Jochem Dickerboom-Ott

Wattwanderer

 

Wattwanderer

Eine großgewachsene männliche Gestalt blickte über die weite See. Sonnenstrahlen tauchten die sich wiegende Oberfläche in flüssiges Silber. Seichte Wellen rollten unermüdlich den Strand hinauf, deren Wasserzungen an seinen Schuhen leckten. Tief inhalierte er salzhaltige Luft. Als Bub wollte er groß und stark werden wie sein Vater. Der nahm ihn oft mit ins Moor, durfte ihm bei der Arbeit zuschauen. „Torfstechern gehört die Zukunft“, war sein Kredo. „Alle Leute brauchen Torf zum Kochen und Heizen, ein jeder braucht eine warme Mahlzeit und samstags ein heißes Bad.“ Später wurde es auch sein Beruf. Auf dem Heimweg erzählte Vater ihm immer vom Meer, und von einem Fotobuch indem Häuser abgebildet waren, Wasser umsäumt, die man zu Fuß nur bei Ebbe besuchen konnte. Seine Bemühungen, dem Sohn Gezeiten zu erklären, misslangen. „Wir beide fahren eines Tages dort hin“, versprach er, so oft er davon erzählte. Er starb, sein unerfüllter Traum mit ihm. Plötzlich, als er sein Ziel am Horizont erspähte, verfinsterte sich der Himmel. Blitze und ein gewaltiger Donnerschlag ließen ihn erzittern. Das soeben noch friedliche Gewässer türmte sich drohend vor ihm auf. Der aus der Gicht ragende Torfspaten entpuppte sich als Dreizack. Aus einem moosbedeckten Kopf dröhnte eine Stimme: “Wir, Neptun, Beherrscher aller Meere, Seen, Flüsse, Sümpfe und Moräste, wollen von der Landratte nördlicher Halbkugel wissen was sein Begehren sei?“ Der Mann schrie in den Götterlärm hinein: „Ich will einmal im Leben zu Fuß auf die Insel und zurück.“ Die Antwort kam prompt: „Mit allergnädigstem Wohlwollen sei es ihm gestattet. Warte er bis wir abebben, dann hat er freien Zugang über das Watt. Spute er sich, pünktlich in sechs Stunden fluten wir.“ Um ihn herum kreischten Möwen die sich auf Muscheln und Krebse stürzten. Ein armdickes Schiffstau lugte mit zerfranstem Ende, wie ein Malerpinsel, aus dem waschbrettartig verformten Sand. Der Mann sah auf seine Uhr und zog los. Er kam gut voran, folgte den Spuren eines Pferdefuhrwerks das ihn überholte. Am Brunnen des Dorfes löschte er seinen Durst, auf der Treppe desselben ruhte er aus und nickte ein. Verschlafener Zeit hinterdreinlaufend, begann er seinen Rückweg. Die Sonne, wolkenverhangenwar keine Orientierungshilfe. Er musste sich sputen. Warum hatte ihn keiner geweckt? Selbstvorwürfe nagten an ihm. Der Wind schlief ein, Hunger und Durst quälten ihn. Immer schwerer fiel es ihm Schritt zu halten. Wo waren die Wagenspuren vom Hinweg? Hatte er sich verlaufen, weil er einem Priel ausweichen musste? Angstschauer durchflossen seinen Körper. Müdigkeit lähmte seine Beine. Kurz verschnaufen, sagte eine innere Stimme, nur einen Moment ausruhen. Das Rauschen hinter seinem Rücken vernahm er erst, als seine Schuhe im Schlick versanken. Die auflaufende Flut verhinderte ein Weitergehen. Es wurde dunkel um ihn. Sein Stoßgebet an Neptun brachte keine Hilfe.

Schlagzeile des Inselboten: Erneut hat es ein Wattwanderer nicht geschafft!

 

JoDboom

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