Zunächst aber befanden wir uns in einer Phase, die alle Möglichkeiten offenließ. Während unserer ersten drei oder vier Spaziergänge durch den maigrünen Wald beschränkten sich unsere Gespräche auf unverbindlichen Smalltalk, der sich kaum um Tiefergehendes als das Wetter drehte – viel zu heiß, aber im Wald sei es gut auszuhalten, – aktuelle Meldungen aus der Tagespresse – mehrere Autobauer hatten ihre Kunden kräftig mit den Abgaswerten ihrer Neuwagen beschissen. Der alten und neuen Kanzlerin war es endlich gelungen, eine neue, alte große Koalition zu bilden, und in England stand eine Prinzenhochzeit bevor. Weltbewegendes fand in diesem Frühsommer gerade nicht statt.
Wir bedauerten die Bauern, deren Getreide, wenn es nicht bald mal ergiebig regnen würde, wahrscheinlich genau wie im vergangenen Jahr auf den Feldern verdorren würde. In diesem Zusammenhang zerbrachen wir uns unsere Köpfe darüber, wie es wohl dem Besitzer der kleinen Hanfplantage gelungen sei, seine Pflanzen nicht nur vorm Verdursten zu retten, sondern sie zu erstaunlich perfekten Stauden aufzuziehen. Die standen auf der Lichtung, die wir bei jedem Spaziergang besuchten, frisch und saftig da, man konnte ihnen geradezu beim Wachsen zusehen. „Der liebe Gott hat eben ein Herz für Kiffer“, vermutete Hochwürden. Dass das prächtige Wachstum weniger mit göttlichem Wohlwollen als vielmehr mit dem Fleiß und Einfallsreichtum des Hobbygärtners zu tun hatte, erfuhren wir Wochen später, als wir den Cannabisbauern zufällig kennenlernten. Wir fanden noch etliche unverfängliche Themen, über die wir uns austauschten. Wenn wir nicht, was mir am angenehmsten war, gemächlich schweigend durch das Grün schritten.
Dann legte ausgerechnet Gandhi den Grundstein zu unserer künftigen Männerfreundschaft. Beziehungsweise wurde dieser Grundstein durch ein übles Missgeschick, das Gandhi widerfuhr, gelegt.
Während eines sonntagnachmittäglichen Spaziergangs, den wir bisher größtenteils schweigend zurückgelegt hatten, hob Baumann plötzlich die Hand.
„Hören Sie das auch?“ Baumann blieb lauschend stehen. „Ist das nicht Ihr Hund? Hört sich beinahe so an, als ob er winselt.“
Jetzt hörte ich es auch. Gandhi, der bis eben noch mit der Nase auf dem Boden im Gebüsch neben dem Weg interessante Fährten erschnüffelt hatte, war ein Stück hinter uns geblieben und, ja, er winselte. Nun ging das Winseln sogar in ein jämmerliches Jaulen über. Wir machten kehrt und liefen zurück. Nach einem kurzen Stück entdeckten wir Gandhi, der wie ein Häufchen Elend am Wegrand saß. Unter Jammern und Winseln leckte er Blut von seiner Vorderpfote. Ich versuchte, die blutende Pfote anzuheben, um die Ursache dieser Verletzung zu erkennen, aber Gandhi wehrte das ab, indem er rückwärts in Richtung der Dornensträucher robbte.
„Oje, scheint, als hätte er irgendwas in seine Pfote getreten. Ich glaube nicht, dass der arme Kerl laufen kann. Komm, heb mal mit an, so, vorsichtig, gut. Das sollte dringend ein Tierarzt ansehen. So viel Blut gefällt mir gar nicht, da ist sicher mehr passiert als nur ein Splitter in der Haut.“
Hochwürden hatte die Regie übernommen, was mir mehr als nur recht war. Mir war vor Mitleid ganz schummrig im Kopf. Den Anblick von Blut konnte ich sowieso seit jeher kaum ertragen, ohne einer Ohnmacht nahe zu kommen. Jetzt hielt Baumann Gandhi behutsam auf seinen Armen.
„Los, beeil dich. Lauf voraus und hol deinen Wagen“, kommandierte er nun. „Fahr uns soweit wie möglich entgegen. Der Kleine ist zwar nicht sehr schwer, aber die ganze weite Strecke möchte ich ihn doch nicht schleppen müssen.“
Ich war nachhause gerannt. Als ich mit dem Wagen zurückkam, hatte Baumann mit dem Hund auf den Armen bereits den befahrbaren Teil des Waldweges erreicht. Dass auf dieser Schotterstraße eigentlich nur berechtigte Forstfahrzeuge fahren durften, war mir in dieser Situation wirklich mehr als egal.
Gemeinsam betteten wir Gandhi vorsichtig auf die Rückbank, Baumann nahm neben ihm Platz. Da ich bisher versäumt hatte, eine Hundesicherung für den Wagen zu besorgen, versuchte er, Gandhis Halsband irgendwie mit dem Sicherheitsgurt zu verbinden.
„Du brauchst dringend einen Hundesicherheitsgurt. Sowas gibt’s im Tierbedarfshandel, besorg dir einen, sobald du kannst“, empfahl er. Ich versprach, mich nächste Woche als Erstes darum zu kümmern. Während ich Gas gab, befragte Baumann sein Handy nach der nächstgelegenen diensthabenden Tierarztpraxis. Leider mussten wir bis zur Tierklinik in die Kreisstadt fahren.
Gandhi wurde auf einen Metalltisch im Behandlungsraum platziert. Die Tierärztin sprach beruhigend auf ihn ein, während sie seine Pfote untersuchte.
„Sehen Sie? Hier ist die Verletzung. Es sieht aus, als wäre Ihr Hund in eine größere Glasscherbe getreten. Ich werde ihm jetzt eine leichte Betäubung geben, die Wunde reinigen und mit ein paar Stichen nähen.“
Trotz meines Problems mit Blut blieb ich während der Behandlung bei meinem Hund. Um weichen Knien oder Schlimmerem vorzubeugen, konzentrierte ich meine Gedanken voller Hass auf den gottverdammten Idioten, der so blöd war, Glasscherben im Gebüsch zu entsorgen. Dann war die Pfote versorgt und verbunden. Ich erhielt noch ein paar antibiotische Tabletten, die ich Gandhi während der nächsten Woche täglich eingeben sollte. Gandhi bekam ein trichterförmiges Gebilde um den Hals gelegt, das verhindern sollte, dass er den Verband von der Vorderpfote biss. Das sah nicht sehr bequem aus, aber die Tierärztin beruhigte mich, es sei ja nicht für sehr lang. Ende der kommenden Woche wolle sie sich die Verletzung nochmal ansehen, und wenn er Glück habe, könne sie Gandhi dann schon wieder von seinem Verband befreien und die Fäden entfernen.
„Kaufen Sie Babysöckchen, solche mit Gumminoppen an der Sohle. Die ziehen Sie ihm an, wenn der Verband weg ist, bis die Fußsohle wieder ausreichend widerstandsfähig geworden ist.“
Während der Heimfahrt erwachte Gandhi aus der leichten Betäubung. Er versuchte sofort, den störenden Trichter loszuwerden, aber Baumann redete mit ihm wie mit einem Kind und erklärte, warum das Ding vorerst an seinem Hals zu bleiben habe. Tatsächlich beruhigte sich mein Hund ziemlich schnell, rollte sich zusammen und schlief, bis wir zuhause waren.
Ich bedankte mich herzlich bei Baumann, nachdem wir Gandhi gemeinsam aus dem Auto bugsiert und auf seine vier Pfoten gestellt hatten. Gandhi humpelte, machte aber schon wieder einen recht fitten Eindruck.
„Kommen Sie mit rein? Auf diesen Schreck haben wir einen guten Schluck verdient, was meinen Sie?“
„Ja, sehr gern. Ich glaube, ich habe Sie vorhin die ganze Zeit geduzt. Bitte um Entschuldigung!“
„Ach, das ist schon okay. Wenn Sie wollen, können wir auch gern dabeibleiben. Immerhin haben wir eben gemeinsam ein Hundeleben gerettet.“
„Nun mach´s mal nicht schlimmer, als es war. Ich heiße Leopold, wie du weißt. Lieber ist mir allerdings Leo. Hast du auch eine Abkürzung für deinen Namen, oder darf ich Georg sagen?“
Ich gab zu, dass mein Name von vielen Bekannten zu Schorsch verballhornt wurde, und so war ich auch für Hochwürden fortan der Schorsch.
Mit einer guten Flasche Wein nahmen wir auf der Terrasse Platz. Während wir uns den Wein – es wurden dann übrigens zwei Flaschen - schmecken ließen und Gandhi an seinem großen Tapferkeitsknochen herumnagte, drehte sich unser Gespräch aus gegebenem Anlass um Gandhis Wunde, woraus sich Erzählungen über die eigenen Verletzungen im Lauf des Lebens ergaben. Als Leo spät am Abend nachhause ging, wussten wir zwar gegenseitig ziemlich viel über die jeweiligen Sport- und anderen Unfälle, hatten uns gebrochene Arme und Beine und (meinerseits) eine heftige Gehirnerschütterung geschildert, aber wirklich kennengelernt hatten wir uns noch immer nicht.
„Das war ein netter Abend, vielen Dank. Darf ich die Einladung erwidern, sagen wir Anfang nächster Woche in meinem Garten? Von einem guten Tropfen scheinst du ja was zu verstehen; ich würde gern wissen, wie dir mein Messwein schmeckt. Nun muss ich zusehen, dass ich ins Bett komme. Sonntag ist für uns Pfaffen leider ein Arbeitstag.“
Ich versprach es, und Hochwürden machte sich, für die Menge an verputztem Wein noch relativ sicher auf den Beinen, auf den Heimweg.
3
Den Sonntag verbrachte ich großteils mit Nichtstun. Das hieß, ich frühstückte reichlich, daddelte ein wenig auf dem Laptop, ließ es aber bleiben, als die dritte Runde Solitär wieder nicht aufging. Ich kümmerte mich ausgiebig um Gandhi, der die zusätzlichen Streicheleinheiten sichtlich genoss. An einen längeren Spaziergang war nicht zu denken, mehrere kurze Gassirunden mussten genügen. Ich lag faul auf der Terrasse, bestellte zum Abendbrot beim Lieferdienst aus der Nachbarortschaft eine Pizza, trank dazu eine halbe Flasche Rotwein. Als ich abends vor der Glotze saß und den Tatort ansah, wurde mir klar, dass dies ein zwar relativ angenehmer, jedoch auch ziemlich langweiliger Tag gewesen war.
Montag bestellte ich als Erstes online eine Hundesicherung für das Auto und die von der Tierärztin empfohlenen Babysöckchen. Lieferung übermorgen, das war okay. Ich mähte den Rasen und schnitt, ohne die geringste Ahnung zu haben, ob sie es überleben würden, einige Sträucher zurück. Damit hatte ich wenigstens hinreichend verdient, den Rest des Nachmittags tatenlos im Liegestuhl zu verbringen. Ich las ein paar Kapitel einer Biographie, die ich angefangen hatte, döste dabei ein, und als ich wach wurde, war es schon früher Abend und damit Zeit, mich auf den Weg zu Hochwürden zu machen, Messwein probieren.
Gandhi hatte inzwischen einige Übung darin, mit seinem verletzten Pfötchen zu laufen. Große Schmerzen schien er nicht zu haben. So ließ ich ihn den Weg durch die Siedlung, bis wir zur Hauptstraße kamen, ohne Leine neben mir her trotten.
Ziemlich nahe an der Hauptstraße, dort, wo eigentlich die Siedlung schon zu Ende war und eine Straßenseite von großen Werkshallen eingenommen wurde, während die andere beinahe unbebaut war, stand nur ein einziges Anwesen, das, sooft ich bisher daran vorbeigekommen war, einen unbewohnten Eindruck machte. Nicht zuletzt, weil der Garten außen herum völlig zugewuchert und die Rollläden an den Fenstern stets geschlossen waren. Genau diesen Garten hatte Gandhi als Ausflugsziel auserkoren. So fix konnte ich gar nicht reagieren, wie er überraschend flott unter dem verfallenen Gartenzaun hindurchgeschlüpft war. Nur an den Bewegungen des hochgewachsenen Unkrauts konnte ich erkennen, wo sich der Hund gerade befand, Mir blieb nur zu hoffen, dass er sich nicht noch einmal verletzte und rasch wieder zum Vorschein kommen würde. Denn wenn ihn etwas interessierte, war mein Rufen und Pfeifen häufig vergebens. So auch jetzt.
Viel Interessantes schien er nicht gefunden zu haben, doch als er nach wenigen Minuten wieder unter dem Zaun hervorkroch, blieb sein Plastiktrichter hängen und ich musste ihn befreien. Der Trichter war stark demoliert, erfüllte aber seinen Zweck noch. Ich leinte den Ausreißer an und ging nun zügig Richtung Pfarrhaus. Guten Messwein soll man nicht warten lassen.
„Mein lieber Mann, was hast du denn angestellt?“, begrüßte uns Hochwürden, während er sich bückte und Gandhi hinter dem zerstörten Kunststoffteil das Fell kraulte. Seufzend erzählte ich Leo, was der kleine Schlawiner schon wieder angestellt hatte, und erkundigte mich beiläufig danach, was es mit dem leerstehenden Haus für eine Bewandtnis habe.
“Kommt erst mal rein und macht´s euch gemütlich. Wollen wir im Garten bleiben? Ist doch ein warmer Abend.“
Wir ließen uns auf den gepolsterten Gartenstühlen, die um einen großen, massiven Holztisch unter einem alten Kirschbaum standen, nieder. Gandhi erkundete schnüffelnd das Grundstück, das zum Glück rundum eingezäunt war, wobei an einer Seite statt eines Lattenzauns die Friedhofsmauer die Grenze bildete. So brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, dass er mich schon wieder vor größere oder kleinere Probleme stellte. Er markierte die Friedhofsmauer als sein Eigentum, indem er ausgiebig daran pinkelte, legte sich dann unter den Tisch, gähnte nach Hundeart und schlief umgehend ein.
„So, also jetzt zu Theos Haus“, begann Leo, während er unsere Gläser mit Wein füllte.
„Welches Haus?“
„Theos Haus, so wird es hier genannt. Das leerstehende Gebäude, nach dem du dich erkundigt hast. Ach ja, das ist eine lange, traurige Geschichte. Ich kann sie dir gerne erzählen, wenn du magst. Lissi hat es mir ausdrücklich erlaubt. Sie hat mich sogar darum gebeten, ihre Geschichte aufzuschreiben. Du brauchst also keine Sorge zu haben, ich würde hier das Beichtgeheimnis verletzen oder so.“
„Halt mal, wieso Beichtgeheimnis? Und wer ist Lissi?“ Ich blickte schon jetzt, bevor die Geschichte überhaupt angefangen hatte, nicht mehr durch und hoffte, dass Hochwürden seinen Bericht ab jetzt weniger zusammenhanglos und ein bisschen verständlicher gestalten würde.
„Geduld, Geduld, mein Lieber. Das wirst du alles erfahren. Es wird seine Zeit brauchen, denn ich kann dir natürlich nur erzählen, was ich bisher weiß. Wir sind nämlich gewissermaßen noch mittendrin.“
Schon wieder diese kryptischen Andeutungen! Ich prostete Leo mit dem – übrigens vorzüglichen – Messwein zu.
„Okay, aber mach´s bitte so, dass auch ein pensionierter, möglicherweise schon präseniler Beamter noch mitkommen kann.“
„Ich werde es versuchen“, versprach Leo. Dann lauschte ich seinem Bericht. Dass sich dieser Bericht nach und nach zu einer der traurigsten Geschichten, die ich je gehört hatte, entwickeln würde, ahnten wir beide damals noch nicht.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Iris Bittner).
Der Beitrag wurde von Iris Bittner auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Bäumen begegnen / Mein Freund, der Baum: Baumgedichte
von Jürgen Wagner
Es wächst ein neues Bewusstsein heran, dass Bäume nicht nur Holzlieferanten sind, sondern Lebewesen mit einer Eigenart, einem sozialen Netz und einem inneren Wissen und Fähigkeiten, das wir noch gar nicht kennen. Zusammen mit Bildern und Informationen würdigen die Gedichte die Bäume in ihrer Art und ihrem Wesen und können durchaus eine Brücke der Freundschaft zu ihnen sein.
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