Ralf Deutschmann

Zeit...Reise

Zeit ... Reise ©



von

R. Deutschmann

alias

K.C.


© K.C., 2000 / 2001

Zeit ... Reise

Sie war den ganzen Tag durch den Wald gelaufen. Wollte verdrängen, vergessen, verarbeiten, neu ordnen, sich klar werden über diese Verbindung, die eigentlich schon lange nur noch ein Nebeneinander denn ein Miteinander war. Wo waren die vergangenen Jahre geblieben? Es kam ihr vor, als sei sie mit angezogener Handbremse durchs Leben gegangen - wie durch eine galertartige Masse, die alles wie in Zeitlupe erscheinen ließ. Ihre Zukunft schien sich hinter einem Schild mit der Aufschrift "temporär geschlossen" zu verstecken. Sie glaubte dies begriffen zu haben und wollte das jetzt ändern. Wollte wieder leben, frei sein, selbst entscheiden, sich neu verlieben und das Tor zu ihrer Zukunft wieder öffnen.

Sie war den ganzen Tag durch den Wald gelaufen. Es war ein wundervoller Sommertag - warm und hell. Ein erfrischender Wind strich durch die Baumwipfel. Tausend Stimmen schienen in der Luft zu schwirren und den Tag zu besingen. Aber noch immer lastete der Streit des vergangenen Tages auf ihr, war nicht so einfach abzuschütteln. Angst und Ungewißheit vor dem wie sich alles entwickeln würde beherrschten ihr Gefühl und ihre Gedanken.

Sie war den ganzen Tag durch den Wald gelaufen. Nun trat sie auf diese Lichtung, breitete die Arme aus und atmete durch. Sie sog die Luft des Waldes ein und vieles schien mit einem Mal von ihr abzufallen. Ihre schweren Gedanken schienen sich in den Bäumen zu verfangen und hier auf der Lichtung war sie nun davon befreit. Es kam so plötzlich, daß sie erstaunt, verwundert und glücklich zugleich war. Der Rest aller Gedanken verschwand augenblicklich, als sie ihren Blick endlich von dem Blau des Himmels löste, ihn über die Lichtung streichen ließ und er wie gefesselt auf dieser Tür haften blieb, die da mitten im Wald, inmitten dieser Lichtung, einfach so dastand.

Es war zweifellos eine ganz normale Tür. Langsam, unsicher und vorsichtig hatte sie sich ihr genähert. Sie war von hellem Holz mit unregelmäßiger, nahezu unbearbeiteter Oberfläche. Und sie stand völlig allein. Nur der Rahmen schien sie aufrecht zu halten. Behutsam ging sie um die Tür herum und stellte erstaunt fest, daß sie von beiden Seiten fast identisch aussah. Das Merkwürdige war nur, daß der Türgriff aus schwerem, geschwungenem Messing auf beiden Seiten der Tür auf der linken Seite angebracht war. Sie fragte sich, ob man diese Tür wohl öffnen konnte und wie es wohl sein konnte, daß sie von beiden Seiten nach rechts schwingen mußte.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich getraute die Tür auch nur zu berühren. Als sie es tat, fühlte sie nur das trockene, unregelmäßige Holz. Und doch war ihr, als würde sich die Luft um sie herum zugleich verändern, würde schwerer und zäher werden und gleichzeitig von einem feinen, fast unmerklichen Vibrieren durchzogen werden. Abrupt zog sie ihre Hand wieder zurück und sogleich fühlte sie, wie der Wald und die Lichtung und die Luft und dieser ganze, warme Sommertag wieder genauso normal waren, wie auch zuvor. Vermutlich hatte sie sich diese Veränderung der Luft nur eingebildet.

Je länger sie vor dieser Tür stand, desto unwichtiger wurde die Umgebung. Die Geräusche des Waldes erreichten ihre Ohren nicht mehr. Es gab nur noch diese Tür und sie selbst. Sie faßte den Entschluß, es zu wagen, diese Tür zu öffnen, wenngleich sie natürlich nur erwartete, daß sie damit lediglich einen freien Blick durch den Türrahmen bekommen würde. Langsam streckte sie ihre Hand aus und berührte den Türknauf. Wieder schien sich die Luft in eine schwingende, galertartige Masse zu verwandeln. Ihr Atem ging schwer. Doch diesmal zog sie die Hand nicht wieder zurück, sondern drückte bedächtig den Griff hinunter und zog die Tür, die nur ein leises knurren von sich gab, langsam auf. Sie hatte die Tür erst einen Spalt geöffnet, da strömte ihr ein kühler Luftzug entgegen, der sie frösteln ließ. Und als sie die Tür ganz geöffnet hatte, da weiteten sich ihre Augen in einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen, Furcht und Neugier und ungläubiger Faszination. Denn sie blickte nicht etwa durch den Türrahmen hindurch geradewegs auf das andere Ende der Lichtung, sondern in einen schier endlosen, dunklen Gang, der offenbar abschüssig war und sich in der Ferne verlor. Der Boden war sandig, machte jedoch einen festen Eindruck und die Wände des Ganges bestanden aus grob behauenen, aufeinander geschichteten Steinblöcken, die sich nach oben hin zueinander neigten und ein ovales Gewölbe formten. Sie schienen feucht und bemoost zu sein. Sicher alt und lange nicht berührt. Sie verstand nichts und schloß die Tür fast wie in Trance wieder zu, endlose Augenblicke jeglicher Regung unfähig.

Nach einigen Minuten schüttelte sie diese Lähmung ab und atmete tief durch. Was hatte sie gesehen? Was war geschehen? Sie verstand es einfach nicht. Sie ging auf die andere Seite der Tür, die nach wie vor nur eine Tür war und der gegenüber liegenden Seite bis aufs Haar glich. Diesmal öffnete sie die Tür von dieser Seite und wieder wurde die Luft schwer und vibrierte fast unmerklich und wieder strömte ihr dieser kühle Luftzug entgegen, als sie die Tür einen Spalt geöffnet hatte. Sie war jetzt bereits darauf gefaßt und doch bebte ihr Körper vor ungläubigem Staunen, als sie die Tür ganz öffnete und wieder in diesen dunklen, schier endlosen Gang starrte. Und doch war etwas anders. Sie benötigte einige Augenblicke, um es zu erfassen, doch dann bemerkte sie, daß der Gang von dieser Seite der Tür offenbar ansteigend war. Sonst war der Boden des Ganges genauso wie der andere aus fester Erde mit einer feinen Sandschicht bedeckt und das Gewölbe aus Steinblöcken geformt. Sie schloß die Tür wieder und versuchte sich zu konzentrieren. War das alles nur ein Traum? Es entzog sich ihrem Verständnis. Sie ging ein paar Schritte durch das Gras der Lichtung und überlegte, ob man wohl in diesen Gang hineingehen konnte. Aber nein. Es mußte sich um eine Sinnestäuschung handeln. Vermutlich würde sie einfach auf die andere Seite der Tür treten, wenn sie versuchen würde in den Gang hinein zu gehen. Sie beschloß es zu versuchen. Doch welchen Gang sollte sie nehmen? Würde es einen Unterschied machen, wenn sie den aufsteigenden oder den abfallenden Gang nehmen würde? Sie entschied sich spontan für den abschüssigen und ging mutigen Schrittes auf die Seite der Tür, von der aus sie zuerst die Klinke berührt hatte. Die Veränderung der Umgebung nahm sie jetzt kaum noch wahr, als sie die Tür ein drittes Mal öffnete und tatsächlich fand sie denselben abschüssigen Gang vor, wie beim ersten Mal. Langsam setzte sie einen Fuß auf den Boden des Ganges. Der Sand knirschte unter ihren Schuhen. Zu ihrem Erstaunen löste sich der Gang nicht auf und sie stand nicht auf der anderen Seite der Tür, sondern sie konnte tatsächlich hineingehen, Schritt um Schritt, Meter für Meter.

Die Luft war kühl und feucht. Nach einigen Schritten konnte sie kaum noch die steinerne Wand erkennen, als würde das Licht des Tages schnell verschluckt. Dann fühlte sie mehr als sie hörte, das leise knarren der Tür und als sie mit einem Klicken ins Schloß viel, packte sie fast die Panik denn sie stand nun inmitten dieses unwirklichen Gewölbes in stockdunkler Nacht und wußte plötzlich nicht mehr in welche Richtung sie sich eigentlich bewegen konnte. Nach einigen Augenblicken hatte sie sich an das Dunkel gewöhnt und bemerkte, daß es nicht vollkommen finster um sie herum war. Der Gang schien von einem diffusen, grauen Licht durchströmt zu werden, das ihr die Möglichkeit verschaffte, sich wieder zu orientieren. Sie blickte sich um und erkannte einige Meter hinter sich die Tür, durch deren Schlüsselloch Licht von außen drang. Vor ihr ging der Gang immer weiter geradeaus ohne sein Ende zu offenbaren und zog sie geradezu magisch an und schien ihr zu sagen, sie solle ihm folgen.

Und sie folgte ihm. Zuerst unsicheren Schrittes, zögernd, jederzeit ein Hinderniß erwartend. Aber der Weg war gerade und führte gleichmäßig in die Tiefe. Von Zeit zu Zeit berührte sie mit den Händen die Wände, gleichsam ein Gefühl des Alleinseins wegwischend. Die Groben Steine waren glatt und ein wenig feucht von der kühlen Luft. Sie ging weiter und weiter, tiefer und tiefer und konnte lange Zeit kein Ende des Weges entdecken. Einige Male erwog sie umzukehren, doch sie spürte eine unbändige Neugier in sich und fühlte, daß dieser Gang sie womöglich weiter bringen konnte, als sie es sich auch nur vorstellen konnte. Hinter ihr wartete nur die Vergangenheit und ein Leben, von dem sie nicht wußte, ob es eine Zukunft hatte.

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon gegangen war. Es mochten Stunden vergangen sein, da schien der Weg auf einen diffusen, gelb-grauen Fleck zuzulaufen. Noch einige Zeit war sie dorthin unterwegs und doch wurde der zunächst kleine Fleck unendlich langsam größer. Vielleicht würde sie dort auf das Ende des Ganges stoßen. Als sie endlich näher kam erkannte sie, daß sich der Gang hier weitete und in einen großen Hohlraum aufging, einem Gewölbe ähnlich, groß wie eine Kathedrale. Sie konnte die Wände des Raumes kaum erahnen und sie schienen sich in irgendeiner Art und Weise, die ihr unverständlich war, zu bewegen. Die Luft war erfüllt von einem gleichmäßigen, leisen schwirren, dem gedämpften Zirpen Myriaden von Grillen nicht unähnlich. Bald hatten sich ihre Augen an das diffuse, gelbliche Licht, das den Raum erfüllte, gewöhnt und sie entdeckte auch die Lichtquelle, von der es ausging. Inmitten des Raumes konnte sie ein kleines, tief loderndes Feuer entdecken und bald darauf erkannte sie auch den Mann, der reglos hinter der Feuerstelle saß.

Behutsam durchschritt sie den Raum und näherte sich so dem Mann, der sie jedoch nicht zu bemerken schien oder zumindest keinerlei Notiz von ihr nehmen wollte. Als sie nur noch wenige Schritte von dem Mann - der schon sehr alt sein mußte, denn seine Haut trug tiefe Furchen und er hatte einen langen, grauen Bart - entfernt war, wollte sie ihn schon fast ansprechen. Er hob nun jedoch seinen Blick, sah sie freundlich aber bestimmt an und sein Blick ließ sie stumm bleiben. Sie hielt inne. Er aber sagte mit einer alten aber mächtigen Stimme: "Komm näher. Setz Dich."

Erst jetzt bemerkte sie, daß er auf einer braun gefärbten, karierten Decke saß und vor dem Feuer eine ebensolche lag, auf der Platz zu nehmen er sie mit einer einladenden Geste aufforderte. Sie ging näher und setzte sich. Nunmehr kehrte ihr Mut langsam wieder zurück und sie fragte ihn nur mit leiser, leicht zitternder Stimm: "Wer sind Sie?"
Einige Augenblicke schaute er ihr noch ruhig in die Augen und fast hätte sie schon bereut überhaupt gesprochen zu haben, als er ihr endlich mit seiner alten, freundlichen doch starken Stimme antwortete: "Ich bin der Wächter ... der Zeit."
Es verwirrte sie und sie fragte sich, ob sie es richtig verstanden hatte. Seine Stimme war ruhig, sanft, freundlich und doch fest, sicher und mächtig. Und dennoch zweifelte sie ernsthaft, ob dieser Mensch bei Verstand sein konnte. Was machte er nur hier unten? Wo war sie überhaupt? Und war er überhaupt ein Mensch? Alles wirkte so unwirklich. Vielleicht war das alles doch nur ein Traum und sie würde jeden Augenblick erwachen. Und doch ahnte sie, daß es kein Traum war. Die Luft war kühl und das Feuer spendete Wärme. Sie fühlte die Decke und den Boden darunter, hörte seine Stimme und das Schwirren in der Luft. Es war alles surreal und doch real.
"Wächter? Der Zeit? Aber ... ich verstehe das alles nicht."
Er begann zu lächeln und seine Augen versprachen eine unendliche Freundlichkeit. "Ich weiß", meinte nur. Dann stand er mühsam auf. "Komm", sagte er einfach, ergriff einen brennenden Holzscheit um ihn als Fackel zu gebrauchen, drehte sich um und entfernte sich. Fast hätte sie ihn einfach gehen lassen, doch bevor er außer Sichtweite geraten konnte, sprang sie auf und folgte ihm schnellen Schrittes. Schon bald viel das Licht seiner Fackel auf die Wände der Höhle, deren Höhe sie nicht abzuschätzen vermochte und es wurde immer deutlicher, daß diese Wände tatsächlich ständig in Bewegung waren, gerade so als seien sie selbst lebendig. Aber erst als sie schon sehr Nahe waren erkannte sie, daß die Wände tausende und abertausende kleine Nischen besaßen, in denen kleine Räder standen, die sich drehten. Und als sie schon fast die Wand erreicht hatten, da sah sie, daß in den kleinen Rädern, sich winzige Lebewesen bewegten und die Räder drehten. Lebwesen, die wie Mäuse aussahen, die aber doch ganz anders und vor allem viel kleiner waren. Fasziniert blickte sie von einem Laufrad zum anderen und wußte nun, woher das Schwirren in der Luft kam. Es war das Laufgeräusch der vielen kleinen Räder.

"Was um alles in der Welt ist das?", fragte sie den alten Mann. "Solche Tiere habe ich noch nie gesehen." Er schwang seine Fackel von der einen Seite auf die andere und bedeutete damit wohl das Ganze. "Das ist der Lauf der Zeit. Und ich achte darauf, daß sie nicht zu schnell oder zu langsam vergeht." Sie sah ihn voll des ungläubigen Staunens an und bevor sie noch irgendetwas entgegnen konnte, zeigte er auf eines der Laufräder. "Das ist Deine ... Zeit."
"Meine? Zeit?" Sie ging näher und besah sich das Laufrad, auf das der Mann gedeutet hatte etwas genauer. Darin lief eine winzige Maus, die doch keine war, denn sie hatte rötliches Fell und tiefblaue Augen und spontan dachte sie, daß auch sie selbst rötliches Haar und tiefblaue Augen hatte. Ganz wie diese Maus. Aber diese Maus lief sehr langsam. Fast wie in Zeitlupe. Und sie sah müde aus. "Hat sie einen Namen?", fragte sie. "Manuela", antwortete der Wächter. Manuela. Dieser Name klang seltsam vertraut in ihr nach. Hieß sie am Ende selbst so? Erstaunt stellte sie fest, daß sie sich nicht genau an ihren eigenen Namen erinnern konnte. Es verwirrte sie einen Augenblick und doch hatte sie es gleich darauf schon wieder vergessen. "Darf ich sie herausnehmen?", fragte sie. "Nein - lieber nicht - sie könnte verloren gehen." Das sah sie ein. "Aber sie sieht so müde aus. Ist sie krank?" Der Mann lächelte mühsam. "Sie läuft schon eine ganze Weile etwas langsamer. Manchmal fürchtete ich schon, sie würde vielleicht ganz stehen bleiben. Vielleicht solltest Du ihr ein wenig auf die Sprünge helfen."

So ganz verstand sie nicht, wie er es wohl meinen könnte, aber sein vielsagender Blick bedeutete ihr, daß sie wohl selbst darauf kommen mußte. Sie ging noch etwas näher zu diesem seltsamen Laufrad mit dieser seltsam müden Maus die doch keine war, die ihre Haar- und Augenfarbe besaß und auf ihren Namen hörte und überlegte, wie sie ihr wohl auf die Sprünge helfen konnte. Vielleicht würde es genügen, wenn sie einfach das Laufrad ein wenig mehr in Schwung versetzte. Sie streckte vorsichtig die Hand aus, berührte nur ganz leicht und flüchtig dieses Laufrad und gab ihm so einen neuen Schwung. Das kleine Lebewesen darin machte einige lustige Hüpfer, kam fast ins Stolpern und drohte sich für einen Moment zu überschlagen. Dann nahm es den neuen Rhythmus an und lief nun fast beschwingt mühelos in einem offensichtlich angenehmeren Tempo weiter und drehte dabei das Laufrad ohne Unterlaß.

"Na bitte," bemerkte der alte Mann, "was so eine kleine Ursache doch für eine bedeutsame Wirkung haben kann." Und er lächelte dabei. Sie überlegte noch, wie er das wohl gemeint haben konnte, wurde jedoch bald von dem gleichmäßigen Surren des Laufrades abgelenkt und freute sich, daß sie dem kleinen Lebewesen so einfach hatte auf die Sprünge helfen können. Nach einiger Zeit drehte sich der alte Mann wortlos um und ging bedächtigen Schrittes zurück zu dem kleinen Feuer, daß noch immer inmitten dieser großen Höhle vor sich hin loderte. Sie folgte ihm. Am Feuer angelangt, setzte er sich bedächtig auf seine Decke und schien in dieselbe Erstarrung zurückzufallen, in der sie ihn angetroffen hatte. Noch einmal blickte er zu ihr auf. "Du mußt nun gehen." meinte er. Irgendwo in ihrem Innern begriff sie, daß sie ihre Mission hier erfüllt hatte. Schon wollte sie sich wenden um den gleichen Weg zurück zu gehen, den sie gekommen war. "Nicht dort entlang," sagte der Wächter. "Von dort bist Du gekommen. Dort ist die Vergangenheit. Du mußt nach vorne gehen. Dort ist die Zukunft." Und er wies mit der Fackel, die er noch immer in der Hand hielt, auf eine dunkle Öffnung in der gegenüberliegenden Wand , die zu der Fortsetzung des Ganges gehören und führen mochte, den sie gekommen war. Noch etwas verwirrt und unfähig zu sprechen, ging sie auf diesen Ausgang zu. Kurz bevor sie die Höhle verließ, drehte sie sich noch einmal kurz zu dem alten Mann um und sagte nur: "Danke ...". Er aber antwortete ihr ohne sich zu ihr zu wenden: "Wofür? Ich habe nichts getan. Es liegt alles in Dir selbst." Sie begriff, daß er wohl nicht mehr offenbaren würde und ging in den dunklen Gang hinein, der sie immer weiter in die Tiefe führte.

Sie war lange durch diesen Gang gelaufen und ihre Gedanken drehten sich unentwegt um diesen alten Mann und diese seltsamen Lebewesen, die in Laufrädern ohne Unterlaß unterwegs waren. Hatte er tatsächlich gesagt, er sei der Wächter der Zeit? War sie überhaupt dort gewesen? War er überhaupt dort gewesen? Mit jeder Stunde, die sie den Gang hinabging wurden ihr die Erlebnisse unwirklicher und unwirklicher. Bald sehnte sie sich nach dem Ende des Ganges, wollte nur noch ans Tageslicht, zurück in die Realität, die sie fassen und erfassen konnte und in der sie endlich die Dinge wieder so begreifbar vorfinden konnte, daß sie nicht mehr rätseln mußte ob sie nun träumte oder wachte.

Sie war lange durch diesen Gang gelaufen und fürchtete schon niemals an das Ende des Ganges zu gelangen, da meinte sie in der Ferne einen winzigen Lichtstrahl zu entdecken. Fast wollte sie schon beginnen zu laufen aber sie ahnte, daß der Weg noch weit war und wollte nicht in Panik geraten und einer körperlichen Erschöpfung erliegen. Der winzige Lichtfleck kam unendlich langsam näher und wurde doch kaum größer. Endlich erkannte sie aus der Ferne das Ende des Ganges, das offenbar von einer Tür verschlossen wurde. Und als sie näher kam bemerkte sie, daß sie jener Tür ganz ähnlich war, durch die sie vor scheinbar ewiger Zeit gegangen war und die sie in diesen Gang in die Tiefe geführt hatte. Und obwohl sie die ganze Zeit hinabgegangen war, war es ihr, als käme sie von einem erhöhten Punkt und der Gang würde sie hinab zu jener Tür führen, die sie zu ebener Erde wähnte. Sie erreichte diese Tür, durch deren Schlüsselloch einige grelle Strahlen von Sonnenlicht in den dunklen Gang drangen. Mit unendlicher Erleichterung aber auch Spannung ging sie die letzten Schritte, umfaßte mit zitternder Hand den Türgriff, drückte ihn hinunter und öffnete die Tür.

Sie war lange durch diesen Gang gelaufen und nun strömte ihr das Licht der Sonne entgegen und ließ ihr Herz Freudensprünge machen. Sie atmete die kühle, frische Luft ein, breitete die Arme aus und fühlte sich so frei, wie noch nie in ihrem Leben. Schon wollte sie auf der Wiese zu tanzen beginnen, da wurde ihr bewußt, daß die Lichtung, die eben noch eine bunte Sommerwiese gewesen war, von einer dichten, weißen Schneedecke bedeckt war. Auch auf den Bäumen lag Schnee. Es war kalt und überall glitzerten die Schneekristalle und funkelten im Sonnenlicht. Überrascht und jetzt doch ein wenig in Panik geratend lief sie über die schneebedeckte Lichtung bis zum Rand des Waldes. Dort wähnte sie sich in Sicherheit und blieb atemlos stehen. Sie drehte sich um und ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. Dort wo die Tür hätte stehen müssen, war nun nichts mehr und ihre Spuren im Schnee verloren sich im Nichts. Und obwohl sie nichts verstand, so ahnte sie doch, daß sie nun auf dem richtigen Weg war. Die Ereignisse der letzten Stunden - oder waren es Tage oder Monate - erschienen ihr diffus wie ein schon fast in Vergessenheit geratener Traum. Sie mußte lächeln und obwohl die Luft schneidend kalt war fror sie doch nicht sondern fühlte ein warmes Herz in sich schlagen. Und endlich wußte sie, daß sie eine Zukunft hatte. Eine Zukunft, die sie selbst bestimmen und beeinflussen konnte. Und sie freute sich darauf. Sie würde fortan intensiver und bewußter leben, auch wenn die Zeit vielleicht etwas schneller laufen würde. Das zumindest hatte sie verstanden: kleine Ursachen haben oft bedeutende Wirkungen - und: sie hatte ihr Leben selbst in der Hand.

Die Geschichte "Zeit...Reise" ist entstanden zu einer Zeit, als ich mich immer intensiver mit dem Gedanken bafaßte, mich nach 20 Jahren Beziehung von meiner Lebensgefährtin zu trennen. Es war eine schwierige Zeit. Da ich zudem beruflich ebenfalls enorm unter Druck stand, hatte ich den Eindruck, als sei meine Zukunft temporär geschlossen. Diese Gefühle habe ich versucht in dieser Geschichte zu verarbeiten. Der positive Schluß machte mir selbst deutlich, daß ich die Geschehnisse meines realen Lebens selbst in der Hand hatte. Und ich habe gehandelt ...Ralf Deutschmann, Anmerkung zur Geschichte

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ralf Deutschmann).
Der Beitrag wurde von Ralf Deutschmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ralf Deutschmann als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sex für Aktionäre von Klaus-D. Heid



Na? Wie stehen die Aktien? Sind Aktionäre die besseren Liebhaber? Wie leben Aktionäre mit der Furcht vorm Crash im Bett? Diese und andere Fragen beantworten Klaus-D. Heid und der Cartoonist Karsten Schley.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Surrealismus" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ralf Deutschmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die Brunnen von Zardino - Eine Erzählung von Ralf Deutschmann (Historie)
String „Z” – ein Königreich für ein Multiuniversum ! von Egbert Schmitt (Surrealismus)
Pilgertour XII. von Rüdiger Nazar (Abenteuer)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen