkarg geben.“
Thebensesserie holte sich die dickbauchige Kanne und goss Tee in die beiden Tassen.
„Sie werden sich sicherlich schon gefragt haben, woher das kommt? Ganz einfach! Die Lebewesen hier trauen ihrer eigenen Fähigkeit nicht, beispielsweise ihre Sprache, vor allem bei emotionalen Ausbrüchen, unter Kontrolle zu halten. Sie wollen auf gar keinen Fall ihr Gesicht verlieren oder andere zu falschen Reaktionen verleiten. Erdenmenschen dagegen scheint das gleichgültig zu sein. Sie scheinen mit der Auswahl ihrer Worte freier umzugehen. Besonders im Streit, wenn sie gefühlsmäßig erregt sind. Da fallen oft die schlimmsten Beleidigungen, wenn sie sich gegenseitig beschimpfen, oder irre ich mich da etwa, Mr. Livingston?“
Ron musste dem Anwalt und Richter beipflichten.
„Nein, Sie täuschen sich nicht, Mr. Thebensesserie“, sagte er, während er nach der angebotenen Tasse Tee griff, die aus durchsichtigem Porzellan bestand, mit feinen, bunten Malereien reich verziert war und dadurch in den unterschiedlichsten Farben leuchtete.
„Sehen Sie, deshalb hat Ihr Klient sich wohl auch in eine so schlimme Lage gebracht. Er konnte seine Zunge nicht zügeln bei einem mündlich auszuhandelnden Vertrag. Ich gestehe Ihnen gegenüber ganz offen ein, Mr. Livingston, einen Klienten unter solch schwerwiegender Anklage vor einem Gericht zu verteidigen, fällt mir schwer. Sie beweisen jedenfalls großen Mut und haben offensichtlich sehr viel Vertrauen in Ihre Fähigkeiten als Anwalt. Sie müssen auf der Erde wohl ein hohes Ansehen genießen und sich mit allen Punkten des Rechts und der Strafverteidigung profund auskennen. Ich werde Sie in die Rechtsordnung von Ilgalesch einweisen, was Sie zu einer geachteten Persönlichkeit werden lässt.
Ron grübelte nach. Mit einer leichtfertig daher geredeten Notlüge hatte er sich ganz schön in etwas hineingeritten. Endor von Kur, der Handelsattachè, musste diesem Thebensesserie scheinbar vorher was gesagt haben. Er konnte seinen Mund wohl nicht halten und seine Worte hatten sich schnell herumgesprochen und dieser oberste Anwalt von Ilgalesch, Frehnholder Thebensesserie, wollte wahrscheinlich Watcoms Fall nicht übernehmen. Aus diesem Grunde hatte er Ron das Angebot gemacht, ihn in die Rechtsordnung von Ilgalesch einzuweisen. Ein raffinierter Trick, aber auch eine Gelegenheit für mich, Watcom raus zu hauen, dachte Ron.
„Möchten Sie noch eine Tasse Tee?“ Der Anwalt hob die Kanne. „Es ist eine besonders gute Mischung, die zu einem klaren Kopf beiträgt, Geist und Sinne schärft. Das heißt aber jetzt nicht, dass ich von Ihnen glaube, Sie hätten das bei Ihren ausgezeichneten Fähigkeiten nötig, aber Ihre Prozessgegner haben sich den besten Anwalt genommen, den es auf unserer Welt gibt. Ich hatte vor, den Mann selbst zu vertreten, weil ich unsere terrestrischen Freunde nicht kränken wollte. Aber jetzt sind Sie ja da, was ich ehrlich gesagt sehr begrüße.“
Ziemlich bedrückt streckte Ron seine Tasse zum Nachschenken aus. Dann sagte er: „Ich habe das Gefühl, dass Sie glauben, ich hätte keine Chance, den Prozess zu gewinnen.“
„Ganz ehrlich gesagt, ja, das glaube ich in der Tat. Das ist der Grund dafür, weil bisher kein anderer Anwalt den Fall übernahm. An mir blieb er hängen, wegen meiner Aufgabe als oberster Anwalt, den Beklagten zwangsläufig zu vertreten. So will es das Gesetz der Pflichtverteidigung. Aber Ihr Klient hatte Glück, dass Sie gerade unsere Welt besuchen. Zu schade, dass die Streithähne bisher keinen Vergleich schließen konnten, aber bei einem so eindeutigen Fall ist es natürlich mehr als nur verständlich, dass die Kläger sich weigerten. Sie wollen mehr. Ich werde Ihnen auf jeden Fall von der Galerie aus zusehen, Mr. Livingston. Viel Glück!“
***
Der Gerichtsraum war quadratisch angelegt, mit höher gelegenen Sitzplätzen für die Richter. Die Anwälte, die Kläger und die Beklagten auf der Anklagebank saßen auf Augenhöhe. Es gab keine Geschworene, dafür aber empfindliche Lügendetektoren.
Illis Watcom lächelte Ron müde zu, als er in den Gerichtsaal eintrat. Er schien keine großen Hoffnungen zu haben.
Als sie sich gegenüberstanden fragte Watcom: „Na, Livingston, ist Ihre Pistole geladen und entsichert?“
„Die Pistole ist da, aber die Munition fehlt“, antwortete Ron düster. „Ich kann nur hoffen, dass Sie mir die Wahrheit im Gefängnis erzählt haben. Wenn nicht, geht es uns beiden schlecht.“
„Ganz sicher. Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich habe Ihnen nichts verschwiegen und auch nichts hinzugelogen. Kurzum, ich habe die Wahrheit gesagt“, versuchte Watcom seinen Anwalt zu beruhigen.
„Ich habe dieses verfluchte Verfahren studiert. Wir haben nur eine Chance und die sieht so aus, dass jede Einzelheit stimmen muss, Watcom.“
„Ich kann Ihnen nur noch einmal bestätigen, dass alles, was ich gesagte habe stimmt. Mehr weiß ich nicht. Es war dunkel, ich war ziemlich fertig mit den Nerven, wie kann man da von mir verlangen, dass ich mich an jede Einzelheit erinnere? Ich…“
Ron unterbrach Watcom. „Schweigen Sie jetzt lieber“, mahnte er ihn.
Watcom wollte aber noch schnell was loswerden und sagte: „Denken Sie an Jack Rockwell!“ flüsterte er leise. „Und vor allen Dingen an die Belohnung. Ohne mich wird aus dem ganzen Spiel nämlich nichts.“
„Fall Nr. 9075“, rief der Gerichtsdiener.
„Aufgerufen wird Illis Watcom, ein Terrestrier, versus Betan Allus und Salden Breen, beide Bürger von Ilgalesch. Verhandelt wir über die Entscheidung eines mündlichen Vertrages, Euer Ehren.
Rechtsanwalt Thul Jennischjennissen vertritt die Kläger. Rechtsanwalt Ron Livingston den Beklagten“, sagte er mit lauter Stimme.
„Sehr interessant, sehr interessant. Ich bitte die beiden Anwälte vorzutreten!“
Aus der Höhe seiner Richterbank blickte der Richter Sielben Scheppenlyn hinab auf Livingston und seine Prozessgegner.
„Ein Mensch vom Planeten Erde, wenn ich richtig gehört habe?“ fragte er.
„Jawohl, Euer Ehren“, gab Ron zur Antwort.
„Interessant, sehr interessant. – Nun, meine Herren, auf den ersten Blick scheint der Fall eindeutig zu sein“, fuhr der Richter fort. „Aber die Erfahrung lehrte mich, dass wenige Fälle dieser Art so einfach sind, wie sie zu sein scheinen. Beide Parteien sollten daher Vorsicht walten lassen und die Möglichkeit eines annehmbaren Vergleichs für beiden Seiten ausloten.“
„Auf keinen Fall“, empörte sich Thul Jennischjennissen, der Anwalt der Gegenseite.
„In diesem Fall müssen wir mit dem Prozess fortfahren“, sagte Richter Scheppenlyn.
Er blickte Ron mit starrem Gesichtsausdruck an.
„Mr. Livingston, mein Amtskollege Thebensesserie teilte mir mit, dass Sie akkreditierter Angehöriger Ihres Berufsstandes sind. Er gab mir auch zu erkennen, dass Sie sich mit unserer Prozessordnung vertraut gemacht haben. Sehr interessant, muss ich sagen. Trotzdem erscheint es mir allerdings etwas unwahrscheinlich, dass Sie in so kurzer Zeit, die Sie hier auf Ilgalesch sind, sich ausreichend Wissen dahingehend erwerben konnten. Sind Sie aus Ihrer Sicht davon überzeugt, dass Sie imstande sind, Ihren Klienten voll zu vertreten?“
„Jawohl, Euer Ehren“, sagte Ron laut und deutlich. Er ließ keine Zweifel aufkommen.
„Nun ja, das wollen wir hoffen. Gut, die Anhörung kann beginnen.“
Thul Jennischjennissen trat räuspernd hervor.
„Ja, Euer Ehren, der Fall ist einfach. Er beruht im Wesentlichen auf dem Wortlaut eines mündlichen Vertrages durch den Beklagten während eines Ausflugs zurück aus den Bergen. Ich zitiere wortwörtlich: „Wenn ich irgend etwas für euch tun kann, dann lasst es mich wissen.“
Zitat Ende.
Ron mischte sich mit erhobenen Händen ein.
„Euer Ehren, ich zweifle diesen genauen Wortlaut an. Ich möchte daher die Frage an die Kläger richten, ob sie die Aussage meines Klienten unter Eid anerkennen oder nicht?“
„Möchten Sie vorher Ihren Klienten in den Zeugenstand rufen?“ fragte der Richter.
„Ja, Euer Ehren.“
„Wenn Sie für die Verteidigung nicht anbringen wollen, dass die Worte nie gesagt worden sind, verstehe ich eigentlich nicht, was Sie beabsichtigen. Aber bitteschön, wenn Sie darauf bestehen.“
Ron wandte sich an seinen Klienten Watcom.
„Passen Sie jetzt gut auf“, sagte er zu ihm. „Was Sie auch sagen, lügen Sie bloß nicht!“
Dann fuhr er mit lauter Stimme fort, sodass sie jeder mitbekam.
„Würden Sie dem Gericht bitte erzählen, wie es zu den hier erwähnten Worten gekommen ist, die Sie gesagt haben sollen.“
„Der 58-jährige Watcom richtete sich auf. Dann sagte er: „Es war dunkel“, begann er. Ein grünes Licht leuchtete als Bestätigung der Wahrheit bei den Lügendetektoren auf. „Unsere Gruppe war auf dem Rückweg von den Bergen. Bei mir waren die beiden Führer, die jetzigen Kläger. Wir hatten einen sehr anstrengenden Weg hinter uns, die Müdigkeit machte mich ein wenig unvorsichtig. Plötzlich rutschte ich in ein Sumpfloch und wäre fast darin versunken, wenn mich die beiden nicht rausgezogen hätten. Als sie es taten sagte ich zu ihnen: „Danke, Freunde. Wenn ihr irgend etwas wollt, braucht ihr es nur zu sagen.“
Plötzlich flackerte das Licht der Lügendetektoren rot auf.
„Verdammt noch mal!“ fluchte Ron, „Versuchen Sie es noch mal. Aber diesmal richtig!“
Zum Richter gewandt sagte er: „Euer Ehren, ich ersuche Sie um Nachsicht. Mein Klient stand zum damaligen Zeitpunkt des Geschehens unter starker emotionaler Belastung. Es ist daher nur natürlich, dass er sich nicht an den exakten Wortlaut zu erinnern vermag. Für die Verteidigung ist es aber von aller größter Wichtigkeit.“
„Da der Beklagte den mündlich geäußerten Vertrag nicht abstreitet, Sie den genauen Wortlaut für so wichtig halten und ein Gast des Gerichts und unserer Welt sind, werde ich Nachsicht walten lassen. Fahren Sie also fort!“ sagte Richter Sielben Scheppenlyn.
Watcom legte abermals seine verschwitzten Hände an die Elektroden.
Dann platzte alles plötzlich nur noch so aus ihm heraus.
„Sie müssen sich vorstellen, in welcher Lage ich mich befand und wie es war. Ich steckte bis zum Kinn im Sumpf. Ich versank immer tiefer. Ich dachte schon, meine beiden Führer würden mich da nie rausbekommen. Ich sah dem Tod bereits ins Auge. Doch sie schafften es. Als sie mich dann ins Trockene gezogen hatten, war ich den beiden unendlich dankbar für die Rettung aus Todesnot. Sie waren meine Lebensretter.“
Watcom zitterte leicht, sprach dann leise weiter.
„Ich glaube, ich habe gesagt: ‚Tausend Dank, wenn ich je etwas für euch tun kann, Jungs, dann lasst es mich wissen.“
„Euer Ehren. Sie haben es ja gerade selbst gehört. Unleugbar ein mündlicher Vertrag“, rief Anwalt Jennischjennissen dazwischen.
„Der Beklagte weigert sich allerdings, diesen von ihm mündlich ausgesprochenen Vertrag zu erfüllen. Einzig und allein aus diesem Grund stehen wir deshalb hier vor Gericht. Mein Klient Betan Allus bat darauf hin um ein kleines Haus mit Grundstück und Salden Breen um eine neue Bergsteigerausrüstung. Nichts ist bis heute geschehen. Meine Klienten warten immer noch auf die Erfüllung des oralen Vertrages.“
Richter Scheppenlyn schaute mit erhobenen Augenbraunen zu Ron herüber. „Der Verteidiger des Beklagten hat das Wort“, sagte er.
„Ich bitte das Gericht um eine kurze Unterbrechung des Verfahrens um zehn Minuten, Euer Ehren“, ersuchte Ron.
„Welche Gründe bringen Sie dafür vor?“
„Ich muss noch einmal die finanzielle Seite der Anklage studieren, Euer Ehren. Ich kann Ihnen versichern, dass es von größter Wichtigkeit ist.“
Dem Ersuchen Rons wurde stattgegeben, die Verhandlung für zehn Minuten unterbrochen.
Zurück im Gerichtssaal hustete er gekünstelt und sagte: „Euer Ehren, ich möchte nicht auf die besonderen Umstände zu sprechen kommen, unter denen der mündliche Vertrag zustande kam. Ich habe auch nicht die Absicht, zu plädieren, dass ein Mann, ein Angehöriger der menschlichen Rasse, der soeben vor einem schrecklichen Tod bewahrt wurde und nicht im Vollbesitz seiner Sinne war, Verständnis erwarten könnte, dass er etwas zu überschwänglich mit seinen Lob- und Dankesworten war. Des weiteren will ich auch nicht erwähnen, dass mein Mandant noch verhältnismäßig neu auf diesem Planeten und völlig ungenügend mit dem hiesigen Recht vertraut ist. Nun, Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, Euer Ehren.“
„Das höre ich gerne, besonders von Ihnen“, sagte der Richter trocken. „Haben Sie außerdem vor, dem Gericht weitere Einzelheiten mitzuteilen, die Sie nicht zu erwähnen beabsichtigen?“
„Nein, Euer Ehren, ich werde mich jetzt ausschließlich auf den genauen Wortlaut des Vertrages beschränken. Ich erwähne die unleugbare Habgier der Kläger genauso wenig wie ihre aggressive Weigerung zu einem Vergleich. Ich werde auch nicht zur Sprache bringen, dass wirklich zivilisierte Geschöpfe keine Belohnung für die Lebensrettung eines anderen Lebewesens erwarten. Ich…“
„Mr. Livingston!“
„…werde mich ausschließlich mit dem Vertrag befassen“, fuhr Ron fort und übersah absichtlich das drohende Stirnrunzeln des Richters.
„Nun, was ist ein Vertrag? Um rechtsgültig zu sein, muss ein Vertrag zwei Voraussetzung zwingend aufweisen bzw. zwei wichtige Elemente beinhalten: das Vermögen, ihn zu erfüllen, und der Wunsch, ihn zu erhalten. Damit Euer Ehren versteht, was ich meine, möchte ich ein Beispiel anführen.“
Ron machte eine kleine Gedankenpause und sprach dann langsam weiter, damit ihn jeder bei seinen Ausführungen folgen konnte..
„Im Fieber der Leidenschaft verspricht ein Nesianer einem hiesigen Mädchen ihr noch Hunderte von Söhnen zu machen. Würde man hier das Recht von Ilgalesch wortwörtlich anwenden, wäre das ein ‚mündlicher Vertrag’. Wie kann aber eine derart leichtfertige Aussage eines Liebenden als gültig erachtet werden, wo doch dieses Versprechen unmöglich zu erfüllen ist? Das Mädchen würde es gar nicht wollen, dass er mit ihr so viele Söhne zeugt, weil sie physisch nicht dazu in der Lage wäre.“
Der Richter schaute Ron fragend an. Dann sagte er mit scharfen Worten:
„Mr. Livingston, ich weiß nicht was Sie wollen. Ich muss Sie darum bitten, bei der Sache zu bleiben.“
„Ja, Euer Ehren.“
Ron streckte seinen Körper gerade und holte tief Luft.
„Ich gehe einmal davon aus, dass auch auf Ilgalesch diese Art von Verträge ungültig sind. Das würde aber bedeuten, dass andere Fälle, die so ähnlich gelagert sind, ebenfalls ungültige Verträge sein müssten, nämlich jene, beispielsweise, die in großer Erregung gesprochen worden sind. Ein Lebewesen, das über seine normale Veranlagung hinaus emotional an seine Grenzen gelangt oder darüber hinaus stößt, kann nicht als voll zurechnungsfähig eingestuft werden. Somit kann dem Gesetz nach kein Gericht ein von solchen Geschöpfen gemachter Vertrag als bindend anerkennen.“
Richter Scheppenlyn hob jetzt drohend seine Stimme.
Wollen Sie damit sagen, dass Ihr Mandant geistesgestört ist? Und wenn ja, dann frage ich mich, warum dem Gericht vor der Anhörung kein ärztliches Attest vorgelegt worden ist. Ich möchte Sie daran erinnern, Mr. Livingston, dass eine solche Übertretung der Bestimmungen mit Strafe geahndet wird.“
„Äh, nein Euer Ehren“, sagte Ron hastig. „Ich wollte nur anhand eines Beispiels…“
Illis Watcom wandte sich mit weit aufgerissenen Augen an seinen Anwalt.
„Großer Gott, Livingston, überlegen Sie genau, was Sie sagen. Wissen Sie eigentlich, was man auf diesem Planeten mit Verrückten macht?“
„RUHE im Saal“, schrie der Gerichtsdiener.
„Ich bin nicht verrückt!“ brüllte der Angeklagte Watcom mit heiser gewordener Stimme.
„Verdammt noch mal! Halten Sie den Mund!“ fuhr ihn Ron an. „Ich bin hier der Anwalt!“
„Mr. Livingston“, sagte der Richter ermahnend. „Das Gericht war bis jetzt mehr als rücksichtsvoll, aber ich muss Sie eindringlich davor warnen, dass meine Geduld am Ende ist. Bleiben Sie endlich bei der Sache. Mit Ihrem Benehmen erweisen Sie Ihrem Mandanten keinen guten Dienst. Ich möchte, dass die Würde des Gerichts gewahrt bleibt. Niemand schreit hier herum! Haben Sie mich verstanden?“
Ron spürte, dass er sich auf dünnes Eis begeben hatte. Ein falscher Schritt, und man würde ihm sehr peinliche Fragen stellen. Er hatte auch keine Ahnung davon, welche Strafen auf Amtsanmaßung standen. Eigentlich wollte er das auch gar nicht wissen.
Er wandte sich deshalb demütig Richter Scheppenlyn zu.
„Euer Ehren, es tut mir außerordentlich leid. Ich entschuldige mich dafür, falls ich das Gericht unbeabsichtigt beleidigt habe.“
„Nun, das Gericht nimmt Ihre Entschuldigung an“, sagte der Richter. „Fahren Sie jetzt bitte fort!“
„Vielen Dank, Euer Ehren! Ich komme nunmehr auf den Wortlaut des mündlichen Vertrages zurück“, sagte Ron.
Dann zitierte er: „Wenn ich je etwas für euch tun kann, Jungs, dann lasst es mich wissen.“
Nach einer kleinen Denkpause fuhr er fort.
„Ich möchte ganz besonders darauf hinweisen, dass das entscheidende Wort dieses Vertrages das ‚kann’ ist. Es weist eindeutig auf eine Beschränkung des Vertrages hin, die im Zusammenhang des Vermögens meines Mandanten, die Leistung zu erbringen, gesehen werden muss. Mein Mandant streitet nicht ab, dass er den Vertrag geäußert hat. Er weigert sich auch nicht, ihn zu erfüllen, er weigert sich nur, das Unmögliche auszuführen.“
Anwalt Thul Jennischjennissen erhob sich aufgeregt von seinem Platz und machte ein paar Schritte auf den Richter zu.
„Euer Ehren, ich protestiere! Jawohl, ich protestiere gegen das Plädoyer meines Kollegen Livingston. Es ist unsachlich, nichtig und leer. Ich…“
„Wollen Sie vielleicht damit sagen, dass ich dummes Zeug daher geredet habe?“ schmetterte Ron seinem Gegenspieler lautstark an den Kopf.
„Ihre Worte sind ohne jeglichen Sinn und…“
„Ihre Frau ist hässlich, ihre Kinder unehelich. Jedes normale Wesen findet Abscheu vor Ihrem Anblick“, rief Ron Jennischjennissen mit erhobener Stimme zu.
Entsetzt und mit weit aufgerissenen Augen wirbelte dieser herum und blickte Ron wütend an.
„Was sagen Sie da? Wie können sie es wagen…“
Ron schlug sich hastig die Hand auf den Mund.
„Sagten Sie nicht gerade selbst, meine Worte seien ohne jeglichen Sinn“, Jennischjennissen? Das haben Sie doch selbst gesagt! Wie können leere Phrasen Sie da beleidigen? Natürlich ist Ihre Frau nicht hässlich, Ihre Kinder nicht unehelich und normale Wesen empfinden auch keinen Abscheu vor Ihrem Anblick. Es ist also töricht von Ihnen zu behaupten, Worte sind nicht ohne Sinn. Die ilgalesche Kultur ist auf die wörtliche Bedeutung des Gesprochenen aufgebaut. Euer Ehren, gestatten Sie mir fortzufahren?“
Der Richter war sichtlich erschüttert von Rons Ausführungen.
„Ich habe so was noch nie mit anhören müssen. Aber fahren Sie fort, Herr Rechtsanwalt!“
„Nun, ich komme nochmals auf den besagten Satz zurück“, führte Ron weiter aus.
Wenn ich je etwas für euch tun kann, Jungs, dann lasst es mich wissen“, war der genaue Wortlaut, den niemand anzweifelt. – KANN, Euer Ehren, KANN!
„Na und?“ sah der Richter Ron fragend an.
„Das ist es ja, Euer Ehren. Was über das Vermögen, die Leistung zu erbringen, hinausgeht, ist unausführbar. Das Wort KANN in dieser Beziehung bedeutet ganz klar ‚ich werde tun, was ich zu tun imstande bin’. Nicht mehr und nicht weniger. Mein Mandant ist nicht in der Lage dazu, Haus und Grundbesitz zu erwerben, um eine Familie zu erhalten. Genau sowenig ist er imstande, eine komplett neue Bergsteigerausrüstung zu kaufen, die sich auf Ilgalesch nur wenige Wohlhabende leisten können. Mr. Watcom ist arbeitslos, hat keinerlei Vermögen und ist völlig mittellos. Deshalb ist mein Mandant nicht dazu in der Lage, die Forderungen der Kläger überhaupt annähernd zu erfüllen.“
„Euer Ehren!“ Anwalt Thul Jennischjennissen trat noch näher auf den Richter zu. „Ich…“
„So haben Sie doch etwas Geduld!“ Der Richter griff nach einem dicken Wörterbuch und blätterte darin.
„Mr. Livingston, ich muss Ihnen zustimmen, dass das Wort ‚KANN’ die Ausführung eines Vertrages beschränkt.“
Anwalt Jennischjennissen ergriff abermals das Wort.
„Diese Feststellung macht den Vertrag nicht ungültig, Euer Ehren. Der Beklagte muss alles in seiner Macht Stehende tun, um jedwede Forderung meiner Mandanten zu erfüllen. Im Augenblick mag er nicht dazu imstande sein, aber wenn er arbeitet, kann er das Gewünschte beschaffen, um es wenigsten ganz oder teilweise zu ermöglichen.“
„Das ist keineswegs richtig, Euer Ehren“, entgegnete Ron. Das Wort weist nicht nur auf das Vermögen der Leistungserbringung hin, sondern auch auf das Vermögen, die Leistung zur ganz bestimmten Zeit der Forderung zu erbringen. Die Forderung wurde gestellt, und mein Mandant tat, was in seiner Macht stand. Folge dessen wurde dem Vertrag Genüge getan.“
„Das ist ja ungeheuerlich“, prustete Thul Jennischjennissen aufgeregt. „Wollen Sie vielleicht damit sagen, dass es gar keinen Fall zu verhandeln gibt?“
„Genau das wollte ich damit sagen!“ stellte Ron zufrieden fest. „Aber ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und behaupte, dass mein Mandant zu Unrecht im Gefängnis saß.“
„Mr. Livingston“, sagte der Richter mit ernster Miene, „der Logik nach muss ich Ihnen eindeutig recht geben. Aber es wäre besser, wenn Sie auf diesen letzten Punkt nicht bestehen würden.“
Er hob das Hämmerchen und schlug damit dreimal auf den Tisch.
Dann machte er es kurz.
„Das Gericht entscheidet den Fall für den Beklagten. Mr. Watcom wird hiermit aller Verpflichtungen nach dem Vertrag enthoben und kann den Gerichtsaal als freier Mann verlassen, ohne Makel an seiner Integrität.“
„Herrgott noch mal, Sie haben es geschafft, Livingston! Aber jetzt nichts wie raus hier. Ich brauche einen Drink. Illis Watcom jubelte, wischte sich den Schweiß von der Stirn und zog Livingston am rechten Arm fassend hinter sich her.
„Vergessen Sie nicht Jack Rockwell, Mr. Watcom“, erinnerte ihn dieser.
„Natürlich nicht. Wir werden uns eine neue Ausrüstung zulegen und dann kann es von mir aus losgehen. Aber vorher trinken wir auf unseren Sieg vor Gericht, Livingston. Das haben wir uns verdient.“
***
Überall summten Insekten herum, die sich mit schimmernden Flügeln auf jede freie Hautstelle zum Saugen niederließen. Ron schlug nach ihnen und fluchte als er in einen Busch fiel, dessen lange Dornen an seiner Kleidung rissen und sich im Haar verfingen. Bei dem Versuch, sich zu befreien, ritzte er sich die Hand auf, über der sich eine dünne, blutende Spur zog.
„Wie oft soll ich Ihnen denn noch sagen, Livingston, dass Sie aufpassen sollen, wohin Sie gehen?“ brummte Illis Watcom verärgert von der anderen Wegseite. „Achten Sie genau, wohin Sie treten, sonst kann es Ihnen passieren, dass Sie auch in ein Sumpfloch oder etwas mit Zähnen fallen können. Und…, was kümmert Sie die Insekten? “
Aber die beißen doch“, beklagte sich Ron.
„Na wenn schon“, zuckte Watcom die Schultern. „Was haben Sie denn erwartet…, hier draußen in der Wildnis? Ich hab’ Sie vorher doch davor gewarnt, dass dieses Unternehmen nichts für Schwächlinge ist und kein Honigschlecken sein würde. Das war Ihnen doch klar, Livingston – oder?“
Ron antwortete nicht.
Aber so schlimm hatte er sich das tatsächlich nicht vorgestellt. Schon seit einigen Wochen kämpfte sich die kleine Gruppe einen Weg durch das unwegsame Gelände immer tiefer ins Gebirge hinein. Dichtes Gestrüpp wechselten sich ab mit Urwald ähnlichem Baumbestand, der endlos zu sein schien. Überall waren Tierstimmen zu hören, von denen einige ziemlich Furcht einflössend klangen. Die Riemen des Rucksackes schnitten Ron in seine Schultern, des Nachts konnte er nicht richtig schlafen und wälzte sich auf dem harten Boden unruhig hin und her. Die ganze Zeit quälte ihn das Bewusstein, dass er hier in dieser verfluchten Wildnis nie und nimmer allein zurecht gekommen wäre. Er blickte etwas neidisch auf die angeworbenen, einheimischen Führer, die geduldig und ungerührt voraus wateten. Sie waren den harten Strapazen besser gewappnet und befanden sich hier in ihrem Element, sagte sich Ron. Letztendlich stellte das aber auch kein Trost dar.
Illis Watcom kam mit einer Flasche Schnaps in der rechten Hand auf ihn zu. Bevor er einen Schluck nahm, grinste er fragend: „Sind Sie bereit zum Weitermarsch, Mr. Livingston? Wir können nicht lange auf Sie warten und müssen weiter. Außerdem sollten Sie was trinken.“
Watcom reichte Ron die Schnapsflasche rüber, die einen eigenartigen Geruch verströmte. Der lehnte jedoch ab.
„Sie sollten aber trinken“, mahnte ihn sein Partner. „Das Zeug tritt mit dem Schweiß wieder aus und vertreibt die Stechinsekten. Aber wer nicht will, der hat offenbar schon“, resümierte Watcom.
Ron stapfte verdrossen weiter und beeilte sich damit, die Führer zu erreichen. Die Männer trugen Bowiemesser mit Sägezahnung auf dem Klingenrücken, Buschmesser und Schnellfeuergewehre – alles Waffen, die viel aushielten und darüber hinaus leicht zu benutzen waren. Mit den Buschmessern hackten sie sich krachend durch das dichte Unterholz und am nächtlichen Lagerfeuer spalteten sie das Holz mit dem Bowiemesser. Ron hoffte, dass sie ihre Gewehre nie benutzen mussten, deren Munition sie in großen Magazintaschen an den breiten Ledergürteln ihrer olivgrünen Hosen trugen.
Stundenlang stampften sie unverdrossen vor sich hin, während die Sonne sich langsam dem Horizont näherte. Als die Dämmerung hereinbrach, hielt Mr. Watcom den Führer der Gruppe an.
„Wir werden uns ein Lager aufbauen müssen, bevor es richtig dunkel wird. Sucht schon mal Holz und macht ein Lagerfeuer! Hier ist genug Platz frei. Ich schaue mich inzwischen ein wenig um.“
Ron schaute Watcom interessiert nach, als dieser trotz seiner Korpulenz lautlos zwischen den Büschen verschwand.
Ein richtiger Experte, dachte er sich, ein Mann, der das Überleben gelernt und verinnerlicht hat. Ron fragte sich, ob er jemals so gut wie dieser zähe Watcom sein würde, was er aber gar nicht zum Ziel hatte, weil keine Notwendigkeit dafür bestand. Schließlich beabsichtigte er ja nicht, Watcoms Art von Leben zu führen. Seine Aufgabe war es lediglich, nach Jack Rockwell zu suchen, ihn zu finden und zu versuchen, ihn zu überreden, zur Erde zurückzukehren. Und wenn der Auftrag erledigt ist, würde er sich von der Belohnung eine Menge leisten und endlich wieder in den Urlaub fahren können. Aber es bestünde ja auch noch die andere Möglichkeit, dass ihm der widerspenstige Milliardärssohn Jack Rockwell durch die Lappen geht und der alte Rockwell eine weitere Suche finanziert. Dann würde er weiterhin von Welt zu Welt reisen, in ihren Städten bleiben und sich eine Reihe neuer Abenteuer einfallen lassen.
Ron riss sich aus seinen Gedanken und suchte zusammen mit den einheimischen Führern nach Brennholz. Nachdem sie ausreichend Platz geschaffen hatten, zündeten sie ein Feuer an und richteten ihr Nachtlager ein. Dann lehnte er sich mit dem Rücken an einen Baum und starrte in die lodernden Flammen.
Die Gerichtsverhandlung war für ihn ein großer Erfolg gewesen. Anwalt und Richter Frehnholder Thebensesserie, der das gesamte Gerichtsverfahren von der Galerie aus verfolgt hatte, war einer der ersten aus der Reihe jener gewesen, die ihn zu seinem Erfolg gratulierten. Er bot ihm sogar die Möglichkeit einer Partnerschaft an, falls gewisse Einzelheiten arrangiert werden konnten. Selbst sein Gegenspieler Thul Jennischjennissen zollte ihm großen Respekt und hielt mit Lob nicht zurück. Alles nette Leute, dachte Ron. Anständig, sauber und zivilisiert. Auch die Mädchen auf Ilgalesch waren attraktiv und sehr sexy. Vielleicht sollte er wirklich einfach hier bleiben und eine Einheimische heiraten. Die Welt von Ilgalesch war überaus angenehm , wenn man einmal von den Urwäldern absah. Aber da hatte man in der Regel ja auch nichts zu suchen. Die Strände waren schön. Ein Häuschen am Meer vielleicht? Sonne und Wasser ohne Ende, reine Luft, niemand, mit dem er das Zimmer teilen musste. Ein richtiges Paradies, sinnierte Ron.
„Hey, passen Sie auf Livingston. Bleiben Sie ruhig stehen! Bloß nicht bewegen!“
Mr. Watcom kam mit der Machete in der Hand auf Ron zugerannt. Die blitzende Klinge fuhr mit einem wuchtigen Schlag nach vorne und sauste bis auf wenige Zentimeter über seinen Kopf herab. Etwas fiel blutend auf seine Schulter und von da aus leblos auf den Boden. Ron konnte sich starr vor Schreck einen Moment lang nicht bewegen.
„Das war ein blutsaugende Ranke“, erklärte Watcom dem völlig verstörten Livingston. „Ich hab’ Sie schon mehrmals davor gewarnt. Wenn Sie sich gegen einen Stamm drücken, kommt die Baumranke geräuschlos herunter und saugt sich bei Ihnen fest. Hat sie das erst einmal geschafft, bekommen Sie sie nicht mehr los. Sie müssten sie wegschneiden, was nicht nur äußerst schmerzhaft ist, sondern eine scheußliche Wunde zurück lässt. Davon gibt es hier gleich über hundert Arten. Seien Sie also in Zukunft etwas vorsichtiger, Mr. Livingston.“
Watcom fragte nach den Führern. Ron zuckte die Schultern und schaute sich um.
„Keine Ahnung, wo sie seien könnten“, sagte er zu Illis Watcom.
„Vermutlich suchen sie nach ein paar Leckerbissen. Ich habe vorhin drei oder vier Höhlen gesehen, wo sich Hundertfüßer aufhalten könnten. Für die Einheimischen stellen diese Viecher eine ganz besondere Delikatesse dar. Könnte aber auch gut möglich sein, dass sie nicht so gerne am Feuer sitzen, weil die hellen Flammen allerlei Getier anlocken. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Livingston, ich bin ja da und werde Sie beschützen“, lachte Watcom. Dann fuhr er fort: „Kommen Sie jetzt, wir müssen was essen.“
Sie aßen aus Dosen und Pappbechern, die sie mit sich führten. Aus ihren Feldflaschen tranken sie gereinigtes Wasser und das Feuer brannte während dessen zu einem stumpfen Glühen hinab. Plötzlich waren auch die Führer da, die sich zu Watcom und Ron gesellten. In der Dunkelheit sahen sie wie leblose Statuen aus, nur die Schatten bewegten sich im flackernden Schein unruhig hin und her. Eine sanfte Brise raschelte hoch droben in den Bäumen, und durch die dicken Äste waren die Sterne in ihrer fernen Schönheit eines für Rons fremden Universums zu sehen.
Watcom stocherte in der Glut herum. Plötzlich fing er an zu reden.
„Wissen Sie, Livingston“, ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die vereinbarten zwanzig Prozent nicht zu wenig sind, wenn man bedenkt, dass Sie ohne mich überhaupt keine Chance in dieser Wildnis hätten.“
„Ich weiß, worauf Sie hinaus wollen, Watcom. Wir haben aber eine Abmachung getroffen“, antwortete Ron kurz und energisch.
„Sie wissen doch selbst, dass Abmachungen geändert werden können. Die Umstände haben sich außerdem geändert“, erklärte Watcom.
Ron wurde langsam ungeduldig.
„Nicht diese. – Wie weit ist es noch bis zum Ziel?’“
„Nicht mehr allzu weit. Aber bleiben wir beim Thema, Mr. Livingston. Ohne mich könnten Sie in dieser unwegsamen Gegend noch ein ganzes Jahr herumirren. Andererseits schulde ich Ihnen was, weil Sie mich aus dem Gefängnis geholt haben.“
Watcom nahm einen Schluck aus seiner Flasche und spuckte den Rest wieder aus. Dann wandte er sich Ron abermals zu.
„Haben Sie den jungen Rockwell überhaupt jemals richtig kennen gelernt? Er ist ein echter Draufgänger, der vor nichts zurückschreckt.
Manche behaupten sogar, er sei sadistisch veranlagt und andere sagen, dass er verrückt sei. Würde ein ganz normaler Mensch so was tun, wie dieser Junge, der über ein Erbe von Hunderte von Milliarden verfügt? Liegt es am Geld oder gibt es andere Gründe für seine Flucht vor seinem reichen Vater? Aber es wird sowieso viel zu viel spekuliert und am Ende wird aus jedem Gerücht wohl möglich noch eine Wahrheit.“
Illis Watcom schaute nachdenklich ins lodernde Feuer. Er nahm einen weiteren, tiefen Schluck aus der Schnapsflasche und spuckte den Rest in die Flammen, die plötzlich für wenige Sekunden wie wild in die Höhe züngelten. Dann sprach er weiter.
„Ja, dieser Jack Rockwell. Ich kann mich noch genau daran erinnern, als er hier ankam und von den Nomaden in den Bergen hörte. Also, was tut er? Er macht sich daran, sie zu finden, und jetzt ist er bei ihnen. Oder zumindest war er es noch, als ich ihn das letzte Mal dort sah.“
„Ich brauche Tatsachen“, entgegnete Ron. „Nähere Informationen, nach denen ich mich richtigen kann. Erzählen Sie mir, was Ihnen damals im Lager aufgefallen ist, als Sie bei ihm waren.“
Watcom grunzte laut vor sich hin, er schlief bereits. Na ja, ich werde ihn morgen danach fragen, wenn er ausgeschlafen hat, dachte sich Ron. Gähnend streckte er seine Beine von sich und schlief nach einer Weile selbst ein.
Als er wieder aufwachte, war es Tag. Das Feuer war ausgegangen, die Führer verschwunden. Ein Schuss krachte. Ein etwa einssechzig großer Urwaldbewohner, säuberlich in Uniformjacke, Hose und Stiefel aus braunem Leder gekleidet, erschien auf der Bildfläche. Das Gewehr war auf Ron gerichtet.
„Ah“, sagte der Eingeborene. „Du lebst also! Ich hatte schon meine Zweifel.“
Ron wich dem Schießprügel aus. „Hätte ich tot sein sollen?“
„Keineswegs, alter Junge. Eine hübsche Waffe, findest du nicht? Mit Zielfernrohr für den genauen Schuss. Sehr nützlich. Schau’ mal runter an Dir!“
Einen halben Schritt vor Rons Füßen lag ein hässliches Geschöpf mit sechs Beinen im Todeskampf zuckend auf dem Boden. Der Eingeborene fasste das sterbende Insekt an beiden Fühlern und schleuderte es in die noch heiße Asche.
„Das war knapp. Danke!“ krächzte Ron.
„Oh, nichts zu danken. Wir intelligenten Wesen müssen doch zusammenhalten. Nach dem Lager zu beurteilen ward ihr mehr – oder?“
„Die Führer sind wahrscheinlich abgehauen. Wo der andere ist, weiß ich nicht“, antwortete Ron.
„Höchstwahrscheinlich ahnten sie, dass wir kommen würden und haben das Weite gesucht. Dein Freund dagegen ist bedauerlicherweise tot.“
Livingston erschrak.
„Was…, tot?“
„Ja, leider. Wir fanden ihn, als wir uns eurem Lager näherten. Meine Gefolgsleute befinden sich dort hinten zwischen den Büschen. Möchtest du sie sehen? Nein? Macht nichts! Jede Rasse hat ihre Eigenarten.“
„Wie ist mein Freund gestorben?“
Der Eingeborene zuckte die Schulter.
„Genau kann ich das nicht sagen. Er könnte auf alle mögliche Weise das Zeitliche gesegnet haben. Ich vermute mal, dass eure Führer ihn ermordet haben. Tatsächlich aber wurde sein Kopf durch ein scharfes Instrument vom Rumpf getrennt. Sieht nicht gerade einladend aus. Wahrscheinlich verdankst du nur unserer Ankunft, dass du noch lebst.“
„Dafür bin ich euch dankbar“, sagte Ron. „Wenn ich irgend etwas tun kann…“
„Das kannst du. Hast du Geld dabei oder andere Wertsachen?“ fragte der uniformierte Urwaldbewohner.
„Die Expeditionsausrüstung hat viel Geld gekostet. Was ich in der Tasche habe, ist alles, was mir noch übrig geblieben ist. Viel ist es nicht.“
„Wie schade“, sagte der Eingeborene milde. „Du erstaunst mich! Wir haben dir dein Leben gerettet, und du kannst uns nicht einmal dafür entschädigen. Das Leben muss dir doch wahrhaftig alles wert sein, was du besitzt, denn was ist Habe ohne Leben? Ich will noch weitergehen, mein lieber Junge. Da wir dir das Leben gerettet haben, sagt schon die Moral, dass es nun uns gehört. Die Logik müsste auch dir einleuchten, wie du mir bestimmt beipflichten wirst.“
„Einen Moment mal“, sagte Ron besorgt. „Ich…“
„Wir müssen weiter. Wir können hier nicht länger bleiben“, unterbrach ihn der Urwaldbewohner. „Zeit ist Geld. Möchtest du vielleicht noch Abschied von deinem Freund nehmen? Wir möchten nicht gegen die Sitten irgendwelcher intelligenter Wesen verstoßen. Nein? Soll mir auch recht sein. Dann machen wir uns auf den Weg.“
„Wohin“, fragte ihn Ron.
„Das wirst du noch früh genug erfahren.“
Mit dem Lauf des Gewehres stupste der uniformierte Eingeborene Ron leicht an und forderte ihn zum Gehen auf.
„Ich würde dir nur ungern körperliches Unbehagen verursachen. Aber da wir uns ja bereits einig sind, dass dein Leben uns gehört, kannst du es mir nicht verdenken, dass ich unser Eigentum logischerweise schütze. Ich bezweifle, dass du ohne uns in dieser Wildnis überleben würdest. Also, lass uns jetzt aufbrechen.“
Ron hatte keine andere Wahl und gehorchte.
Aus dem Gebüsch traten noch fünf andere Eingeborene hervor, die Ron argwöhnisch beäugten. Dann nahmen sie ihn in die Mitte und zogen davon.
Den Rest des Tages kämpften sie sich stumm und immer müder werdend dahin. Bei Beginn der Abenddämmerung sah Ron einen Lichtschimmer voraus, der zu einem gewaltigen Feuer anwuchs, bis sie das Lager erreichten. Überall liefen Eingeborene herum. Einige beschafften Holz aus dem Urwald, andere beschäftigten sich mit aufgestapelten Grasballen. Die Frauen hockten mit ihren Kindern in primitiven Hütten. Als sie Ron sahen, verschwanden sie darin.
In der Mitte des Lagers stand ein großes Zelt, und durch die offene Klappe waren ein Tisch und mehrere Stühle zu sehen. Ein kräftiger Mann mit einem bunten Hut auf dem Kopf wartete auf die kleine Gruppe.
„Was soll das?“ schnaubte er. „Ihr Männer solltet Häute und Felle sammeln und nicht Gäste hierher bringen.“
Der Eingeborene mit der Uniform erklärte alles in kurzen Worten.
Der Mann mit dem bunten Hut schaute nickend zu Ron hinüber.
„Diese Kreatur schuldet uns also ihr Leben, eh? Nun, das ist natürlich was anderes. Aber setz dich zu mir, alter Junge. Hast du Hunger? Bringt uns was zu essen, Männer!“
Ron nahm dankbar das auf einem Stecken Gegrillte entgegen. Das gebratene Tier hatte knusprige Beine, die er jedoch abbrach, ehe er die Zähne in das Fleisch grub. Es war erstaunlich saftig, eine richtige Delikatesse.
„Na, fühlst du dich besser?“
Der Hauptmann neben ihn griff nach einem Tonkrug. „Möchtest du auch einen Schluck? Es ist Alkohol drin.“
„Ja, bitte.“ Ron setzte den Krug an und nahm einen tiefen Schluck daraus. Der Saft schmeckte ähnlich wie Bier und tat ihm außerordentlich gut.
Dann sprach ihn der Hauptmann wieder an.
„Sag“, fragte er vertraulich, „habt ihr Wertsachen in eurem Lager gehabt? Waffen, Munition, Felle, Geld oder Edelsteine? Ich muss das wissen, weil meine Männer nicht ehrlich zu mir sind. Es wäre möglich, dass sie vor mir was verstecken. Ich muss ständig hinter ihnen her sein.“
„Sie haben mir mein Geld abgenommen. Dürfte ich es bitte zurückhaben?“
„Ich fürchte, nein. Es fällt unter die Kategorie rechtmäßige Beute und wird mit zum Unterhalt meines Stammes beitragen. – Was bist du eigentlich?“
„Ich? Ein Mensch von der Erde.“
„Das wollte ich nicht wissen. Was tust du. Dein Beruf.“
„Ich bin Drehbuchautor und Filmemacher.“
„Das ist bei uns zur Zeit nicht gefragt. Kannst du Jagen, Gärtnern oder auf einem Musikinstrument spielen?“
„Ich war Sachbearbeiter beim Megakonzern TRANSGALAKTIKA.“
„Na ja, schon besser!“ freute sich der Hauptmann. „Ein Büroangestellter also. Sonst noch was?“
„Ich war für kurze Zeit Anwalt und Strafverteidiger. Ich habe alle meine Fälle gewonnen“, sagte Ron.
„Das ist ja hervorragend! Aber wie stets mit manueller Arbeit? So richtig mit den Händen. – Nein? Ist nicht weiter schlimm. Wir machen das Beste daraus und werden schon was für dich finden.“
Der Hauptmann griff plötzlich nach einem Formular, füllte einen Teil davon aus und schob es Ron zu.
„Da, unterschreibe, wo ich das Kreuz gemacht habe, dann kannst du dich schlafen legen.“
Ron beäugte das Dokument argwöhnisch.
Was ist das für ein Vertrag?“
„Ein Standartvertrag. Du brauchst nur hier zu unterschreiben.“
„Nicht so hastig“, sagte Ron zu dem Hauptmann. „Ich muss mir das erst alles genau durchlesen.“
Ron las sorgfältig das gedruckte Formular.
Darauf stand, dass der Unterzeichnete sich dazu bereit erklärt alle ihm zugeteilte Arbeiten durchzuführen, solange diese Aufgaben unter die Kategorie Büroarbeiten, Schreiben, Reden und weitere Dienstleistungen fielen. Festgesetzt wird ein Zeitraum von insgesamt zehn Jahren, ab heutigem Tag.
Ron protestierte laut und legte das Blatt auf den Tisch zurück.
„Das unterschreibe ich niemals“, rief er empört.
„Warum nicht? Stimmt etwas nicht?“ fragte der Hauptmann.
„Eine ganze Menge. Wenn ich das unterschreibe, wäre ich die nächsten zehn Jahre nichts Besseres als ein Sklave. Das kann und werde ich nicht unterschreiben.“
Der Hauptmann schaute Ron mit grimmigem Gesicht an. Seine rechte Faust landete krachend auf dem Tisch, dann donnerte er los: „Muss ich dich daran erinnern, dass du uns dein Leben schuldest? Moralisch habe ich das Recht, deine Dienste für den Rest deines Lebens zu verkaufen. Wir sind aber eine Rasse, der Gier fremd ist. Wir sind anständige Wesen. Ich hätte auch zwanzig und mehr Jahre schreiben können. Unterschreib’ jetzt, dann gönnen wir uns gemeinsam einen Drink und vergessen diese unangenehme Auseinandersetzung.“
„Und wenn ich nicht unterschreibe?“
„Jetzt reicht es…! Holt mir den Wärter der Käfige!“ polterte der Hauptmann. „Schafft mir diesen undankbaren Kerl aus den Augen!“
Der Käfig war vier Meter breit und etwa zwei Meter hoch. Außer einer kleinen Pritsche, einem Tisch mit Stuhl stand nichts drin. Die schwere Tür und das kleine Fenster waren vergittert.
Impulsiv rüttelte Ron an den eisernen Gitterstäben herum, was aber keinen Sinn machte. Sie waren alle fest einbetoniert.
Ein kräftige Stimme aus dem Nachbarkäfig grollte ihn an.
„Das hat keinen Zweck. Hör auf! Willst du das ganze Lager aufwecken?“
Es war ein Eingeborener mittleren Alters, der jetzt aus der anderen Ecke des Nachbarraumes mit schlürfenden Schritten auf Ron zukam.
„Wer bist du?“
„Ich bin Ron Livingston. Und du?“
„Meelaen, der Dieb. Ich habe dem Hauptmann einen Teil der Beute vorenthalten und muss noch einen Tag in diesem Käfig sitzen. Dann ist meine Strafe von vierzig Tagen rum. Wie lange bleibst du noch hier?“
„Ich habe einen Vertrag nicht unterschrieben. Jetzt sitze ich offenbar in Beugehaft. Wenn ich doch nur wieder freikäme! Ich bin reich und habe sehr viel Geld. Möchtest du nicht ein bisschen Geld verdienen, wenn du hier wieder rauskommst?“ fragte Ron den Dieb Meelaen.
„Wie viel?“
„Ein Menge. Du kriegst es, wenn wir in der Stadt sind. Kennst du Endor von Kur, den Handelsattachè? Er ist ein alter Mann und ein guter Freund von mir. Er wird tun, was ich sage.“
„Von welcher Stadt redest du eigentlich?“
„Der mit dem Raumhafen“, antwortete Ron.
„Welcher Raumhafen? Wir sind hier in der Nähe von Sendalesen. Diese Stadt liegt auf der anderen Seite der Berge. In Sendalesen kenne ich keinen Endor von Kur, der Handelsattachè sein soll. Auf so einen miesen Trick falle ich nicht rein. Von mir aus kannst du hier drinnen verfaulen.“
Düster blickte Ron dem Dieb nach, als dieser sich in die schummrige Ecke seines Käfigs zurückzog. Er war wütend auf sich, weil er nicht darüber nachgedacht hatte, dass Ilgalesch ein großer Planet war, auf dem es viele Städte mit einem Raumhafen gab.
Fern der Heimat und zu dumm zum Überleben. Und wenn ich nicht soviel Glück bis jetzt gehabt hätte, wäre ich schon längst zu einer stinkenden Leiche geworden, dachte er bitter. Er saß jetzt auf der Holzpritsche und zog die Beine an, die ihm schmerzten. Es war etwas anderes, ein Buch über ein fiktives Abenteuer zu schreiben oder nur darüber einen Film zu drehen, als die harte Wirklichkeit hautnah erleben zu müssen. Missmutig zerquetschte er mit einem Regalbrett einen quirligen Hundertfüßler, der genüsslich an seinem Schuh nagte.
***
Am nächsten Tag kam der Hauptmann wieder zu ihm. Der kräftige Wärter öffnete die verriegelte Tür und Ron musste den Käfig verlassen.
„Meine Leute haben mir gewisse Einzelheiten von deiner Expedition erzählt, dass du über sehr viel Geld verfügst und du auf der Suche nach einem Mann bist, der Jack Rockwell heißen soll. Stimmt das?“
„Ja“, antwortete Ron kurz.
„Nun, wenn das so ist, dann mach’ ich dir einen Vorschlag. Du unterschreibst den ausgehandelten Zehnjahresvertrag mit einer befreienden Zusatzklausel, eine Verzichtserklärung unsererseits, die für den Fall in Kraft tritt, sozusagen aus Sicherheit für mich und meinen Stamm, wenn wir dich zu diesem Kerl gebracht haben. Entweder er kauft dich frei oder du selbst zahlst an uns ein noch zu vereinbarendes Lösegeld. Klappt das Geschäft, dann lassen wir dich auf der Stelle laufen und verschwinden auf Nimmerwiedersehen. Wenn nicht, bleibst du die vereinbarte Zeit bei uns.“
Ron blieb auch diesmal keine Wahl und willigte ein. Er wollte einfach nicht in diesen vor Dreck stinkenden Käfig zurück, wo es vor Ungeziefer nur so wimmelte. Ihm war die Freiheit wichtiger, als alles andere.
Eine Stunde später brachen sie auf. Ron ärgerte sich darüber, wie man ihn behandelte. Wie ein Packtier hatte man ihn beladen und noch dazu zwei Wärter zur Bewachung an seine Seite gestellt. Anfangs war Ron davon überzeugt gewesen, dass die körperlichen Strapazen sein Tod sein würden, aber im Laufe der Tage hatte er sogar immer mehr an Kraft gewonnen. Vielleicht lag es am Essen, das überwiegend aus Fleisch und einem mit Alkohol versetztem Gebräu bestand.
Gegen Mittag machten sie Rast auf einer weiten Lichtung. Der Hauptmann kam mit schwerfälligen Schritten auf Ron zu. Sein Gesicht war Schweiß überströmt.
„Wir irren schon zu lange herum“, brummte er und hantierte nebenbei auffällig an seinem Schnellfeuergewehr herum.
„Es gefällt mir nicht. Wo ist dieses Lager, von dem du geredet hast, in dem sich dieser Jack Rockwell angeblich befinden soll?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ihm Ron. „Ich sagte Ihnen doch das Watcom getötet wurde. Die Führer hätten es natürlich auch finden können, aber sie sind verschwunden.“
Der Hauptmann machte plötzlich einen Schritt zurück und blickte an einem Baum hoch.
„Siehst du was?“
„Ich bin mir nicht sicher, Chef“, antwortete eine Stimme von oben. „Ich steige noch ein wenig höher hinauf…“
Das Laub der obersten Zweige raschelte. Äste bewegten sich hin und her.
„Ich glaube…, Ja! Im Norden steigt eine Rauchfahne hoch!“
„Das muss das Lager sein!“ sagte Livingston erleichtert.
„Merk’ dir die Richtung und komm’ wieder runter!“ brüllte der Hauptmann zu dem sich in der Baumkrone befindlichen Ausguck hoch. Dann wandte er sich wieder an Ron.
„Bist du ganz sicher, dass dieser Jack Rockwell reich ist?“
„Seinem Vater gehört die halbe Erde, große Mond- und Marsländereien. Auch am Konzern TRANSGALAKTIKA soll er beteiligt sein. Sein Sohn könnte ganz Ilgalesch kaufen, wenn er wollte. Zerbrechen Sie sich also nicht den Kopf darüber, dass Sie das Geld nicht bekommen. Vielleicht kriegen Sie sogar noch ein hübsches Sümmchen dazu. Das wird die einträglichste Expedition sein, die Sie je gemacht haben.“
Der Hauptmann grinste zufrieden und trat an den Baum, von dem ein Mann flink herunter kletterte.
„Hast du die Position genau notiert? Wie weit es noch bis zu dem Lager?“
Der schlanke Kletterer trug ebenfalls eine Uniform, auf die er sichtlich stolz war. Er wischte sich einige Blutegel mit Widerhaken von der Haut.
„Nicht weit. Bis zum Abend dürften wir dort sein, Chef“, sagte er schließlich.
Ron marschierte mit einem Dutzend Dschungelbewohner weiter. Die Vorhut machte der Hauptmann an der Spitze, der seinen Schritt beschleunigte, jetzt da er wusste, wo sich das Lager befand. Ron konnte das nur recht sein, denn je eher sie dort ankamen, desto schneller würde er sich wieder wie ein Mensch fühlen können. Er brauchte nur diesen jungen Rockwell zu finden, ein paar Worte mit ihm wechseln, dann würde er frei von dem Vertrag sein. Vielleicht könnte er ihn sogar dazu überreden, sofort mit ihm zur Erde zurück fliegen und dafür sorgen, dass er sicher in ein zivilisiertes Leben zurückkäme.
Jack Rockwell würde sich bestimmt freuen, ihn zu sehen. Er würde es sicherlich kaum erwarten können das Neueste von Terra zu hören oder was er ihm von seiner Familie zu berichten hat.
Diese Gedanken hielten Ron aufrecht, während er sich mit den bewaffneten Männern durch den unwegsamen Dschungel kämpfte. Zweimal hielten sie an, um sich wieder nach dem Rauch zu orientieren, und einmal mussten sie sogar einen weiten Bogen um ein trockenes, nur spärlich bewachsenes Gebiet machen, in dem eine Menge unangenehmer Lebensformen ihr Unwesen trieben. Der Hauptmann blieb stehen und wartete auf Ron.
„Eine sehr gefährliche Gegend. Hier leben die grässlichen Lochklecken. Wenn man auch nur in die Nähe ihrer dunklen Löcher kommt, ist man schon verloren. Sie haben acht Beine und zwei lange, klebrige Fangarme, die aus der Höhle ganz plötzlich hervorschießen und betäubend wirken. Mit ihren kräftigen Tentakeln ziehen sie einen zu sich her und ehe man sich versieht, fressen sie einen ganz langsam auf. Einige meiner Männer hat es schon erwischt, weil sie auf der Jagd zu unvorsichtig waren. Sie mussten alle eines grausamen Todes sterben. Ihre fürchterlichen Schreie hallten tagelang durch die Gegend. Das Schlimmste daran war, dass wir keinem helfen konnten. Die Viecher ziehen sich nämlich mit ihrem Opfer tief in ein weitverzweigtes Höhlensystem zurück, wo man sie nicht erwischen kann. Da traut sich niemand rein, nicht einmal wir.“
„Puh!“ Ron wurde fast übel. Allein wäre er bestimmt durch dieses Gebiet marschiert und auch noch froh darüber gewesen, dass es hier keine Bäume und so gut wie keine Büsche gab.
„Den Lochklecken hat es natürlich gefreut. Sie hatten jedes Mal Frischfleisch für mehrere Tage. Aber ihre Opfer! Stell dir vor, du bist fast gelähmt von dem klebrigen Gift, aber bei vollem Bewusstein und das Ding hat dich irgendwo in seiner Höhle tief unter dem Boden versteckt abgelegt. Diese entsetzliche Einsamkeit, während du vor Schmerzen schreist. Dann hörst du das Rascheln der Beine. Das Biest kommt näher, lutscht, schmatzt und beisst an dir genüsslich herum, es frisst dich ganz langsam auf…“
„Aufhören! Kein Wort mehr davon!“ schrie Ron angewidert. „Das ist ja entsetzlich. Ich würde die ganze Gegend mit Bomben umpflügen und dem Erdboden gleichmachen. Dann hätte dieser Horror ein Ende.“
„Geht nicht, weil es von ihnen auf Ilgalesch nur noch sehr wenige gibt. Deshalb stehen sie auch unter Naturschutz. Aber typisch Terraner, wollen immer alles gleich platt machen“, sagte der Hauptmann vorwurfsvoll.
Ron fluchte die ganze Zeit. Plötzlich stolperte er und wäre beinahe der ganzen Länge nach hingefallen.
„Es ist ratsam, immer auf sein Gleichgewicht zu achten“, mahnte ihn grinsend der Hauptmann. „Man weiß nie, wohin man fällt. Ach ja, ich hab’ Ihnen noch gar nicht von den Schlammwürmern erzählt, die in jede Körperöffnung eindringen und ihre Eier mit Vorliebe im Darm des befallenen Lebewesens ablegen. Es dauert vier bis sechs Wochen bis die Brut schlüpft, um schließlich den ahnungslosen Wirt innerhalb weniger Stunden von innen her mit ihren rasiermesserscharfen Minizähnchen aufzufressen. Sie lassen nicht einmal die Knochen übrig. Kein schöner Tod, solange drauf warten zu müssen…, oder?“
„Es reicht jetzt. Ich muss mir das nicht anhören“, sagte Ron zähneknirschend, hielt kurz an, reihte sich zwei Männer hinter dem Hauptmann wieder in die vorbeiziehende Gruppe ein und marschierte weiter.
Ein schriller Schrei von der Vorhut drang plötzlich zu ihnen. Einer der uniformierten Dschungelbewohner schien in Schwierigkeiten zu sein.
„Hauptmann, wir…“ Ein gefiederter Pfeil sauste heran und durchbohrte die Gurgel des Mannes, der lautlos zu Boden sackte und zuckend am ganzen Körper liegen blieb.
Ron ließ sich auf die Knie fallen und beobachtete die Gegend. Überall schwirrten jetzt Pfeile durch die Luft.
„Zu den Waffen, Männer! Bildet einen Kreis um mich! Wir werden angegriffen!“ brüllte der Hauptmann nach allen Seiten.
Ron kroch auf allen Vieren zu dem sterbenden Eingeborenen und nahm ihm das Gewehr und die dazu gehörige Munition ab. Er wollte im aufkommenden Kampfgetümmel die Chance nutzen, um sich allein zum Lager durchzuschlagen, das ganz in der Nähe lag.
„Du Verräter!“ donnerte der Hauptmann, der auf einmal wie aus dem Nichts neben Ron auftauchte. „Du gemeiner, abscheulicher Terraner. Dreckiger Zweibeiner. Du hast uns absichtlich in eine Falle geführt!“ Er hatte sein Schnellfeuergewehr hochgerissen und zielte jetzt damit auf Livingston.
Ron stand auf und sprang zur Seite. Er versuchte verzweifelt dem möglichen Todesschuss seines Widersachers zu entkommen, was ihm aber nicht gelang. Hilflos blieb er stehen und streckte beide Arme in die Luft. In diesem Augenblick tauchte ein Schatten hinter dem Rücken des Hauptmanns auf und ein dicker Holzprügel krachte mit einem hässlichen Geräusch auf seinen Kopf. Blut spritzte nach allen Seiten, dann sackte er stöhnend zu Boden, wo er leblos liegen blieb.
Ein hochgewachsener Wilder mit Feder- und Glasperlenschmuck, Kriegsbemalung und Lendentuch stieg über die Leiche des Erschlagenen und musterte Ron von oben bis unten.
„Sie müssen Mr. Livingston sein, nicht wahr? Wir haben den Befehl, Sie ins Lager zu begleiten. Bitte folgen Sie uns! Jemand wartet dort auf Sie“, sagte er mit ruhiger Stimme.
Das letzte Stück des Weges war noch schlimmer als alles zuvor. Der Dschungel wurde immer dichter. Es war finstere Nacht, als sie das Lager erreichten. Ron gewann nur einen etwas wirren Eindruck von den Zelten und Hütten aus Rinde und Blättern, auf die flackernden Flammen unruhige Schatten warfen, genau wie auf die Gesichter der Umstehenden.
„Ja, wen haben wir denn da?“ sagte ein raue Männerstimme aus dem Hintergrund. Ron drehte sich um und blickte direkt in die Augen von Jack Rockwell.
***
Jack Rockwell war von großer Statur und sah noch besser aus, als Ron aus der Fotografie geschlossen hatte. Sein Körper war gut durchtrainiert und muskellös, die Haut braungebrannt, die blonden Haare waren kurzgeschnitten und die blauen Augen hatten den starren Blick eines angriffslustigen Adlers. Jack hatte ihn eingeladen und zu sich ins Zelt gebeten.
Von den Schichten seines Reiseschmutzes befreit, gut ausgeruht und satt saß Ron später auf einem Holzstuhl mit rotem Lederbezug und betrachtete aufmerksam seinen Gastgeber.
„Mr. Rockwell, wie kommt so ein netter junger Mann an einen solchen Ort? Ich meine, warum verkriechen Sie sich in einem stinkenden Dorf mit wilden Nomaden? Was gibt es Ihnen?“
„Mr. Livingston, ich will ehrlich zu Ihnen sein. Mich macht es wütend, wenn Kerle wie Sie mich hier aufstöbern und Löcher in den Bauch fragen. Sie haben übrigens Glück gehabt, mich angetroffen zu haben. In zwei Tagen fliege ich mit meinem eigenen Raumschiff nach Mal de Mare im System Kandelar.“
„Nun, Mal de Mare war mein eigentliches Ziel. Dort vermutete man Sie zuletzt. Ich bin nur durch Zufall auf Sie gestoßen, als ich im Hotel der Stadt Gho einem Zimmermädchen ein Foto von Ihnen vorlegte. Sie hat sie nach einigem Hin und Her wiedererkannt.“
„So, so. Sie sind ein richtiger Glückspilz. Mal de Mare steht zwar auch auf meinem Reiseziel, aber das Leben hier auf Ilgalesch unter den einfachen Menschen im Dschungel gefiel mir so gut, dass ich mich dazu entschlossen habe, länger zu bleiben als geplant“, sagte Jack.
Ron wechselte abrupt das Thema. Seine Stimme klang würdevoll, als er zu sprechen anfing.
„ Ich bringe eine Nachricht von Ihrem Vater. Er braucht Sie und bittet Sie inständig darum nach Hause zu kommen.“
„Mein Vater und mich brauchen? Das ich nicht lache!“
„Er ist alt. Sein Ende nicht mehr fern. Können Sie das nicht verstehen, dass er seinen einzigen Sohn wiedersehen möchte, zum letzten Mal vielleicht? Wie können Sie nur so hartherzig sein, ihm diesen Wunsch zu verweigern.“
„Das kann ich mit Leichtigkeit!“
„Aber er ist doch Ihr Vater!“ entrüstete sich Ron.
Jack erhob sich plötzlich von seinem Platz und ging im Zelt hin und her. Es war ein seltsame Atmosphäre in dieser Behausung, mit geblichenen Knochen, allerlei Dschungelfrüchten, Speeren und Bogen. Auf einem primitiven Holzregal lag eine moderne Laserpistole. Vor dem Bett hing ein nicht ganz zugezogener Insektenvorhang. Etliche Leichtmetallkoffer aus Aluminium standen neben großen und kleinen Kunststoffbehältern auf dem Boden, der mit Tierfellen bedeckt war. In einem hohen Schrank aus geflochtenen Rohren hingen verschieden Kleidungsstücke, darunter auch ein leichter Raumanzug.
„Sie sind verdammt lästig…“, sagte Jack. „…Ein verfluchter Schnüffler, der seine Nase überall reinstecken muss. Trotzdem werde ich versuchen, es Ihnen zu erklären.“
Der junge Rockwell machte eine kleine Denkpause und setzte sich wieder auf seinen mit rotem Leder bespannten Stuhl. Dann sprach er weiter.
„Mein Vater hegt keinerlei freundliche Gefühle für mich, und umgekehrt ist es nicht anders. In meinem ganzen Leben habe ich meinen Daddy vielleicht fünf oder sechsmal gesehen, ehe ich vierzehn war, und danach im Jahr höchsten ein oder zwei Mal…, wenn ich Glück hatte. Ihn interessierte nichts anderes, als Geld zu machen und sein Imperium TRANSGALAKTIKA auszuweiten. Als meine Mutter starb, hinterließ sie mir ein sagenhaftes Vermögen und ein Geheimnis, das von ihr auf Mal de Mare hinterlegt worden ist. Meinen Vater juckt es danach, nicht nur an mein gigantisches Vermögen heranzukommen, sondern will herausbekommen, was hinter diesem Geheimnis auf Mal de Mare steckt. Es muss etwas außerordentlich Wichtiges sein, denn sonst hätte er nicht so viele Männer auf mich angesetzt. Außerdem möchte er, dass ich ihm alle Rechte überschreibe, weil er irgendwas Neues aufbauen will. Wenn ich zur Erde zurück kehre, gelingt es ihm ganz sicher, mich irgendwie festzunageln, bis ich bei seinem diffusen Projekten mitmache.“
Ron runzelte nachdenklich die Stirn. Die Sache nahm eine völlig andere Wendung, als er ursprünglich dachte.
„Nun, ganz verstehe ich die Sache immer noch nicht. Sie könnten doch durch jede Planetenbotschaft Geschäfte abwickeln.“
„Das weiß ich auch.“
„Und warum tun Sie das nicht? Auf diese Weise können Sie Ihren Vater loswerden. Oder versucht er, Sie auszunehmen?“
„Das würde er sich nie trauen. Er hat zu viel Angst vor mir. Ich würde ihm dafür den Hals brechen“, erwiderte Jack mit eiskalter Miene. „Ich liebe meine persönliche Freiheit und will mein Leben genießen. Ich habe genug Geld, mehr brauche ich nicht. An Vaters Projekten bin ich nicht interessiert. Reicht Ihnen diese Erklärung? Übrigens, wenn Sie in zwei Tagen mit nach Mal de Mare fliegen wollen, können Sie mitkommen. In meinem Sprungraumer habe ich noch einige Plätze frei.“
„Natürlich gerne“, antwortete Ron erfreut.
„Was machen Sie eigentlich beruflich, außer hinter anderen Menschen herzujagen“, fragte ihn Jack unverhofft.
„Zuletzt arbeitete ich als Sachbearbeiter bei TRANSGALAKTIKA. Ich schreibe an Büchern und drehe ab und zu verschiedene Filme, um genauer zu sein Dokumentarfilme. Ist aber schon eine zeitlang her. Bin vor Jahren Pleite gegangen.“
„Oh tatsächlich? Sie scheinen ja ein ziemlich bewegtes Leben hinter sich zu haben. Peinlich nur, dass so ein kreativer Mensch wie Sie den Rest seines Leben am Schreibtisch verbringen muss. Nun, in jeder Pleite steckt aber auch ein neuer Anfang.“ Jack lachte ein wenig, kam aber gleich wieder zur Sache.
„Haben Sie denn schon Bücher veröffentlicht?“
„Es sind hauptsächlich Drehbücher für filmische Projekte. Mein letztes dürfte Sie eventuell interessieren. Es heißt „DER MANN, DER ALLES ÜBERLEBTE TEIL II. Es befasst sich im Wesentlichen damit, wie man sich der unterschiedlichsten Umwelt auf den jeweiligen Planeten anpassen und jeglicher Situation Herr werden kann.“
„Zu dumm, dass Sie es noch nicht gelesen haben.“
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte Ron verdutzt sein Gegenüber.
„Tja, da sind Sie ja wohl nicht gerade jemand, den man als leuchtendes Beispiel hervorheben könnte. Sie kommen hier nach Ilgalesch, stolpern von einem Fettnäpfchen ins nächste, waren Sklave bei wilden Uniformträgern, wurden im Busch fast umgebracht und mussten von meinen eigenen Männern gerettet werden. Menschen wie Sie darf man daher nicht aus den Augen verlieren, wenn man ihnen helfen und sie vor Schaden bewahren will. Sagt Ihnen übrigens der Name Frederick Random etwas?“
„Das ist mein Agent. Er hat mir diesen Auftrag mehr oder weniger zugeschanzt und mich mit Ihrem Vater zusammengebracht“, sagte Ron. Seine Neugier konnte man ihm dabei schon fast ansehen.
„Frederick Random, Senator Melledin, der Navigator Till Tellering Timotey Millston, , der gute alte Endor von Kur und sogar Illis Watcom, um nur einige zu nennen. Sie alle gehören – oder gehörten – zu meinem privaten Informationsdienst. Leider wurde Mr. Watcom von seinen eigenen Führern ausgeraubt und grausam umgebracht. Dieser undankbare Abschaum! Aber sie haben bereits für ihr schändliches Verbrechen bitter büßen müssen. Schon mal was von den Lochklecken gehört? Ich…“
„Ja, habe ich. Bitte keine genauen Details, sonst wird mir übel. Strafe muss sein, aber sind Sie da nicht ein wenig zu weit gegangen?“ unterbrach ihn Ron.
„Finden Sie? Na ja, Sie müssen eben noch viel lernen, Mr. Livingston. Hier draußen herrschen in der Tat andere Gesetze. Mit solchen drakonischen Strafen verschafft man sich Respekt bei seinen Gegnern. Natürlich kann ich bei Ihnen nicht voraussetzen, dass Sie das verstehen. Wie, glauben Sie, wäre ich sonst hier, wo ich bin?“
„Ich dachte durch Geld“, antwortete Ron zynisch. „Sie haben vermutlich alle bestochen, damit Sie Ihr Leben so führen können, wie Sie es wollen. Wer ist hier in diesem Dorf eigentlich der Boss?“
„Ich bin hier der Boss, der uneingeschränkte Führer dieses Stammes sozusagen“, antwortete Jack Rockwell sichtlich erstaunt über diese Frage.
Erschrocken studierte Ron seine Miene, um zu ergründen, ob er log. Er konnte ihr aber nichts entnehmen. Watcom hatte ihm davon erzählt, dass er versucht hatte, Jack vom Häuptling freizukaufen, was demnach nur bedeuten konnte, dass hier noch jemand war, der mehr zu sagen hatte als der 24-jährige Rockwell. Vielleicht hatte Watcom nur übertrieben oder schlichtweg aus irgendwelchen Gründen gelogen.
„Ich spreche vom echten Führer der Nomaden, dem Häuptling.“
Jacks Gesichtszüge spannten sich ein wenig. Dann sagte er gereizt: „Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich bin hier der Häuptling. Der alte hat verloren, und ich hab’ seinen Platz eingenommen, weil ich den Kampf gewonnen habe. Es gab nur zwei Möglichkeiten: er oder ich. Ich bin noch hier, und er schon lange nicht mehr.“
„Äh, ist er tot?“
„Komische Frage. Natürlich! Das ist man für gewöhnlich, wenn man aufgefressen wird.“
Ron steckte seinen Finger in den Hemdkragen und lockerte ihn noch mehr.
„Haben Sie ihn getötet?“
„Mann, sagen wir mal, seine Zeit, da er noch von Nutzen war, war abgelaufen. Primitive Völker sind nun mal so. Das müssen Sie wissen! Sie sehen keinen Sinn darin, sich mit etwas Nutzlosem zu belasten. Der Häuptling wurde herausgefordert und bestand nicht. Also…“ Er strich mit dem Zeigefinger der rechten Hand bedeutungsvoll über die Kehle. „Jetzt bin ich der Führer des Stammes und gleichzeitig ihr neuer Seher.“
„Seher?“
„Ja, der Prophet, der Lenker-des-Schicksals, der Wunderheiler, der Seher-in-die-Zukunft, Deuter der Runen usw., usw.! Sie sind doch ein Schreiber. Sie müssten doch wissen, was ein Seher ist – oder?“
Livingston war beleidigt.
„Natürlich weiß ich, was ein Seher ist“, gab er kurz und bestimmt zur Antwort. „Ich habe nur darüber nachgedacht, ob Sie keine Angst haben. Ich meine, dass jemand mit Ihnen das machen könnte, was Sie mit dem ehemaligen Häuptling gemacht haben.“
Diesmal lachte Jack Rockwell lauthals.
“Was für eine Bullenscheiße! Wer soll das sein? Jemand? Sie? Mann oh Mann, Sie hätten nicht die geringste Chance, Livingston. Aber für heute lassen wir’s gut sein. Trinken wir lieber einen zusammen und machen es uns gemütlich. Von mir aus können Sie auch draußen herumlaufen. Aber seien Sie vorsichtig. Verlassen Sie das Dorf nicht!“
Ron trank mit Jack eine Menge selbst hergestellten Schnaps, den ihnen die jungen Frauen des Stammes brachten. Bevor er sich schlafen legte, ging er noch etwas allein im Freien spazieren.
Die Siedlung war genauso schmutzig, wie er befürchtet hatte. Überall zwischen den Hütten und Zelten lag Abfall aller Art herum. Schwärme von Fliegen bevölkerten den stinkenden Unrat. Eine ekelhafte Szene. Die Nomaden würden weiterziehen, wenn der Saustall hier unerträglich würde. Genug zu essen hatten sie ja. Der Dschungel bot ihnen reichlich Nahrung. Hin und wieder trieben sie vermutlich Handel mit den Städten, aber für gewöhnlich hielten sie sich der Zivilisation fern. Indianer, dachte Ron, und blieb nachdenklich stehen. Ähnlich wie im 18. und 19. Jahrhundert auf der Erde, wo man den Wilden Westen eroberte. Stirnrunzelnd versuchte er sich an das Material zu erinnern, das er in langen Stunden in den Bibliotheken auf der Erde gesichtet und akribisch zusammengetragen hatte. Diese Völker kannten noch Magie, Fruchtbarkeitsriten, Mutproben und harte Strafen für Versagen und falsche Voraussagen. Wenn Jack in zwei Tagen mit seinem Raumschiff nach Mal de Mare aufbricht, würden sie ihn möglicherweise in der Zukunft wie einen Gott verehren, der ihnen eine goldene Zeit des Friedens und des Wohlstandes beschert hatte. Jack besaß die finanziellen und technischen Möglichkeiten dazu, Dinge zu tun, mit denen man diese primitiven Urwaldmenschen wegen ihres Unverstandes noch immens beeindrucken konnte. Für sie war Jack der große, mächtige Manitu, dessen Macht grenzenlos schien, nicht zuletzt deshalb, weil er sich auch mit einem riesigen, stählernen Vogel in die Lüfte erheben konnte.
***
Es war tief in der Nacht. Im Dorf schlug irgendwo eine Trommel im Rhythmus eines Herzschlages. Ron wachte benommen auf. Um ihn herum grunzten und schnarchten Männer und schlugen im Schlaf automatisch auf ihre nackte Haut. Er fühlte einen heftigen Stechschmerz am Hals und hieb mit der flachen Hand auf etwas, das darunter spritzend zerquetscht wurde. Wenig später verließ er das Schlafzelt.
Ein anderer Mann erhob sich plötzlich vom Boden und drückte Ron die Spitze eines Speeres an die Brust. „Während der Stunden der Dunkelheit ist der Boden um das Zelt des Stammesfürsten heilig“, erklärter er. „Wer sich dem Häuptling oder dem Seher nähert, muss mit dem Tod rechnen. Es ist besser, du kehrst in das Zelt zurück!“
„Ich bin ein Freund des Häuptlings und kenne seinen Vater. Er ist ein noch größerer Häuptling und herrscht über ganze Welten.“
„Das kann ich natürlich nicht wissen“, sagte der Wächter. „Aber ich habe meine Befehle.“
Der Mann drückte die Speerspitze noch heftiger auf Rons Brust. Sie durchschnitt die äußere Schicht seiner Panzerweste und kam erst auf dem harten Metallgewebe zum Stillstand. Brummelnd versuchte es der Wächter noch einmal.
„Zurück!“ schrie Ron. „Ich stehe unter dem Schutz der mächtigen Planetengötter. Du kannst mich nicht verletzen. Ich erhalte Visionen von ihnen und sie wollen, dass du von mir ab lässt! Wehe dir sonst!“
Der Wächter zuckte zusammen, ließ den Speer fallen und warf sich mit lautem Geschrei auf den Boden. Er bat offenbar in seiner Stammessprache um Gnade.
In einem anderen Zelt erwachte ein Kleinkind und fing an zu weinen. Eine Frau schimpfte über die nächtliche Ruhestörung. Es wurde immer lauter in der Siedlung.
„Was zum Teufel ist hier los, was soll dieser Krach?“ Jack Rockwell streckte erschrocken den Kopf aus der Zeltklappe. „Oh, Sie sind es, Mr. Livingston. Oder darf ich Ron zu Ihnen sagen, mein Freund?“
„Von mir aus. Aber beruhigen Sie erst mal den Mann hier.“
Jack Rockwell fasste den am Boden liegenden Wächter unter die Arme, redete beruhigend auf ihn ein und schickte ihn zurück ins Schlafzelt. Der Mann gehorchte aufs Wort.
„Komm herein, ehe noch das ganze Dorf aufwacht. Es hätte leicht dein Tod sein können, Ron.“
Jack lauschte nach draußen. Überall konnte man jetzt Stimmen hören.
„Der Wächter hat deinen Blödsinn schon im ganzen Dorf herum erzählt. Musstest du ausgerechnet von Visionen quasseln? Die Menschen hier sind unheimlich abergläubisch und so was kann sie nur beunruhigen. Verdammt noch mal, du bringst uns in große Schwierigkeiten, Ron.“
„Du spinnst!“
„Ich habe in diesem Dorf lange genug gelebt, die Nomadenbewohner gewissermaßen studiert. Wir bewegen uns auf dünnem Eis und vor allen Dingen du solltest jetzt schnellstens deine Sachen packen und weggehen, solange man dich noch nicht daran hindert.“
„Was ist mit dir, Jack?“
„Das ist nicht so wichtig“, erwiderte er ernst.
Ron wurde skeptisch.
„Ich hab mir das Dorf genauer angesehen und mich etwas umgehört. Es sieht so aus, als wollten die Nomaden bald weiterziehen. Den Stammesriten nach müssen sie ihren Göttern ein Opfer darbringen, um ein schönes neues Fleckchen zu finden, mit viel Wild und so. Und wie glauben sie, sichergehen zu können? Indem sie das beste Blut vergießen, das sie haben. Du bist ihr Führer und obendrein ein Fremder. Für sie bist du das würdigste Opfer, das sie finden können. Wenn sie dich töten, tun sie niemanden von ihren Leuten weh. Du wirst nicht gegen alle auf einmal kämpfen können, wenn der ganze Stamm kommt, um dich zu holen. Deine Laserwaffe wird sie nur für eine kurze Zeit erschrecken und in Schach halten. Und danach? Die Männer werden zuerst da sein mit ihren Speeren, Pfeil und Bogen. Dann kommen die Frauen mit Holzprügel und sogar die Kinder und Jugendlichen des Stammes werden sich bewaffnen, um deiner Habhaft zu werden. Du wirst am Ende keine Chance haben, es sei denn, dass wir beide zusammen noch heute diesen Ort verlassen und nach Gho verschwinden.“
Nachdenklich blickte Jack Ron an.
„Nein“, erwiderte der junge Rockwell mit konsequenter Stimme. „Ich kenne diese Wilden und bin durchaus imstande dazu, frühzeitig zu merken, was sie vorhaben und was nicht. Du willst mich nur hier weglocken. Ich muss zugeben, du hast es gar nicht dumm angestellt. Du hast dir dafür einen Drink verdient.“
Jack holte aus der Kühlbox eine Flasche mit einem fertigen alkoholischen Getränk und schenkte Ron und sich selbst ein. „Danke für deine Anteilnahme. Also, auf unsere Gesundheit!“ toastete er.
Ron war enttäuscht und trank verdrossen aus dem Glas bis es leer war. Ich muss mir was anderes einfallen lassen, dachte er und ließ nachfüllen.
Schulterzuckend schenkte Jack ein.
„Und du?“ fragte Ron. „Ich trinke nicht gerne allein.“
„Ich mache dir einen Vorschlag“, sagte Jack mit der Flasche in der Hand. „Ich habe nichts dagegen, bis einer von uns den anderen unter den Tisch getrunken hat. – Na, dann Prost!“
***
Ron wachte durch die Sonne in den Augen auf. Sein Gesicht war voller Schmutz und überall krochen Ameisen herum. Schwankend kam er auf die Beine und sah sich verschlafen um. Die Klappe des großen Zeltes war zu. Ron erinnerte sich nur vage daran, dass er nach der dritten oder vierten Flasche betrunken nach draußen getorkelt war. Wenig später müssen seine Beine versagt haben und dann ist er wohl an Ort und Stelle eingeschlafen.
Langsam wurde sein Blick klarer. Überall im Dorf standen die Männer in Gruppen und Grüppchen herum und steckten die Köpfe zusammen. Es war ungewöhnlich ruhig. Nicht einmal die Kinder machten irgendwelchen Lärm. Eine alte Frau kam auf Ron zu und zuckte bei seinem Anblick zusammen. Hastig hob sie die Hand zu einer seltsamen Gebärde. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er und ging näher auf das Feuer zu, wo er sich was zu essen holen wollte. Als er näher kam, rannten die Frauen davon wie aufgescheuchte Hühner. Konnte es tatsächlich sein, dass in seiner erfundenen Geschichte ein Funken Wahrheit steckte? Näherte sich das Leben der Nomaden ausgerechnet jetzt irgendeinem Wendepunkt?
Er wandte sich Jacks Zelt zu und blieb kurz davor stehen, als ein hochgewachsener Nomade ihm den Weg versperrte, der in der rechten Hand einen Dolch umklammert hielt.
„Was soll das zum Teufel?“ Ron wich ein Schritt zurück, als der Wilde ihn auch noch auf die Brust hieb. „Verflucht, bist du verrückt!“ schrie er den Mann an.
„Ich habe gehört, dass du unverwundbar bist“, antwortete der Dolchträger ohne Verlegenheit. Der Wächter Reegonool hat behauptet, du stehst unter dem Schutz der Götter. Sein Speer konnte dir nichts anhaben und prallte von dir ab.“
„Es ist wahr. Es stimmt“, versicherte ihm Ron. „Aber wenn du mich noch einmal bedrohst, werden dein Arme abfallen. Die von den Göttern Geliebten dürfen nicht so behandelt werden!“ In Wirklichkeit war er über die Panzerweste froh gewesen, die er Tag und Nacht trug. Das Metallgewebe hat mich schon vor schlimmen Wunden bewahrt, dachte er zufrieden.
„Und die Visionen?“ fragte der Wilde, als er den Dolch einsteckte.
„Das ist ein Berufsgeheimnis. Ich darf dir nichts sagen“, entgegnete Ron fest.
„Bist du auch ein Seher?“ Der Wilde blickte jetzt mürrisch drein und seine Augen wurde etwas glasig.
„Die Zeiten sind ziemlich ungewöhnlich. Die Steine bringen mir kein Glück mehr. Die Weiber gehorchen ihren Männer nicht, und mein Dolch ist nur ein stumpfes Stück Metall. Als mein Vater, der vorherige Häuptling, ins Jenseits getrieben wurde, schwor er, dass er mit Hilfe eines bösen Zaubers und falscher Magie betrogen worden sei. Und jetzt kommst du hierher und behauptest, Visionen zu haben. Visionen aber haben nur Propheten. Unser Häuptling ist jedoch auch ein Seher und Prophet. Wem von beiden sollen wir jetzt glauben?“
„Mir natürlich“, sagte Ron schnell. Ihm war spontan eine Idee gekommen, wie er Jack Rockwell von hier wegbekam. Wenn es ihm irgendwie gelingen sollte, ihn seinen Job als Häuptling wegzunehmen und möglicherweise selbst Führer zu werden, hatte er gar keine andere Wahl, als sie beide aus dem Schlamassel zu holen und von hier wegzubringen.
Ein alter Greis namens Gondawin trat aus der Menge hervor, die sich nach und nach um Ron und den Wilden geschart hatten.
„Dieser Mann muss der Prüfung unterzogen werden. Er ist zu uns gekommen und hat die Heiligen Steine noch nicht geworfen. Es darf in unserem Stamm keine zwei Seher und Propheten geben. Wem könnten wir da vertrauen? Einer muss gehen!“ sagte er mit all seiner Überzeugungskraft.
Dann wandte er sich mit einem hinterlistigen Blick an Ron.
„Jedenfalls müssen wir uns vergewissern, dass du wirkliche Kräfte hast. Du musst uns etwas weissagen, und erst dann, wenn deine Prophezeiung sich als richtig erweist, werden du und der Häuptling die heiligen Steine werfen. Der Gewinner wird unser neuer Führer.“
***
Jack Rockwell griff nach einer leeren Flasche und zertrümmerte sie mit einer heftigen Wurfbewegung auf den Boden. Die Scherben flogen in alle Richtungen durch die schwüle Luft im Zelt.
„Du Idiot!“ tobte er. „Du verfluchter Dummkopf. Ich hab dir doch gesagt, dass diese Leute da draußen abergläubische sind! Hättest du doch deinen Mund gehalten! Jetzt haben wir den Salat und stehen vor einem großen Problem. Ist dir überhaupt klar, in was du uns beide da hineingeritten hast? Prophezeiungen sind schwer zu erfüllen. Treten sie nicht ein, bringt man uns kurzerhand um…, ja, dich und mich! Das hat der Tattergreis Gondawin gut eingefädelt. Er ist auf meinen Posten als Häuptling scharf, seit ich ihn mir erworben habe. Er ist trotz seines hohen Alters sehr intelligent und hat viele Jahre in der Stadt gewohnt. Er ist nur äußerlich ein Wilder. In Wirklichkeit hat er uns beide durchschaut und kennt mittlerweile unsere Tricks.“
„Kann schon sein!“ antwortete Ron und sagte dann vorwurfsvoll: „Es ist schließlich alles deine Schuld. Du hättest mir genug Geld und ein paar Führer geben können, und ich wäre schon längst von hier weg. Dein Vater wird mir nicht einen einzigen galaktischen Cent geben, wenn ich ohne dich zur Erde zurückkehre. So muss ich eben selbst sehen, wie ich weiterkomme. Wenn du nach Mal de Mare fliegst, kehrst du danach wieder in dein Dschungeldorf zurück. Und ich? Wohin soll ich mit leeren Händen gehen?“
„Es ist zu spät! Wenn einer von uns jetzt abhaut, kann keiner bleiben. Das weiß auch der Greis Gondawin. Er hofft das vielleicht insgeheim sogar, dass wir das tun. Egal ob alleine oder wir beide zusammen. Er wartet nur auf eine Gelegenheit, uns töten zu lassen. Andererseits wird er die Art der Prophezeiung selbst festlegen, die sicherlich von keinem von uns erfüllt werden kann, weil er nichts fragen wird, was sich erst viel später als richtig oder falsch herausstellen würde. Er und der ganze Stamm wollen sofortige Erfolge sehen. Die Wilden sind praktisch veranlagt. Man kann sie nur mit Kräften beeindrucken, die zu einem unmittelbar sichtbaren Ergebnis führen. Und wenn man sie zufrieden gestellt hat, kommt es zur eigentlichen Prüfung. Aber nur der Sieger wird als neuer Führer anerkannt, falls es überhaupt einen geben sollte, was ich mir unter den gegebenen Umständen nur sehr schwer vorstellen kann. Und wenn doch, sozusagen rein zufällig? Was mit dem Verlierer geschieht, muss ich dir ja nicht noch mal erzählen. Erinnere dich an die Geschichte vom alten Häuptling“, sagte Jack.
„Dann lass uns am Besten noch heute abhauen. Wir können ihnen sagen, dass wir in den Wald müssen, um mit den Göttern zu sprechen, oder so was Ähnliches, und drohen, dass wir jeden mit einem Fluch belegen, der uns folgt. Ron grinste und entspannte sich. „Ganz einfach. Ich wollte, ich hätte schon eher daran gedacht.“
„Der alte Gondawin hat vorgesorgt. Schau mal hinaus. Das Zelt wird von den stärksten Kriegern des Stammes umstellt. Hier kommen wir ohne fremde Hilfe bestimmt nicht mehr weg. Ich schicke deshalb ein Notsignal an mein Raumschiff und lasse es im Automatikflug das Dorf angreifen. Im einsetzenden Chaos ergreifen wird die Flucht und schießen uns den Weg mit der Laserwaffe frei, falls notwendig. Das ist die ein einzige Möglichkeit, die wir haben“, schilderte Jack mit ernstem Gesichtsausdruck.
„Ein Autopilot, den man einfach fliegen lässt? Dann schick’ das Signal sofort los. Ich will nicht, dass ich von irgendeinem Biest gefressen werde“, sagte Ron.
Es wurde ein langer Tag des Wartens. Als die Sonne hinter den Bäumen unterging, begannen die Wilden plötzlich mit der Zeremonie. In einer feierlichen Prozession wandelten der gesamte Stamm durchs Dorf und umkreisten dabei dreimal das Zelt des Häuptlings, in dem sich auch Ron befand. Feuer brannten überall lichterloh.
„Wann kommt denn endlich dein Raumschiff?“ fragte er Jack sorgenvoll.
Schulterzuckend trat dieser an die Klappe des Zeltes und spähte hinaus. Im gleichen Augenblick blitzten überall am Rande der Siedlung heftige Flammenscheine auf und dumpfe Explosionsgeräusche erfüllten die windstille Luft. Das Heulen gewaltiger Raketenmotoren wurde immer wieder vom Stakkato der Laserimpulskanonen unterbrochen. Unter den noch tanzenden Wilden brach Panik aus. Die Prozession löste sich schlagartig auf und was Beine hatte, stob in alle Himmelsrichtungen davon. Innerhalb weniger Minuten war das Dorf wie leergefegt und nur ein paar alte, gehbehinderte Frauen blieben zurück.
„Wir verschwinden jetzt“, bestimmte Jack und zog die Laserpistole aus dem Halfter. „Beeil dich Ron! Schnell, pack’ die Sachen zusammen und lauf vor mir her! Der Mannschaftsgleiter meines Raumschiffes muss jeden Moment auf dem freien Platz vor unserem Zelt landen. Ich decke vorsorglich den Rückzug, während du die Sachen verstaust.“
Mit brüllenden Motoren landete der silbrig glänzende Gleiter wie von Geisterhand gesteuert direkt auf dem freien Gelände vor dem Häuptlingszelt. Keine fünf Minuten später saß Jack im Cockpit der Flugmaschine und schaltete auf manuelle Steuerung um. Neben ihm nahm Ron auf dem Copilotensitz Platz. Nachdem sich beide fest angeschnallt hatten raste das stromlinienförmige Fluggefährt aus dem Stand mit unglaublich schnell wachsender Geschwindigkeit gen Himmel, wo es irgendwo in den Wolken verschwand.
***
Der alte Endor von Kur kam mit strahlendem Gesicht in sein Büro.
„Ich freue mich außerordentlich, Sie wiederzusehen, Mr. Rockwell junior. Hatten Sie bisher einen angenehmen Aufenthalt auf Ilgalesch? Ich dachte, Sie wären schon längst abgereist.“
„Entsetzlich“, brummte Ron.
Der Handelsattachè ignorierte ihn.
„Es hat sich mittlerweile schon überall herumgesprochen, dass es einen ganz schönen Tumult bei den Wilden gab, als man Sie abholte. War doch hoffentlich nichts Ernstes?“
„Die Eingeborenen wollten sich nur ein wenig Spaß mit uns machen“, erwiderte Jack. „Nichts besonderes, worüber man sich Aufregen müsste.“
„Sie mussten also niemanden töten? Nein? Das ist gut. Das ist sogar sehr gut!“
Endor von Kur war sichtlich erleichtert.
„Sie wissen doch, wie das ist. Nicht, dass es so schlimm gewesen wäre, aber es ist doch eben besser, wenn keine Komplikationen auftreten. Die zivilisierten Einheimischen auf Ilgalesch sind etwas eigen. Sie wollen mit den Wilden zwar auch nichts zu tun haben, aber sie halten daran fest, dass alles so bleibt, wie es ist. Schon wegen der Touristen. Sie kommen nur deshalb nach Ilgalesch, um das primitive Leben in den Bergen zu bestaunen“, zitierte er, bevor er eine Frage stellte.
„Wo ist Mr. Watcom? Er war doch ihr Expeditionsleiter, Mr. Livingston.“
„Tot. Ihre zivilisierten Einheimischen haben ihn umgebracht. Sie machten ihn einfach einen Kopf kürzer und verschwanden mit allem, was nicht niet- und nagelfest war“, antwortete ihm Ron.
„Das ist ja entsetzlich!“ Endor von Kur schüttelte verständnislos mit dem Kopf, als er davon hörte. „Ich mochte Mr. Watcom eigentlich sehr gern. Er war zwar ein Trinker, aber dennoch auf seine Art ein liebenswürdiger Mensch, mit dem ich mich gut verstand. Schade um ihn. Ich werde natürlich eine Fahndung nach den Raubmördern einleiten lassen. Die Burschen sind vermutlich längst nach Sendalesen geflüchtet. Diese Stadt liegt auf der anderen Seite der Berge und ist ein richtiges Verbrechernest. Aber sie werden unseren Suchtrupps nicht entgehen und wenn wir sie aufgestöbert haben, werden sie vor ein ordentliches Gericht gestellt. Man wird sie zum Tode verurteilen, sofern ihre Schuld nachgewiesen werden kann.“
„Sie waren bisher sehr unterhaltsam“, erwiderte Jack und blickte den Handelsattache etwas gleichmütig an. „Vor allem dem Ende zu.“
Endor von Kur irritierten dieses Worte etwas. Tat aber so, als hätte er sie überhört.
„Nun, Mr. Rockwell junior, was sind ihre weiteren Pläne?“ erkundigte er sich.
„Ich brauche so schnell wie möglich eine Startgenehmigung für mein Raumschiff nach Mal de Mare. Mein Begleiter, Mr. Livingston, fliegt mit.“
„Das ist kein Problem. Ich werde Sie umgehend benachrichtigen, wenn die Papiere fertig sind, Mr. Rockwell j.. Es wird sicherlich nicht lange dauern. Ich würde sie beide noch gerne zum Essen einladen, bevor sie nach Mal de Mare aufbrechen. Na, was sagen die Herren dazu?“
„Abgemacht Herr Handelsattachè. Wer weiß denn schon, wann wir das nächste Mal ein gutes Essen bekommen werden“, sagte Jack. Ron nickte zustimmend.
***
Der Flug nach Mal de Mare mit Jack Rockwells Sprungraumschiff Pegasus I verlief problemlos. Sie konnten nicht direkt auf dem Planeten landen, sondern mussten an einer Raumstation im Orbit namens Refuge andocken und in ein Shuttle umsteigen, das beide Männer nach City Alensis brachte, eine Millionenstadt am Rande eines riesigen Ozeans auf Mal de Mare.
Das Zubringerschiff war nagelneu und zum ersten Mal auf der Route Refuge – City Alensis unterwegs. Der Kapitän freute sich, einen so reichen Passagier wie Jack Rockwell junior an Bord zu haben. Er strahlte übers ganze Gesicht, als er ihn sah.
„Willkommen an Bord der Levetian, Mr. Rockwell. Wenn ich irgendwas für Sie tun kann, bitte lassen Sie es mich wissen. Das gilt natürlich auch für Ihren Freund, Mr. Livingston“, fügte er hinzu, wobei sein Blick flüchtig zu Ron hin wanderte. „Wir werden in etwa 30 Minuten starten. Übrigens werden Sie überrascht sein, wie stark der Planet Mal de Mare der Erde gleicht. Während des Fluges sind die Plasmabildschirme in ihren Kabinen eingeschaltet. Sie haben einen herrlichen Ausblick über alle drei Kontinente auf dem Planeten und können jede Phase des Anfluges auf City Alensis mitverfolgen. Ich wünsche Ihnen beiden einen angenehmen Aufenthalt auf Mal de Mare.“
Nach diesen Begrüßungsworten verabschiedete sich der Kapitän höflich und verschwand in einer gläsernen Aufzugplattform, die ihn nach oben auf die Brücke brachte.
Die Erde, dachte Ron. Die gute alte Mutter Erde. Eigentlich gab es für den Menschen keinen besseren Ort im Universum, vor allen Dingen wenn man Geld hatte.
Während des Fluges war Ron in einen tiefen Schlaf gefallen und erst wieder aufgewacht, als jemand lautstark an die Tür seiner Kabine klopfte.
„Sir, das Schuttle ist bereits seit einigen Minuten gelandet. Würden Sie bitte Ihre Kabine verlassen und sich den übrigen Reisenden auf den Weg zum Raumhafen anschließen?“ bat eine freundliche Androiden-Stewardess unmissverständlich.
Ron stand auf und ging zu Jack Rockwells Kabine – sie war bereits leer.
Die Luftschleuse des Schiffes stand weit offen und warme , würzige Luft drang herein. Verzweifelt hielt Ron Ausschau nach Jack.
„Warum haben sie mich so spät geweckt?“ frage er die Androiden-Stewardess.
„Ihr Gefährte erteilte mir strikte Anweisung, dass Sie keinesfalls gestört werden dürfen. Erst wenn er weg sei, sollte ich Sie wecken, Sir.“
Ron wartete den Rest des Satzes nicht ab, schnappte sich sein Reisegepäck und verließ mit schnellen Schritten die Schleuse. Am
Ausgang wurde er von einem Medizinroboter angehalten, der ihm mit einer Injektionspistole im Vorbeigehen eine Schutzimpfung verpasste.
Ein sanfte Kunststimme entschuldigte sich für diese Maßnahme. Sie sei aber notwendig um die Bewohner von Mal de Mare vor jeglichen Seuchen zu schützen.
Ärgerlich trat Ron hinaus ins Freie und schaute sich um. Ein Taxifahrer bot ihm einen Platz in seinem radlosen Gleiter an.
„Haben Sie ein Terraner gesehen?“ fragte er den verdutzten Mann. „Er trägt nur eine andere Kleidung, sieht sehr kräftig aus und hat kurzes blondes Haar.“
Der Taxifahrer verneinte und fuhr plötzlich ohne ein Wort zu sagen davon.
„Sind Sie in Schwierigkeiten, mein Sohn?“ Ron drehte sich um. Eine Person beobachtete ihn unter der Krempe seines weiten Hutes. Es war ein alter Mann, eingehüllt in ein dünnes Gewand, sein Gesicht war faltig und runzelig wie ein Dörrpflaume.
„Sie sehen ziemlich gestresst aus“, fuhr er fort, „und Sie haben sich die ganze Zeit sehr merkwürdig benommen. Suchen Sie jemanden?“
Ron machte ein finsteres Gesicht.
„Was geht Sie das an?“
„Ich bin der terranische Botschafter hier auf Mal de Mare und fühle mich für andere meiner Rasse verantwortlich. Unser Hauptsitz befindet sich in City Alensis. Wie kann ich Ihnen also helfen?“ fragte er freundlich.
„Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Jack Rockwell, dem Sohn des Multimilliardärs Reginald Rockwell von der Erde. Ich hab’ den jungen Rockwell dummerweise aus den Augen verloren, als unser Shuttle gelandet war. Haben sie ihn gesehen oder kennen sie ihn?“
Der Alte blickte ihn jetzt nachdenklich an. „Nun, Sohn, das kommt ganz darauf an. Reisende soll man nicht aufhalten. Vielleicht habe ich ihn gesehen, vielleicht auch nicht. Was wollen Sie denn von ihm?“
„Sein Vater möchte, dass er zur Erde zurückkehrt. Leider ist er mir entwischt. Ich bin außerdem Anwalt und als Vertreter der irdischen Justiz kann ich Sie ersuchen, mir unbeschränkte Hilfe zu leisten.“
Der Botschafter war beeindruckt von Rons sicherem Auftreten. Vertreter des Rechts musste man natürlich mit allen Mitteln unter die Arme greifen, erst recht, wenn sie soweit weg von Terra unterwegs waren.
„Wenn ich Sie wäre, würde ich mich beeilen zur Karawanserei im Norden von hier zu kommen. Vielleicht erwischen Sie ihn dort noch.“
„Im Norden?“
„Ja, in diese Richtung, wo die Wüste liegt.“ Der alte Botschafter deutete die Straße entlang. „Soll ich Ihnen zwei meiner Leute mitgeben?“ fragte er fürsorglich.
„Nein, danke“, antwortete Ron schnell. „Ich werde schon allein damit fertig.“
„Sind Sie sich auch ganz sicher, Sohn? Ich gebe Ihnen gern jemanden mit.“
„Nein“, bedankte sich Ron erneut. „Ich komme wirklich auch allein ganz gut zurecht.“
„Trotzdem können Sie sich jederzeit vertrauensvoll an die terranische Botschaft wenden. Wir verfügen über ein eigenes Hotel mit allem erdenklichen Komfort für Mitglieder unserer Rasse“, rief er Ron noch hinterher, der sich jetzt eilig davonmachte. Er hatte noch ein paar wichtige Dinge zu erledigen.
Die Straße in den Norden schlängelte sich um riesige, dicht bewachsene Terrassenberge. Ron hatte sich von der hiesigen Bank einen größeren Geldbetrag auszahlen lassen und unter anderem davon einen gebrauchten, radlosen Antigravitationsgleiter gekauft.
Etwa fünfundzwanzig Kilometer von City Alensis entfernt kam er zu einer Gruppe niedriger Häuser, die wie verloren gleich neben der mit einer dünnen Schicht Wüstensand überzogenen Straße standen. Die Fassaden waren in allen Farben bemalt, von Zinnober und Orange, Gelb und Purpur, bis hin zu Anilinrot und dunklem Braun. Davor standen mehrere kamelartige Tiere mit acht Beinen, die geduldig im Schatten einer Palmengruppe darauf warteten, dass es endlich losging. Auf einem saß Jack Rockwell.
Ron stoppte den Gleiter unmittelbar vor dem unruhig gewordenen Lasttieren und stieg aus. Jack saß auf dem vordersten Achtfüßler zwischen zwei Höcker und schaute verständnislos zu ihm herab.
„Du bist mir also gefolgt?“
„Ist das für dich ein Problem?“
„Nein, nicht direkt. Ich dachte nur, das es für dich besser sei, in City Alensis zu bleiben. Der terranische Botschafter sollte sich eigentlich deiner annehmen. Wahrscheinlich sah er keinen wichtigen Grund, dich aufzuhalten. Aber wo du jetzt schon mal hier bist, kannst du auch gleich mitkommen. Ich bin auf dem Weg zu einem Palast, der mal meiner Mutter gehörte. Er befindet sich jetzt in meinem Besitz. Er liegt in der einzigen Wüstenoase etwa dreihundert Kilometer von hier. Dorthin zog sie sich immer zurück, wenn sie sich nach Ruhe und Entspannung sehnte. Dort verbrachte meine Mutter auch die letzten Jahre ihre Lebens. Kurz nach ihrem Tod übergab mir unser Familiennotar einen geheimen Zahlencode für einen versteckten Safe in ihren Schlafgemächern, in dem sie einige wichtige schriftliche Unterlagen für mich aufbewahrte. Ich möchte nur allzu gerne wissen, was meine Mutter vor mir die ganzen Jahre darin verborgen hat. Es scheint etwas zu sein, das ihr anscheinend sehr wichtig gewesen sein muss, und ich kann mir denken, dass es sowohl mit mir als auch mit Vaters Imperium zusammenhängt. Könnte aber auch gut sein, dass auf mich noch ganz andere Überraschungen warten.“
„Wenn du möchtest, können wir zusammen mit dem Gleiter dort hin fahren“, bot ihm Ron an. „Die Wüstenstraße ist schnurgerade und nur spärlich befahren. Kommt uns nicht unverhofft ein Sandsturm in die Quere, wären wir in maximal zwei Stunden da.“
„Na gut“, sagte Jack zustimmend. „Außerdem ist so ein Schwebegleiter um einiges bequemer“, stieg von dem achtbeinigen Lasttier und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sein Handgepäck warf er auf den Rücksitz. Ron schob den Gashebel ganz nach vorne und das schnittige Gefährt raste wenige Minuten später mit hoher Geschwindigkeit auf der vierspurigen Wüstenautobahn dem fernen Horizont entgegen, eine wirbelnde Staubwolke hinter sich herziehend.
***
Ron legte seine rechte Hand an den bogenförmigen Torrahmen und spürte bis in die Fingerspitzen die wohlige Wärme des von der Sonne beschienen Holzes.
Vom anderen Ende der grünen Oase kam in weichen Wellen ein leichter Wind und brachte süße, herbe, belebende und aufregende Düfte mit sich. Der Palast von Jack Rockwells verstorbener Mutter befand sich auf einer sanften Anhöhe und war von einer breiten Mauer aus hell leuchtendem Marmor umgeben.
Ron sog die Luft mehrere Male tief ein, seine Brust spannte sich unter seiner hellbraunen, eng anliegenden Lederbekleidung, die er über seine Panzerweste gestreift hatte. Die Luft auf Mal de Mare tat ihm gut nach der lange Reise im All. Er sah direkt in das Licht der Sonne, die ihn blendet. Dann schloss er die Augenlider. Ein Wirbel von Goldstaub begann sich in seinem Kopf zu drehen, während zugleich große bunte Blumen explodierten. Plötzlich tauchte vor seinem inneren Auge ein kleiner Junge auf, dessen Gesicht für wenige Augenblicke vor ihm verweilte. Er meinte Jack darin wiederentdeckt zu haben. Verstört öffnete Ron schnell die Augen. Ich muss wohl eine Vision gehabt haben, dachte er. Kein Wunder bei dieser Bruthitze.
Jack ging gerade an ihm vorbei und bewegte sich langsam auf die Mitte des Palastes zu. Der breite Plattenweg war gesäumt von exotischen Gewächsen aller Art. Weite Palmenblätter spendeten wohltuenden Schatten.
Als er direkt vor dem mit Stuck Ornamenten verzierten Eingang stand, öffnete er mittels eines elektronischen Signals die beiden wuchtigen, marmornen Flügeltüren, die sich sofort geräuschlos nach Innen in Bewegung setzten. Er trat in den weiten Vorraum mit Kuppeldecke ein und sah sich um. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal in seinem Leben hier gewesen war. Er dachte an seine Mutter und es war ihm, als wäre sie hier. Er fühlte sie auf einmal mit allen Fasern seines Körpers und seines Geistes, den Andrang ihrer Stimme und die einhüllende Zärtlichkeit, die in ihren Worten lag, als ob die Stimme schon immer in ihm lebendig gewesen wäre.
„Jack, Jack, Jack…!”
Die Worte seiner Mutter waren sanft und beruhigend, aber auch warnend und aufrüttelnd. Sie wollte eine Botschaft der Hoffnung und der Offenbarung an ihn senden und ihre Stimme stieg in die Höhe ohne sich zu überschlagen. Sie sang ein Lied, und dieser Gesang, den er von früher her kannte, als er noch ein kleiner Junge war, ließ eine schmerzliche Erinnerung in ihm wach werden, die wie ein Alpdruck auf ihm lag, keine richtige Familie gehabt zu haben.
Seine Mutter erschien ihm plötzlich vor seinem geistigen Auge. Sie sang immer noch und ihre lange schlanke Figur tanzte wie in Zeitlupe draußen auf einer herrlichen Blumenwiese lachend und glücklich mit drei Kinder an der Hand im Kreis herum. Eines davon war er und die anderen beiden konnte er nicht erkennen.
Jack erschrak heftig, als Ron ihm von hinten mit leichten Handbewegungen auf die Schulter klopfte.
„Was ist mit dir Jack, träumst du? Wenn du weißt wo der Safe ist, dann lass uns gleich dort hin gehen. Ich möchte nämlich nicht den ganzen Tag hier verbringen.“
„Ich hatte gerade eine seltsame Vision. Aber darüber möchte ich jetzt nicht reden. Ich geh jetzt mal los. Der Safe ist in einem der Schlafgemächer im rückwärtigen Teil des Gebäudes untergebracht und befindet sich hinter einem großen Ölgemälde. Ich werde deine Hilfe brauchen, um das Bild von der Wand zu nehmen. Komm also mit.“
Nachdem sie den Safe gefunden hatten, nahmen sie das große Bild mit dem schweren vergoldeten Rahmen von der Wand und Jack gab einen ganz bestimmten digitalen Zahlencode ein, der auf dem flimmernden Minidisplay als eine Reihe kleiner Sternchensymbole sichtbar wurde. Zuerst folgte ein fast unhörbares Surren, das kurz darauf in einem mehrmaligen Klicken endete. Wenige Augenblicke später öffnete sich das stabile Metalltürchen.
Jack griff vorsichtig in den offenen Safe und fand außer zwei Geburtsurkunden nur noch einen zusammengefalteten Brief mit einem Foto darin. Neugierig sah er sich das Foto an, auf dem seine Mutter mit drei kleinen Jungen zu sehen war. Dann begann er zu lesen.
Mein über alles geliebter Sohn Jack,
bitte verzeihe mir diesen offenen Brief, aber ich muss mein Herz von einer schweren Last befreien und Dir ein lang gehütetes Familiengeheimnis verraten, bevor ich für immer gehe.
Wie du siehst, hast du in dem Safe zwei Geburtsurkunden, einen Brief und ein Foto gefunden. Sieh Dir das Foto genau an! Der kleine Junge auf meinem Schoß, das bist Du, die beiden etwas größeren daneben sind Deine Halbbrüder Ron und Robert. Alle beide stammten aus einer Beziehung mit einem Künstler namens Luke Livingston aus einer Zeit vor der Ehe mit Deinem Vater.
Ich hatte damals mein junges Leben nicht im Griff und schwirrte wie ein trunkener Schmetterling von einer Party zur nächsten, bis ich auf einmal diesen Künstler Luke Livingston kennen lernte. Wir liebten uns leidenschaftlich und waren viele Jahre ohne Trauschein zusammen. Doch eines Tages kam Luke bei einer Raumschiffkollision auf dem Mars ums Leben. Ich stand plötzlich allein mit zwei kleinen Kindern da und wusste nicht mehr ein noch aus. Ron und Robert kamen schließlich zu einer Schwester von Luke, die eine kinderlose Ehe führte und überglücklich über die beiden Buben war. Ich unterstützte sie natürlich, wo es nur ging und ließ ihnen an nichts mangeln.
Dann lernte ich Deinen Vater Reginald Rockwell kennen. Dass er wesentlich älter war als ich, störte mich damals nicht. Er war sehr reich, bot mir sofort soziale Sicherheit und ein überaus angenehmes Leben an. Wir heirateten bald und zwei Jahre später kamst Du zur Welt.
Unsere Ehe war bis zu dem Tag glücklich, als er dieses Foto von Dir, Ron und Robert fand, das ich heimlich bei einem Fotografen anfertigen ließ. Das Verhältnis zwischen Deinem Vater und mir kühlte sich seit der Zeit immer mehr ab. Wir ließen uns zwar nicht scheiden, aber jeder ging bald seine eigenen Wege. Nur geschäftlich liefen wir uns noch gelegentlich über den Weg.
Dann wurde ich schwer krank und konnte mich nicht mehr aus gesundheitlichen Gründen um meine Kinder kümmern, weder um Dich noch um Deine beiden Halbbrüder.
Die Jahre gingen dahin und ich zog mich todkrank in meinen Palast auf dem Planeten Mal de Mare zurück. Meine Krankheit verschlimmerte sich zusehends, und ich wollte auf keinen Fall mein Geheimnis mit in den Tod nehmen. Ich übergab daher unserem Familiennotar den Geheimcode meines Privatsafes und beauftragte ihn damit, diesen nach meinem Tode an Dich auszuhändigen. Jetzt, wo Du weißt, dass Du noch zwei Halbbrüder hast, bitte ich Dich darum, dass Du auch Ihnen diesen Brief und die zwei Geburtsurkunden zukommen lässt.
Zusätzlich habe ich beim Notar ein Schriftstück hinterlegt, dass mich als fünfundfünfzigprozentige Anteilseignerin am Konzern Transgalaktika Deines Vater ausweist. Er wird darüber zwar nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass ich Euch drei zu gleichen Teilen daran beteilige, aber er wird keine andere Wahl haben endlich die Macht an Dich, Ron und Robert abzugeben. Ich habe verfügt, dass niemand seine Anteile an Vater verkaufen oder zusammenlegen darf. Nur zusammen seid ihr stark und könnt das Rockwell-Imperium übernehmen.
Nun ist alles es gesagt, das Geheimnis gelüftet, das Erbe geregelt.
Verzeiht Eurer Mutter und denkt immer an mich!
Meine ewige Liebe gilt Dir, Ron und Robert
Mama
Als Jack den Brief durchgelesen hatte, liefen ihm Tränen über die mit feinem Wüstensand bedeckten Wangen. Er konnte das Gelesene noch nicht fassen, und dennoch übermannte ihn ein unbestimmtes Glücksgefühl. Er rief nach Ron, der mit großem Interesse die wunderschönen Skulpturen im angrenzenden Marmorgang betrachtete.
Ron stand bald vor ihm und sah, dass mit Jack irgendwas nicht stimmte.
„Was ist denn mit dir los? So kenne ich den coolen Rockwell junior nicht. Dir laufen ja Tränen übers Gesicht. Was ist passiert?“
Jack hielt ihm wortlos den Brief ihrer gemeinsamen Mutter und die beiden Geburtsurkunden hin.
„Was…, was ist das?“
„Lies einfach“, sagte Jack zu ihm.
Als Ron anfing zu lesen, zitterte er zum ersten Mal in seinem Leben am ganzen Körper. Er glaubte zu träumen und sah immer wieder zu Jack hinüber, der jetzt am weit geöffneten Fenster des Schlafgemachs stand. Sein Tränen erfüllter Blick schien er irgendwo am fernen Horizont festgemacht zu haben, wo das strahlende Licht der Sonne von Mal de Mare gerade ein wunderschönes Abendrot erzeugte. Dann drehte er sich zu seinem Halbruder Ron herum, ging mit einem Lächeln im Gesicht auf ihn zu und umarmte ihn inbrünstig.
„Wir haben uns noch viel zu erzählen, Ron. Hier in Mutters Palast endet alle Suche – deine und meine. Und diesmal komme ich freiwillig mit zurück zur Erde.“
Ron umfasste Jack sprachlos mit beiden Armen. Auch er konnte jetzt seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
***
Später im Orbit, Raumstation Refuge.
Ron und Jack setzten sich entspannt in ihre Pilotensitze auf der Brücke des Sprungraumers Pegasus I. Eine krächzende Stimme erteilte ihnen Starterlaubnis. Die Pegasus I wurde nach hinten in den freien Raum abgestoßen. Sie drehte sich solange auf der Stelle, bis ihre Nase in Zielrichtung zeigte. Dann zündete Jack alle vier Fusionsraketenmotore gleichzeitig und der Sprungraumer schoss brüllen hinaus in die Tiefe des Alls.
Die beiden Piloten spähten nach vorne in die Farbenpracht der Sterne. Als der Hyperlichtantrieb ansprang sahen sie, wie sich ihnen ferne Galaxien entgegenkrümmten und sie fühlten sich dabei wie Himmelshelden, erfüllt von Kraft, Wärme und Freude.
© Heinz-Walter Hoetter
***
Draußen herrschte ein erbarmungsloser Frost. Lange Eiszapfen hingen überall von den weit verstreut liegenden Gebäuden unterschiedlichster Bauformen und den Ästen der skurril aussehenden Bäume. Die weite Landschaft war mit einer dicken Schneeschicht überzogen, an einigen Stellen hatten die vergangenen, heftigen Schneegestöber die weiße Pracht meterhoch aufgetürmt.
Ich befand mich allerdings nicht auf der Erde.
Die wuchtige Schleusentür eines großen, igluartigen Hauses öffnete sich mit einem zischenden Geräusch. Warme Luft drang nach außen und kondensierte schlagartig zu einer flüchtigen Wolke aus feinen Eiskristallen.
Lazar Tarock hatte offenbar schon gewusst, dass ich kommen würde und den Öffnungsmechanismus der metallenen Haupteingangstür rechtzeitig in Gang gesetzt.
Wenn man einen Hundertjährigen besucht, erwartet man in der Regel einen alten Mann zu begegnen, der sich mehr oder weniger mit seiner Sterblichkeit bereits abgefunden hat und genau aus diesem Grunde eigentlich einen gewissen Grad an innerer Ruhe, Gelassenheit und schicksalsbedingter Resignation ausstrahlen sollte. Man spricht zwar nicht gern darüber, aber man kann zum Beispiel am leeren Blick der Augen und am gebrochenen Klang der Stimme hören, dass bei alten Menschen so eine Art Weltverdrossenheit oder das resignierende Gefühl von Lebensüberdruss vorherrschte, als gäbe es nichts, aber rein gar nichts mehr, was noch zu überraschen imstande gewesen wäre.
Lazar Tarock jedoch war zu meiner großen Überraschung ein reines Energiebündel, der jetzt mit entschlossenen Schritten zur geöffneten Schleusentür herauskam und zielstrebig durch den tiefen Schnee auf mich zuschritt. Sein eng anliegender, wärmender Ganzkörperanzug ließ ihn wie ein Raumfahrer aussehen.
Dann stand er vor mir. Bevor er sprach, atmete er eine kleine Nebelwolke aus und nahm mich konzentriert in Augenschein.
„Sind Sie der legendäre Mike Storm?“ fragte er mich mit fester, sonorer Stimme und hielt mir spontan die rechte Hand zum Gruß hin.
„Ja..., Mr. Tarock, der bin ich. Aber das mit dem ‚legendär’ lassen wir lieber mal weg.“
„Na ja, auch gut. Nun kommen Sie schon herein junger Mann! Sie werden hier draußen noch erfrieren. Warum haben Sie keinen Thermoanzug an?“
Ich zögerte etwas.
„Ich kam mit einer Schneeraupe. Die sind innen gut beheizt und der Weg zu Ihnen war nicht weit. Der Raumflughafen Telstar One liegt ja gleich mehr oder weniger um die Ecke“, erwiderte ich ihm.
„Sie sind ziemlich leichtsinnig, mein Freund. Hier auf dem Planeten Lanthea sinken die Temperaturen bisweilen schon mal schlagartig auf Minus 60 Grad. Da sollten Sie so einen Ganzkörperanzug immer dabei haben. – Schon aus Sicherheitsgründen, wenn Ihnen was am eigenen Leben liegt.“
„So gesehen haben Sie das Recht auf ihrer Seite“, gab ich schnell etwas verlegen zu und ging an Mr. Tarock vorbei in das kuppelartige Haus, dessen gemütlich eingerichteten Räume mich überraschten. Als ich das Ende des langen Röhrenganges durchquert hatte, stand ich plötzlich in einem Wohnraum vor einem brennenden Kaminfeuer. Knisternd stoben rotglühende Funken nach oben in den Abzug.
Der alte Lazar Tarock war mir unmittelbar gefolgt, ging schließlich hinüber zu einem Schrank und öffnete eine kleine Minibar. Dann sah er zu mir hinüber.
„Nehmen Sie doch Platz, Mr. Storm! – Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Unbedingt“, gab ich auf der Stelle zur Antwort.
Er förderte einen Dekanter mit dunkelrotem Landwein zutage und als ich ihm meine Hilfe anbot, beharrte Mr. Tarock darauf, dass ich sitzen bleiben und mich entspannen solle.
„Wie ich erfahren konnte, hatten Sie einen langen Flug“, sagte er mit Bestimmtheit und entfernte den Korken, schenkte zwei Gläser ein, reichte mir eins rüber und brachte ein Toast aus.
„Auf alle, die in der interstellaren Raumflotte Dienst tun“, rief er aus und trank einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Dabei strahlte er mich an, um mir zu zeigen, dass er sehr genau wusste, was er einmal gewesen war, und das die Leute ihn dafür zu schätzen wussten, dass er sich nicht davor scheute, alles über den Haufen zu werfen oder alte, überkommene Zöpfe abzuschneiden, wenn es die jeweilige Situation erforderlich gemacht hätte.
„Also Mr. Storm“, fuhr Mr. Tarock fort, “es ist mir eine große Freude, Sie kennen zu lernen. Einen so großartigen Raumfahrer, noch dazu einen so jungen, hier bei mir zu Hause zu haben, kann ich kaum glauben. Ich kann Ihnen nur sagen, ich hätte einiges darum gegeben, dabei gewesen zu sein, als Sie Ihre Entdeckung gemacht haben. – Die Energiekristalle vom Planeten Cristall I. Alle Achtung! Eine großartige Entdeckerleistung, die die Raumfahrt grundlegend verändert hat. So jung und schon so erfolgreich. Man glaubt es kaum.“
Ich wehrte bescheiden ab. Die ganze Sache hatte sich sowieso anders abgespielt. Aber was soll’s? Die Leute erzählten die Geschichte immer wieder anders. Von Planet zu Planet. Ich hatte einfach keine Lust mehr dazu, sie wahrheitsgemäß zu korrigieren.
Mr. Lazar Tarock war ein gepflegter alter Herr, nicht groß, dafür aber sehr schlank und außerordentlich sehnig. Seine wachen Augen waren von einem tiefen Blau und er besaß die aufrechte Haltung einer Person, die halb so alt sein dürfte wie er. Seine Haut war braun und fast ohne Falten, sein Haar war weiß und seine Stimme klang klar und kraftvoll. Dieser alte Mann strahlte immer noch einen unbändigen Lebenswillen aus.
Lazar Tarock stellte den Dekanter auf einen kleinen Rolltisch ab, wo wir ihn alle beide erreichen konnten. Dann setzte er sich in einen bequemen Ledersessel, der gleich rechts neben mir stand. Der alte Mann räusperte sich ein wenig, blickte zu mir herüber und kam gleich zur Sache.
„Ich nehme mal an, Sie kommen wegen meines Sohnes Orpheus.“
„Richtig, Mr. Tarock.“
Auf einem Bücherregal und auf einem Nebentisch standen einige eingerahmte Fotos. Auf etlichen davon konnte man das Gesicht eines verwegenen Mannes mit weißem Backenbart erkennen. Wir sahen beide hinüber zu den Bildern und betrachteten sie eine zeitlang.
„Ich verstehe“, antwortete er mir nach einer Weile des Schweigens. „Das ist schon in Ordnung und die ganze Sache ist auch gar nicht so kompliziert, wie Sie vielleicht denken mögen. Wissen Sie, mein Sohn hat die berühmten KI’s entwickelt, installiert und gewartet. Dreißig Jahre lang hat er für die intergalaktische Raumflotte gearbeitet, ehe er sich ein eigenes Raumschiff zugelegt hat und auf eigene Faust Erkundungsreisen zu unbekannten Planeten unternahm. – Aber ich denke mal, das wissen Sie bereits.“
„Ja.“
„Bitte erlauben Sie mir dennoch die Frage, Mr. Storm, warum Sie das alles interessiert? Hat es wohlmöglich irgendwelche Probleme mit meinem Sohn Orpheus gegeben?“
„Nein“, antwortete ich ihm. „Ich versuche nur herauszubekommen, was seinerzeit auf der Trident II passiert ist.“
Mr. Tarock brauchte einen Augenblick, um diesen Gedanken zu verarbeiten. Er schien sich nach innen zu kehren.
„Das hat Orpheus sich auch immer wieder gefragt.“
„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte ich.
„Das war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Ich habe bis heute nicht verstanden, was genau passiert ist. Deshalb wüsste ich auch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.“
„Der Wein ist sehr gut. Darf ich mir noch ein Glas einschenken?“ fragte ich Mr. Tarock. Ich wollte aber auch andererseits das Gesprächstempo etwas drücken.
„Aber natürlich. Nur zu, junger Mann. Tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Danke. Der ist für Murphy.“
„Murphy war ein hervorragender Kommandant gewesen. Ein Vorbild für alle jungen Raumfahrer“, sinnierte der alte Mann.
„Das ist richtig. Er war auf dem ersten Schiff, das am Ort des Geschehens eintraf. Er und Lord Blake – Murphy war der 1. Kommandant auf der Poseidon - waren die Männer, die die Trident II nach den mörderischen Ereignissen entdeckt haben. Doch dann wurde Murphy ermordet. Seine Leiche wurde nie gefunden.“
Für einen kurzen Moment spiegelte sich Bedauern in den Augen des Hundertjährigen.
„Hat Ihr Sohn Orpheus je mit Ihnen darüber gesprochen oder Ihnen davon erzählt, was da draußen passiert ist? Die Trident II war sein Raumschiff.“
„Nein, einmal abgesehen von seinen persönlichen Gefühlen.“
„Was hat er gefühlt?“
„Anscheinend Angst. Nichts als reine Angst, die sich bei ihm bis ins schier grenzenlose Entsetzen steigerte.“
Ich bemerkte, wie der alte Mann den Kopf schüttelte und innerlich vor seinem geistigen Auge über die Jahre hinweg in die Vergangenheit zu blicken schien.
Ich weckte nur ungern schmerzhafte Erinnerungen, aber da gab es den Verdacht, dass Orpheus späterer Tod kein Unfall gewesen war.
„Was denken Sie, warum man Ihren Sohn möglicherweise ermordet hat? Hatte es möglicherweise was mit der Entdeckung auf seinem Schiff zu tun?“ fragte ich mit der gebotenen Zurückhaltung.
Der alte Mr. Tarock bemerkte meine Vorsicht.
„Ist schon in Ordnung. Ich bin über den Tod meines Sohnes schon lange hinweg. Sie wollen wissen, ob man ihn ermordet hat?“
Ich nahm einen Schluck Wein zu mir, setzte das Glas vorsichtig ab und sah Mr. Tarock direkt ins Gesicht. Seine Augen blinzelten plötzlich wie eine sprungbereite Katze. Diese Reaktion hatte ich eigentlich nicht erwartet. Ich tat so, als würde ich nichts bemerkt haben.
„Was denken Sie?“ fragte ich ihn mit gespielter Ahnungslosigkeit.
„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß es ehrlich nicht.“
Ich hakte nach.
„Wer konnte durch seinen Tod etwas gewinnen?“
„Auch darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Mr. Storm. Mein Sohn war ein Abenteurer. Er kannte die Gefahren da draußen in den unendlichen Weiten des Alls. Er blickte dem Tod trotzig ins Antlitz. Ich bewunderte seinen Mut, der jedoch auch mit einer Portion Angst gepaart war. Er sagte immer, dass es keinen Mut ohne Angst geben würde. Ich machte mir auf der anderen Seite natürlich auch Sorgen um ihn. Wer tut das nicht als Vater?“
Der alte Mann machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wein und beendete seine Rede mit einer Frage.
„Darf ich fragen, ob der Tod meines Sohnes etwas mit dem Geschehen auf seinem Raumschiff zu hat?“
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber vor ein paar Tagen hat jemand die Zuleitungen der Antigravitationsspulen an meinem Gleiter sabotiert. Ich kann von Glück sagen, dass ich den Schleudersitz noch rechtzeitig bedienen konnte, bevor der trudelnde Gleiter auf dem Boden aufschlug und explodierte. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Die Suchmannschaften fanden mich schließlich bewusstlos am Rande eines Eismeeres. Fast hätten mich die Eiswölfe gefressen.“
Mr. Tarocks Augen weiteten sich. Er sah mich an, ehe er wieder irgendwohin in weite Ferne zu starren schien. Seine Worte klangen etwas abwesend.
„Das ist alles schon sehr merkwürdig. Ich bin froh darüber, dass Sie den Absturz heil überstanden haben und es Ihnen gut geht, Mr. Storm.“
Der Hundertjährige füllte unsere Gläser nach und brachte diesmal einen Toast auf mich aus.
„Ich wünschte, Sie wären bei meinem Sohn Orpheus gewesen. Er würde bestimmt noch leben“, sagte er wehmütig und eine Träne rann über seine Wange. „Es ist viel über die Verbrechen auf der Trident II geredet worden. Sogar mein eigener Sohn geriet in Verdacht“, fuhr er verbittert fort und ich sah, wie er in seinen Erinnerungen wühlte.
Er machte wieder eine kleine Pause, bevor er weitersprach.
„Und Sie denken wirklich, es gibt einen Zusammenhang zu Orpheus Tod?“ fragte er mich schließlich.
Die Falten um seinen Mund und seine Augen schienen sich dabei noch tiefer in die Haut zu graben. Sein Gesicht veränderte ein wenig die Farbe.
„Aber sicher, Mr. Tarock“, antwortete ich ihm.
Er überlegte eine Weile, und was er auch immer sagen wollte, er sprach es jetzt nicht aus.
Ich machte mir ein paar Notizen. Ich hatte mir schon vor langer Zeit angewöhnt, dass es besser war, nicht die ganzen Gespräche aufzuzeichnen, weil das bewirkte, dass die Leute Hemmungen bekamen, frei zu sprechen.
„Hat es vor dem Tod Ihres Sohnes irgendwelche Drohungen oder Warnungen gegeben, Mr. Tarock?“
Er nippte an seinem Wein und stellte das Glas behutsam auf den kleinen Rolltisch zurück.
„Nein. Es gab nichts dergleichen. Es hat keinen Grund gegeben, dass ihm jemand ein Leid zufügen wollte. Nach dem Geschehen auf seinem Raumschiff Trident II allerdings schien er irgendwelche Geheimnisse zu verbergen. Er hatte sich verändert und wurde immer verschlossener. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“
Ich hatte das komische Gefühl, er wünschte sich sogleich, er könnte die letzten Bemerkungen zurückziehen; aber es war zu spät, und so zuckte er nur mit den Schultern.
„Mr. Tarock, warum glauben Sie, dass Ihr Sohn Geheimnisse hatte?“
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte über meine Frage nach.
„Wie ich schon sagte, er hatte sich verändert“, antwortete er schließlich.
„Inwiefern?“
„Ich kann das schwer in Worte fassen. Es kam mir so vor, als hätte jemand Besitz von ihm ergriffen. Er führte auch immer mehr Selbstgespräche, gerade so, als spräche er mit jemanden. Ich dachte anfangs, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung bei ihm sei, aber da hatte ich mich geirrt. Es wurde noch schlimmer und bald stammelte er nur noch unverständliche Worte. Es klang wie eine fremde Sprache, die nur er verstand.“
Ich grübelte etwas.
„Die Veränderungen in seinem Verhalten sind also erst nach der Trident II-Geschichte eingetreten, sagten Sie?“
„Ja“, antwortete Mr. Tarock.
Für die nächste Frage wollte ich mir etwas mehr Zeit nehmen und überlegte mir, wie ich anfangen sollte. Schließlich legte ich spontan los.
„Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Geschehens auf der Trident II, Mr. Tarock.“
Der alte Mann erhob sich plötzlich, trat an den Kamin und stocherte ein paar Mal im Feuer herum.
„Ich war damals auf Indianapolis, einer Außenstation im Alpha System. Die liegt im Musari-Sektor, außerhalb des Andromeda Nebels. Mein Sohn hatte mich Monate vorher dort abgesetzt und vorübergehend da ebenfalls Station gemacht. Wir waren eine kleine Gruppe ehemaliger Veteranen aus dem technischen Support. Wir hatten gemeinsame Interessen, und wir haben uns alle recht gut verstanden.“
Ich machte mir abermals ein paar Notizen. Auch dort, auf der Außenstation Indianapolis, hatte es ähnlich schreckliche Morde gegeben.
„Wann haben Sie die Außenstation wieder verlassen, Mr. Tarock?“
„Ich bin schon am nächsten Tag irdischer Zeitrechnung wieder abgereist. Ich weiß nicht warum ich das tat. Ich hatte so ein komisches Gefühl, vielleicht deshalb, weil ich ahnte, dass ich wohl eine lange Zeit von meinem Sohn nichts mehr hören würde. Nun, Sie müssen bedenken, dass er sich da draußen in der Unendlichkeit an Bord der Trident II befand und schon vorher monatelang zusammen mit seiner Crew unterwegs gewesen war. Sie waren auf dem Weg zu irgendeinem Zielort, ich weiß nicht mehr, zu welchem, und Orpheus testete gerade eine neue Generation von KI’s an Bord seines Schiffes. Ich nahm noch während des Fluges zur Trident II Kontakt zu ihm auf und habe von ihm fast täglich gehört. Irgendwann hat er mir eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen und darin geäußert, dass irgendwas seltsames auf der Trident II passiert sei, aber dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Er schrieb, vermutlich wäre nur die Kommunikationsanlage ausgefallen. Dann hörte ich vorläufig nichts mehr von ihm.“
„Und als Sie schließlich die Trident II erreichten, hat er Sie da weiterhin auf dem Laufenden gehalten?“
„Nur bis auf das, was Sie schon wissen. Er wurde plötzlich von Tag zu Tag verschlossener und sprach nur noch mit sich selbst. Die ganze Crew bekam Angst vor ihm. Er wurde unberechenbar.“
„Während Ihres Aufenthaltes auf dem Schiff Ihres Sohnes sind sechs Passagiere der Trident II so gut wie spurlos verschwunden. Hat er Ihnen nichts davon erzählt? Nicht einmal andeutungsweise?“ fragte ich argwöhnisch und verzog dabei die Mine etwas säuerlich.
„Ja, ich habe davon gehört. Sozusagen auf Umwegen. Das war wirklich ärgerlich. Mein Sohn spielte die ganze Sache herunter. Er wollte wohl eine Panik verhindern. Immerhin befanden sich weit mehr als dreihundert Leute auf seinem Raumschiff. Er schien sich auch nicht sonderlich darüber aufgeregt zu haben. Einige andere Crewmitglieder haben mir später erzählt, dass irgendwas Furchtbares auf der Trident II passiert sein musste. Es gab anscheinend eine Reihe von bestialischen Morden an fünf oder sechs Besatzungsmitgliedern. Man fand lediglich nur noch einige verstreut herumliegende, blutverschmierte Knochen an den jeweiligen Orten dieser entsetzlichen Taten. Mehr kann ich darüber nicht sagen. “
Ich wusste auf einmal nicht mehr, wie ich meine nächste Frage loswerden sollte. Deshalb fragte ich Mr. Tarock, ob sein Sohn im Umgang mit anderen Leuten ehrlich gewesen war.
„Soviel ich weiß, hat sich Orpheus stets korrekt benommen. Aber Unehrlichkeit und Korruption kann man bei keinem Menschen ganz ausschließen“, gab er mir zur Antwort.
„Hätte er sich denn kaufen lassen? Was meinen Sie?“
„Um möglicherweise etwas Unmoralisches oder Böses zu tun? Orpheus? Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Er war eine ziemlich starke Persönlichkeit und voller Selbstbewusstsein.“
„Aber ganz ausschließen würden Sie es nicht?“
„Ich sagte Ihnen doch schon, Mr. Storm, dass man Unehrlichkeit und Korruption bei keinem Menschen ganz ausschließen kann. Das gilt auch für das Böse. Es steckt in jedem als Keim in uns.“
Ich zog aus meiner wasserdichten Seitentasche sechs Bilder hervor auf denen die Gesichter einiger Crewmitglieder der Trident II zu sehen waren.
„Kennen Sie vielleicht zufällig einige dieser Personen, Mr. Tarock?“
Er studierte sie und schüttelte nach einer Weile den Kopf.
„Auf dem Langstreckenraumschiff meines Sohnes gab es eine eingeschworene Kernmannschaft, die für den sicheren Flugbetrieb der Trident II unerlässlich war. Die Gesichter dieser Männer und Frauen könnte ich unter Tausenden sofort herauspicken. Das übrige Mannschaftspersonal wechselte aber ständig, weil es entweder Kolonisten oder freie Raumfahrer waren, die manchmal nur für die Dauer einer einzigen Mission angeheuert wurden. Die Personen auf den Fotos kenne ich daher nicht. Sie sind mir unbekannt.“
„Sind Sie sich da ganz sicher, Mr. Tarock?
„Ja natürlich. Es müssen Leute sein, die auf den unteren Decks oder im Maschinenraum der Antimateriegeneratoren gearbeitet haben. Ich hielt mich in der Regel, wenn ich hin und wieder mal auf der Trident II war, meistens auf der Kommandobrücke meines Sohnes auf. Ich kam nur ganz selten mit der übrigen Mannschaft in Kontakt.“
„Hm, na gut. Ich glaube, das war’s dann, Mr. Tarock. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden“, sagte ich. „Auch für den Wein, der mir außerordentlich gut gemundet hat. Ich fühle mich wie neugeboren.“
„Ja, der Wein verändert oftmals den Charakter des Menschen. Und dieser Wein stammt vom Sonnenplaneten Ischcolon, im Raumquadraten Delta, falls dieser Ihnen ein Begriff ist. Aber schon gut, Mr. Storm. Ich habe mich sehr darüber gefreut, Sie mal ganz persönlich kennen gelernt zu haben. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“
„Ach was, Mr. Tarock. Machen Sie sich wegen Ihres Alters keine allzu großen Sorgen. Unsere hervorragenden Biogenetiker können das Leben eines Menschen glatt verdoppeln.“
„Sie haben gut reden, junger Mann. Was wissen Sie schon vom Alter und Älterwerden?“
Ich erhob mich leicht benommen aus meinem Ledersessel. Mir wurde plötzlich etwas schwindlig und wäre beinahe über den kleinen Rollwagen gestürzt, der mir den Weg versperrte.
„Geht’s Ihnen nicht gut, Mr. Storm?“, fragte mich der Alte und grinste mich dabei herablassend an.
Irgendwas ging in mir vor, ich wusste aber nicht was. Ich kam nicht dahinter.
Mittlerweile war es draußen schon dunkel geworden.
Wir kamen zur offenen Schleusentür heraus, blieben für einen Moment in der frostigen Luft stehen und gingen dann schnurstracks zu meiner abgestellten Schneeraupe hinüber. Die Innenheizung hatte sich bereits automatisch eingeschaltet, die Front- und Seitenscheiben waren deshalb schnee- und frostfrei.
Ich verabschiedete mich von dem alten Mann, der sich Lazar Tarock nannte und wünsche ihm noch ein langes Leben. Dann setzte ich mich, noch immer leicht benommen, hinter den klobigen Steuerknüppel meines Schneefahrzeuges und fuhr damit zurück zum Raumflughafen Telstar One, der etwa acht Kilometer von meinem derzeitigen Standort in westlicher Richtung lag.
Als ich wieder im meinem Hotel war, ging es mir schon wieder viel besser. Ich stellte umgehend eine verschlüsselte Video- und Tonverbindung mit der Zentrale des Raumflottengeheimdienstes (RGD) her.
Nur wenige Sekunden später blickte ich in das Gesicht meines Führungsoffiziers Oberst Stanislav Poronovsky.
„Mein Gott, Storm! Ich dachte schon, es gibt Sie nicht mehr. Wo haben Sie bloß solange gesteckt? Sie sind mir vielleicht ein Draufgänger. Und was Ihre geheimen Daten anbelangt, habe ich diese bereits im Labor auswerten lassen. Sie sind eine einzige Sensation! Wir haben auch eine genetische Fernprobe von Mr. Tarocks Körperzellen gemacht. Es gibt keinerlei Zweifel darüber, dass Lazar Tarock nicht ‚der’ Lazar Tarock ist, den wir von früher her kennen. Wir haben aufgrund der biogenetischen Untersuchungsergebnisse der von Ihnen sichergestellten Gewebezellen nachweisen können, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um jenes Monster handelt, so eine Art Reptil oder ähnliches, das für die bestialischen Fressmorde auf der Trident II verantwortlich ist. Es mordet wohlmöglich überall, wohin es kommt. Dieses Biest hat unseren Ermittlungen nach offenbar sowohl den echten Lazar Tarock, als auch seinen Sohn Orpheus gefressen. Dann nahm es die Gestalt vom alten Tarock an, und konnte auf diese Weise unerkannt entkommen. Dieses Ding scheint jede x-beliebige Gestalt eines Menschen annehmen zu können und ist dazu in der Lage, jedes Individuum täuschend echt zu imitieren. Dabei infiziert es den befallenen Wirtskörper nach und nach mit seiner eigenen DNS und verändert ihn innerhalb nur weniger Minuten in seinen eigenen, ursprünglichen Körper. Das ist einfach phantastisch. Wir konnten es zuerst selbst nicht glauben, aber die Resultate der Biogenetiker sind eindeutig. Die Ergebnisse stellen einen gewaltigen Fortschritt in der Biogenetik dar. Wir wissen jetzt um das Geheimnis der Metamorphose dieses Monsters. Stellen Sie sich einmal vor, welche ungeahnte Tragweite diese neu gewonnenen Erkenntnisse für die gesamte Menschheit haben werden. Nicht auszudenken! – Ach übrigens, dass Sie den Mut hatten, in die Höhle des Löwen zu spazieren, macht Sie für eine neuerliche Beförderung reif. Ich schlage daher vor, Sie beenden die geheime Mission und zünden den ferngesteuerten Sprengsatz, den Sie in Tarocks Haus heimlich reinschmuggeln konnten. Der Körper des Monsters wird durch die Hitze des Thermosprengsatzes bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Bestätigen Sie diesen Tötungsbefehl und senden Sie uns den Code X, wenn Sie ihn ausgeführt haben. Ende der Übermittlung. – Oberst Stanislav Poronovsky, Raumflottengeheimdienst.“
Nur wenige Augenblicke später jagte ich Tarocks Kuppelhaus aus einer Entfernung von mehr als acht Kilometer mit einem ferngezündeten Sprengsatz in die Luft. Es war eine fürchterliche Detonation, die man noch bis Telstar One hören konnte. Danach stieg eine gewaltige Stichflamme hinauf in den dunklen Nachthimmel von Lanthea. Eine Weile betrachtete ich versonnen den hell lodernden Lichtschein am fernen Horizont und sendete kurz darauf den Code X an die Zentrale des Raumflottengeheimdienstes, der ihn umgehend verschlüsselt bestätigte. Dann wurde die Verbindung endgültig gekappt.
Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte, ging ich zum Videophon und orderte eine Einzelkabine für einen einfachen Langstreckenraumflug zurück zum Planeten Terra im Sonnensystem SOL.
Mein neuer Körper fühlte sich noch etwas sonderbar an, denn er war im Vergleich zum alten Body von Mr. Tarock relativ jung und angenehm unverbraucht. Auch der Name Mike Storm ging mir noch etwas schwer über die Lippen. Aber ich würde mich schon noch daran gewöhnen. Auf dem Flug zur Erde war ja Zeit genug dafür.
***
Unter den zahlreichen Passagieren eines gewaltigen interstellaren Raumschiffes befand sich auch ein großer hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.
„Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der intergalaktischen Fluggesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.
Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.
Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch für wenige Sekundenbruchteile nur, in die hässliche Gestalt eines echsenartigen Monsters verwandeln.
(c)Heinz-Walter Hoetter
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
Der Beitrag wurde von Heinz-Walter Hoetter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.04.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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