Wolfgang Hoor

Mein Kriegslied

 

Mein Kriegslied

Matthias Claudius Kriegslied

s ist Krieg! ′ s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

′ s ist leider Krieg - und ich begehre

Nicht schuld daran zu sein!

 

Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen

Und blutig, bleich und blass

Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,

Und vor mir weinten, was?

 

Hans war alt geworden. Er rettete keine Kartoffelkäfer mehr, erprobte auch keine physikalischen Gesetze beim Schwingen einer Milchkanne und fand, zurückblickend, dass er gut durch bewegte Zeiten gekommen sei. Wenn ihm ein Gespräch zu negativ wurde, erinnerte er an die 77 Jahre Frieden, die sie in Deutschland gehabt hatten, und auch für zu positiv gestimmte Menschen hatte er ein Thema. Denen hielt er vor Augen, wie viele Menschen in Deutschland auf eine Tafel angewiesen sind, weil sie hungerten-

Dann kam ihm ein Krieg zu nahe. Der Krieg der russischen Armee gegen die Ukraine betraf auch eine junge Ukainerin aus Kiew, die er als Freundin seiner Enkelin kennen gelernt hatte. Sie hatte ihm erklärt, dass seine zwei Brocken Russisch, die er in seiner Schulzeit aufgeschnappt hatte, verstehbar waren. Leider war die junge Frau inzwischen nicht mehr über WhatsApp erreichbar. War sie geflohen oder den russischen Soldaten in die Hände gefallen? Das hätte ihn gewiss tief getroffen, aber er wusste es ja nicht, und so kam er immer noch ziemlich gut durch die bewegten Zeiten.

Manchmal gab es im Fernsehen Rückblicksendungen auf Jahre, die er erlebt hatte, also beispielsweise seit1955. Da wunderte er sich, wie viele Kriege es in dieser Zeit gegeben hatte und wie vollständig er sie vergessen hatte. Während er sich Gedanken gemacht hatte, ob und wie seine Frau und er ihr Reihenhaus abbezahlen könnten, tobte der Vietnamkrieg. Von dem wusste er noch, dass er auf der Seite der Opfer gestanden hatte. Das beruhigte ihn.

In seinen Schlaf waren die Kriege nicht eingezogen und auch nicht der Weltkrieg, den er noch als kleines Kind erlebt hatte. Was er von seinen Eltern und Geschwistern davon gehört hatte, war schwarz und schrecklich und doch auch wieder rührend, denn seine ganze Familie überlebte.

Aber eines Tages fiel Hans ein altes Tagebuch in die Hände. In dem war sein Vater nicht mehr allwissend und er hatte offensichtlich auch in der Schule nicht richtig aufgepasst, denn er behauptete Dinge, die Hans ganz anders lernte, und darüber gab es fürchterlichen Streit. Und so wurden aus Streitgesprächen Alpträume. Der Weg zum anderen war plötzlich vermint.

Im gleichen Tagebuch hatte Hans niedergeschrieben, wie ein Krieg ihn und seinen Vater wieder versöhnt hatte. Im November 1956 fiel die Sowjetarmee in Ungarn ein und zerstörte das junge Pflänzchen der Demokratie. Brutal standen Panzer unbewaffnete Menschen gegenüber und die Panzer schonten niemanden. Die Armee verwüstete das Land und die Sowjetunion drohte der Nato mit Atomwaffen. Das alles erlebten Hans und sein Vater gemeinsam vor dem Radio und beiden wurden die Augen feucht. Der Krieg hatte sie zusammengeführt und aller Streit war vergessen. Im Tagebuch war es festgehalten.

Nach diesen Entdeckungen in seinem Tagebuch schlief Hans gerührt und getröstet ein. Und da führte ihn ein Traum zum ersten Mal in seinem Leben in einen russischen Schützengraben. Sein Schwager hatte ihm davon erzählt. Da hatte er ein Gewehr und an der Seite eine Stahlklinge. Da hörte man Rufen und Schreien und eine Angst sprang ihn an, wie er nie eine erlebt hatte. Er befestigt die Stahlklinge, die man Bajonett nennt, an der Spitze des Gewehrs. Ein russischer Soldat läuft auf ihn zu, Hans schlägt mit dem Bajonett wie mit einer Axt auf ihn ein, der Kopf springt ab, das Bajonett zerreißt den Eindringling, der Blutstrahl überschüttet Hans.

Lassen wir unseren alt gewordenen Hans aufwachen. Lassen wir ihn nach seinem Herz fühlen, geben wir ihm noch einmal die Tränen, die er mit seinem Vater geweint hat, aber diesmal nicht die Tränen über den ungerecht geführten Krieg, sondern Tränen über die Geister der Erschlagenen, die keine Ruhe gefunden haben und keine Ruhe finden werden.

Ja doch, unser Hans ist gut durch bewegte Zeiten gekommen. Hoffen wir, dass er den Mensch, den er im Traum erschlagen hat, nie vergisst.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.05.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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