Ich war noch nie so lange in Gambia geblieben wie in diesem Jahr. Das Land ist mir inzwischen recht gut bekannt: 2001 war ich zum ersten Mal dort, dann 2007, 2011, 2014 und ab 2017 jährlich. Es war bisher meist eine Urlaubsreise gewesen, bis auf letztes Jahr, wo ich sechs Wochen blieb und die meiste Zeit gearbeitet hatte.
Nun hatte ich einen Aufenthalt von drei Monaten und führte ein ziemlich normales, nicht besonders ereignisreiches Leben in diesem afrikanischen Land. Das ist lange genug, damit sich die Wahrnehmung der Umgebung verändert. Das Augenfälligste ist das Gefühl von Alltäglichkeit, das zu einer prägenden Erfahrung geworden ist. Das europäische Leben tritt in den Hintergrund und ist nicht mehr das Normale, sondern eine Alternative in der Art zu leben.
Ich bemerkte auch, wie stark die westliche Ideologie noch in mir wirkt, und hinterfragte das auf eine für mich neue Weise. Das zentrale Ideologem ist das der ‘afrikanischen Armut’. Wir nehmen es als gegeben an, dass die meisten Menschen in Afrika ‘arm’ sind. Diese Ansicht wird unterfüttert und gewissermassen objektiviert von diversen Statistiken. Die vielleicht wirkungsvollste davon ist die des BIP/pro Kopf, veredelt durch die Option ‘nach KKP’. Da wird angegeben, wieviel Geld einem Menschen in einem Land, unter Berücksichtigung des Preisniveaus durchschnittlich zur Verfügung steht. Und hier kommen die afrikanischen Länder häufig auf gerade einmal ein Prozent von führenden Nationen des Westens. Das Leben in Afrika muss also in etwa hundertmal schlechter sein als das in Europa. Gut, so einfach sind die Menschen nicht gestrickt. Das Totschlagargument gibt dann aber in Zweifelsfall die Richtung des Migrationsstromes zu bedenken: Sie wollen doch alle hierher (Das das so nicht stimmt, werde ich später noch ausführen)! Auf alle Fälle haben wir uns einen Blick von oben angewöhnt. In Bezug auf Afrika blicken wir herab: nicht notwendigerweise auf die Menschen, aber doch auch die Lebensumstände. Mein Aufenthalt war diesmal lang genug, um mir diesen ‘Blick von oben’ abzugewöhnen. Es ist auch kein Blick von unten daraus geworden, sondern etwas, was zunächst irritiert ist und in der Wahrnehmung ungewöhnlicher ist, als es zunächst scheint: Augenhöhe. Die Menschen in Gambia sind nicht schlechter als die in Deutschland. Sie sind auch nicht besser. Ihre Art zu leben, ihre Lebensumstände sind nicht besser als unsere, sie sind auch nicht schlechter. Ich kam wieder der Wahrnehmung eines Kindes nahe: ich wertete wenig, weil die Wertungen nicht gut funktionierten.
Ich habe mich also zum ersten Mal gefragt, ob die Menschen hier arm sind. Also nicht danach, in welchem Ausmass oder inwiefern hier Armut herrscht, sondern ob das überhaupt der Fall ist. Ist diese ‘Armut’ vielleicht eher ein Produkt der westlichen Ideologie und dazu geeignet, uns überlegen fühlen zu lassen. Zunächst fällt ins Auge, dass diejenigen, die nach der Statistik von der krassesten Armut getroffen, für meine Begriffe am wenigsten arm sind. Dies betrifft die ländliche Bevölkerung, die in den Dörfern ein traditionelles Leben führt, mit wenig Geld zur Verfügung und wenig Geld, das notwendig ist. Es ist ein Leben, das ist, wie es ist und erst neuerdings ist hier ein keim von Veränderung, vom Wunsch nach Veränderung eingedrungen. Doch nach wie vor strahlt diese Bevölkerung ein tiefes Einverständnis mit den Umständen ihres Lebens aus. Generell ist mir in Gambia kaum Existenzangst begegnet. Die Menschen bangen nicht um die nächste Mahlzeit, um die Kündigung ihrer Wohnung, nicht einmal um den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Mir ist nur wenig Elend begegnet, nur wenig not. Stattdessen gibt es viele Menschen, die Kleidung besitzen (oft nur wenig), die regelmässig essen (wenn auch nicht üppig), die einen Ort zum Schlafen haben (oft nur ein kleines, karg eingerichtetes Zimmer) und die ihren Beschäftigungen nachgehen wie wir auch.
Die Menschen führen also ein Leben in einer nahezu durchgehenden Alltäglichkeit wie wir auch mit ihren Problemen und Freuden. Es ist am Ende nicht so speziell, nicht so besonders.
Was mir beim näheren Nachdenken bemerkenswert erschien, war, wie leicht es für einen Europäer hier in kultureller Hinsicht ist, zurechtzukommen. Es ist leicht, hier mit den Menschen zurechtzukommen, es entstehen nur wenig Missverständnisse und wenn doch, ist man meistens selber schuld. Von den statistischen Parametern her müsste man etwas anderes erwarten: dieses sehr verschiedene Lebensniveau müsste ja dazu führen, dass die Menschen deutlich anders ticken.
Stattdessen gibt es eine weitgehende kulturelle Kompatibilität. Es gibt gewisse Differenzen im Sinne von Nuancen, doch grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass etwas, was wir als erstrebenswert oder als verwerflich ansehen, in Gambia ähnlich gesehen wird. Ich vermute, dass ich etwa in Japan oder in Afghanistan grössere Probleme mit dem kulturellen Kontext hätte, in Gambia gestaltete sich das aber sehr einfach.
Es ist aber nicht so, dass mir in Afrika nichts gefehlt hätte. Die erste Zeit, etwa sechs Wochen lang, war ich froh, dort zu sein. Weg von all dem ‘Zeug in Europa’, abgetaucht, in einem alternativem Leben. Dann meldete sich allmählich die Sehnsucht und diese wurde stärker, je länger ich da war. Es war eher eine unspezifische Sehnsucht, nicht nach etwas Bestimmten (Ich hatte Wein und Internet und ein schönes häusliches Umfeld, auch meine Frau und mein Kind war bei mir), doch ein tiefes und hartnäckiges Gefühl eines Mangels machte sich breit.
Vielleicht kann ich es so diagnostizieren: Das Leben in Gambia ist zwar bunter als in Europa, doch es ist zugleich eintöniger. Wenn man herausgeht, werden die Sinne mehr stimuliert als in Europa. Es ist mehr los auf den Strassen: man sieht Frauen in farbenfrohen Kleidern, Kinder, die Fussball spielen, Esel und Ziegen, Hähne, die gegeneinander kämpfen. Es ist bunt und zugleich staubig. Kurz: Es herrscht ein pulsierendes Leben mit Stimmen und Stimmungen. Häufig werde ich angesprochen und kann mich in Gespräche verwickeln lassen, wenn ich das möchte. Zugleich ist das Leben eintöniger. Man kann nicht so viel machen. Es gibt wenig Ereignisse, Termine, man kann nicht so vieles machen. Was unternehmen wir am Sonntag? – Meistens landeten wir dann wieder im Hotelkomplex des Senegambia, sassen in einem schattigen Restaurant und gingen an den Strand. Auf Dauer bekam das Leben etwas Eintöniges.
Insgesamt führte dieser längere Aufenthalt dazu, meinen Respekt für die dort lebenden Menschen zu erhöhen. Das lag wohl auch darin, dass mir in verschiedenen Situationen geholfen wurde. Ein in diesem Sinne typisches Erlebnis hatte ich, als ich herausfinden wollte, wo die Coronatests gemacht werden. Ich ging zu dem Ort, wo dies das Jahr zuvor stattgefunden hatte, um sehen zu müssen, dass sich da inzwischen ein Messegelände befand. Am Eingang fragte ich die dort Sitzenden, wo jetzt die Tests gemacht werden würden. Einer begann es mir zu erklären, es klang ziemlich kompliziert. Ich fragte nach Papier und Stift, weil ich es mir notieren wollte. Keiner hatte das. «Komm», sagte der Mann, «Wir gehen zu meinem Auto.». Dort angekommen, holte er einen Kugelschreiber und ein Stück Papier hervor, überlegte kurz, schüttelte dann mit dem Kopf und sagte: «Ich fahr dich hin. Steig ein.» Es waren etliche Kilometer. Dann liess er mich heraus und meinte: «Ich komme gleich zurück, warte dann hier, dann nehme ich dich zurück.» In dem Testzentrum erfuhr ich, dass man den Test schon vorher bei einer bestimmten Bank bezahlen und mit der entsprechenden Quittung hierher kommen musste. Die Materialentnahme fand täglich zwischen neun und elf statt, die Ergebnisse standen am Folgetag zur Verfügung, inzwischen auch als Download über eine Website (Im vergangenen Jahr musste man noch zum Zentrallabor fahren, wo die Resultate als Papierausdrucke dann verteilt wurden. Das war häufig mit stundelangem Warten verbunden). An der vereinbarten Stelle hielt kam mein Helfer dann auch bald an und öffnete mir die Tür. Auf dem Rücksitz sassen zwei Männer, Soldaten. Wir fuhren zurück, ich sagte, dass er mich in Brusubi Turnlable aussteigen lassen könnte. Dann fragte ich ihn, wieviel ich ihm bezahlen könne. Er winkte ab. Ein solcher Service war natürlich kostenlos.
Generell schien das Verhältnis zum Geld mitunter locker zu sein. Mir wurde mehrere Male ein Teil des Preises erlassen oder die Ware gleich ganz geschenkt, weil dem Verkäufer Wechselgeld fehlte. In Kafountine ass ich einmal in einem Restaurant. Zum Bezahlen gab ich einen der grossen Geldscheine, die ich von der Wechselstube bekommen hatte. Die Frau, welche das Restaurant führte, erschrak: «Oh», sagte sie, «Das kann ich gar nicht wechseln.» Sie überlegte kurz und sagte dann: «Du kannst das das nächste Mal bezahlen.».
Die Normalität, mit der ich in der Regel als Kunde behandelt wurde, fühlte sich manchmal etwas seltsam an. Eines Tages beschloss ich, zum Frisör zu gehen. Ich war schon viele Wochen im Land und mein Kopf sah nicht mehr schön aus. Ich lief durchs Quartier und klapperte die mir bekannten ‘Barber shops’ ab. Sie schienen alle unbesetzt zu sein, ich wollte schon aufgeben. Beim dritten klappte es schliesslich. Die Tür stand auf. Ich ging rein, allerdings war der Raum leer. In Gambia sind die Frisörsalons, zumindest die für Männer in der Regel einfache, eher karge Räume mit nur einem Platz, die auch nur von einem Mann betrieben werden. Ich verliess den leerstehenden Raum und wollte schon aufgeben, trat den Heimweg an. Ein wenig frustriert stoppte ich nach einigen Schritten, kehrte um, ging wieder hinein, hinaus, blieb stehe, unschlüssig. Dann fragte ich ein Kind, was in der Nähe sass, ob hier heute niemand arbeiten würde. »Doch, doch», sagte das Kind, rief etwas in den Innenhof hinein und sagte mir, ich solle schon mal Platz nehmen. Mehrere Minuten später kam dann der Frisör, ein eleganter Mann mit einem gepflegten Vollbart. Ich fragte zunächst, was es kosten würde. «Hundert Dalasi», sagte er. Das waren keine zwei Euro. Der Mann erledigte seine Arbeit schweigend und mit grosser Professionalität, mit einer gewissen Beschwingtheit.
Die Arbeit der Menschen erstaunte mich mitunter. Eines Tages ging ich zum Arbeiten auf unser Grundstück in Kafountine. Ich trug eine Axt, mit der ich diverse Gewächse weghackte. Diese schichte ich dann zu grösseren Haufen, die später verbrannt wurden. Diese Feuer machten mir grosse Feuer, sie waren heftig, wenn oft auch recht kurz. In unserem Garten traf ich einen Mann meines Alters (um die fünfzig) an, der sich mit einer Machete an Palmwedeln zu schaffen machte. Er erklärte mir in rudimentärem Französisch, dass er beauftragt wäre, hier Ordnung zu machen. OK, sagte ich und machte mich an meine eigene Arbeit. Etwa eine halbe Stunde später hörte ich laute Hackgeräusche. Ich wendete mich um und sah ihn. In zehn Meter Höhe, auf der Krone einer Palme, wo er die peripheren Blätter abtrennte! Ich war tief beeindruckt. Wie war er da hochgekommen? Zudem war er kein junger Mann mehr. Bereits zuvor war mir aufgefallen, mit welcher Eleganz hier die Kinder – schon sechsjährige – die an Ästen armen Bäume emporkletterten. Unsere Kinder können das nicht, hatte ich dabei gedacht. Ich natürlich auch nicht.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.04.2022.
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