Felix ließ sich an diesem Sonntag durch seinen Wecker aus dem Schlaf reißen. Im letzten Jahr hatte er zu seinem Leidwesen den Ostersonntagvormittag verschlafen. Als er gegen Mittag ins Wohnzimmer kam, war seine Enttäuschung groß. Anstatt sich an österliche Köstlichkeiten erfreuen zu können, fand er bis auf einen Zettel ein leeres Osternest vor. Auf dem Zettel stand: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Er musste bis zum Abend warten, bis er den eigentlichen Inhalt vom Osternest bekam. So etwas wollte er auf keinen Fall noch einmal erleben. Deshalb der Wecker. Voller Zuversicht betritt er das Wohnzimmer, steuert den Wohnzimmertisch an und staunt nicht schlecht, was er sieht. Kein leeres Nest. Das bleibt ihm erspart. Dennoch reibt er sich die Augen, weil er nicht glauben will, was er sieht. Im Nest liegen keine Köstlichkeiten, sondern sieben Hühnereier, eingefärbt in den Farben Gelb und Blau. Auf jedem Ei klebt ein anderer Buchstabe. Zusätzlich entdeckt er eine rote Christbaumkugel. Was die im Nest zu suchen hat, erklärt sich Felix nicht. ‚Die ist bestimmt versehentlich hineingelegt worden‘, denkt er. Erwartet hatte er einem Schoko-Osterhasen, Marzipaneier und Naschereien aus Nugat und Krokant. „Für das, was mir geboten wird, hat es sich nicht gelohnt, so früh aufzustehen und für die rote Christbaumkugel schon gar nicht“, mault er. Er ist drauf und dran, sich wieder ins Bett zu legen. Trotz der großen Enttäuschung interessieren ihn die aufgeklebten Buchstaben. ‚Irgendeinen Sinn müssen die doch haben‘, überlegt er. Er nimmt die Eier aus dem Nest und reiht sie nebeneinander auf. E R A U I K. liest er und stellt fest, dass der Schriftzug für ihn keinen Sinn ergibt. Er ist der Meinung, dass sich die Eltern bei der Auswahl der Buchstaben etwas gedacht haben müssen. Mit dieser Annahme hat Felix ins Schwarze getroffen. Er bringt die Eier in eine neue Anordnung und liest I N A U R K E. Auch dieses Wortgebilde gibt für ihn keinen Sinn. ‚Ob hinter dem Ganzen ein Buchstabenrätsel steckt, das ich lösen soll?, fragt er sich und:, ‚werde ich, wenn ich das Rätsel löse, mit einem prall gefüllten Osternest belohnt?‘ Fragen über Fragen. ‚Vielleicht wollen die Eltern, dass ich aus den einzelnen Buchstaben nicht ein einziges, sondern mehrere Wörter bilde, überlegt Felix und macht sich daran, Wörter zu bilden in denen die vorgegebenen Buchstaben vorkommen. Als erstes entdeckt Felix das Wort ANKER. Er holt sich Papier und Bleistift und notiert ANKER in der Hoffnung, noch mehr Wörter notieren zu können. Es dauert nicht lange und Felix entschlüsselt tatsächlich weitere Wörter KRAN und URIN und RANKE notiert er. Weitere Wörter lassen sich für Felix nicht aus dem Buchstabensalat bilden. „Immerhin vier“, triumphiert er. „Die Eltern können stolz auf mich sein“, lobt er sich. ‚Aber was geben die Wörter für einen Sinn? Was haben die mit Ostern zu tun? ANKER und KRAN … Na schön. Ich bin gerne an der See. Sollte das Wort ANKER symbolisch für ein gemeinsames Wochenende an der See stehen? Und das Wort KRAN dafür, dass ich mir schon lange wünsche, einen hohen Kran besteigen zu dürfen?“ Für die Wörter RANKE und URIN hat Felix keine Deutung. ‚Vielleicht sollen mich diese Wörter in die Irre führen‘. „Und was zum Teufel soll mir die rote Christbaumkugel sagen?“, schimpft er lautstark. Felix hat während seiner Selbstgespräche nicht mitbekommen, dass die Eltern hinter ihm stehen und ihm amüsiert zugehört haben.
„Das Wort NIE lässt sich auch bilden, erklärt sein Vater und jagt ihm damit einen Schrecken ein. „Ich hoffe, dass ihr nie wieder auf eine solche verrückte Idee kommt“, flucht er.
Felix spürt die Hand seines Vaters auf seine Schulter.
„Gut gemacht Felix“, sagt er.
Felix freut sich, dass er die Aufgabe richtig verstanden hat. Die Freude allerdings ist nur kurz denn der Vater erklärt seinem Sonn das es nur ein Lösungswort, das aus sieben Buchstaben besteht, gibt. Felix sieht seinen Vater ratlos ins Gesicht.
„Vielleicht hilft dir die Farbauswahl auf die Sprünge“, meint die Mutter und lächelt ihren Sohn mutmachend an.
„Blau ist der Himmel, gelb ist die Sonne“, erklärt Felix: „Und hilft mir das weiter? Und was hat die alberne rote Christbaumkugel im Nest verloren?“
„Alles hat seinen Sinn Felix“, gibt der Vater zu bedenken.
„Auch Unsinn?“, will Felix wissen.
„Was meinst du mit Unsinn Felix?“, möchte seine Mutter wissen.
„Ihr müsst zugeben, dass es so ein abgefucktes Osternest in unserer Familie nie geben hat.“
„Das stimmt Felix. Wir haben uns gedacht, dass wir dieses Osterfest ein anders gestalten als wie die Osterfeste in den vergangenen Jahren.“
„Und das heißt?“
„Das heißt, dass, wenn du das Lösungswort gefunden hast, wir für ein paar Stunden das Haus verlassen.“
„Ostereier suchen im Freien?
„Eher nicht Felix?“
„Ihr macht es spannend. Mit welchen Buchstaben fängt das Lösungswort an Mutti.“
„Mit dem Buchstaben U. Und denke kurz über die Farbauswahl nach. Das hilft dir bestimmt auf die Sprünge.“
Felix denkt ernsthaft nach und meint das Lösungswort gefunden zu haben. Vorsichtig, aber selbstbewusst sagt er: „UKRAINE.“
„Richtig. UKRAINE, einem Land, das sich in einem fürchterlichen Krieg befindet, aus dem Abertausende von Bewohnern flüchten und ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen müssen. In einem Land, in dem gefoltert, vergewaltigt und gemordet wird. Keiner der Geflohenen weiß, ob er jemals in seine Heimat zurückkehren kann und wenn ja, was er vorfinden wird. Wir haben uns gedacht, das wir gemeinsam zu einer Stelle fahren, an der Flüchtlinge stranden und ihnen mit ein paar Süßigkeiten versuchen, das Leben versüßen.“
Voraussetzung ist du verzichtest auf das Naschwerk, das wir für dich vorgesehen hatten“, ergänzt die Mutter.
Felix überlegt kurz und ist einverstanden.
„Gut, dann lasst uns frühstücken und anschließend losfahren“, schlägt der Vater vor.
Als die drei im Auto sitzen und losfahren fragt Felix: „Eine Frage ist noch zu klären.“
„Und die wäre?“, fragt der Vater.
„Die Sache mit der roten Christbaumkugel.“
„Die Idee mit der roten Christbaumkugel kam von deiner Mutter. Die Kugel soll Hoffnung ausdrücken, das Weihnachten der ganze Spuk vorbei ist.“
„Eine tolle Idee, Mutti. Auf eine solche wäre ich nie gekommen.“
Vater, Mutter und Felix verbrachten mehrere Stunden mit den Flüchtlingen und hatten ein gutes Gefühl dabei. Die Eltern hatte mehr Naschwerk eingekauft, als in das Osternest von Felix gepasst hätte.
Kurz bevor sie ihren Heimweg antraten, beobachteten sie eine Mutter mit ihrem Kind. Gemeinsam spielten sie mit einer roten Christbaumkugel. Was hat das zu bedeuten, fragte sich die Familie.
„Ich glaube“, sagte die Mutter, „ich glaube das die Mutter fest daran glaubt, Weihnachten wieder in der UKRAINE zu sein.
Felix und sein Vater sehen sich an.
Der sagt: „Hoffentlich. Wir wünschen es ihnen und den anderen.“
Felix meint: Dieses Osterfest werde ich nie vergessen.