Heinz-Walter Hoetter

Vier Kurzgeschichten zur Auswahl

1. Amroon, der Teleporter

2. Der unsichtbare Killer

3. Der Wurm der Träume

4. Der Untergrundkämpfer


 

***


 

1. Amroon, der Teleporter


 

Es regnete schon eine ganze Weile leicht vor sich hin. Außerdem war es hier draußen ungemütlich kalt.

 

Ich stand auf einem weiten Platz aus verdreckten, quadratisch geformten Steinplatten, von denen die meisten zerbrochen waren. Zwischen den breiten Fugen, den zahllosen Rissen und Ritzen spross dichtes Unkraut und eine buschige Grasart, die fast überall wucherte. Hier und da huschten im Schutze der dunklen Gemäuer irgendwelche scheuen Tiere vorbei, von denen manche aussahen wie katzengroße Ratten. Kein angenehmer Ort, dachte ich so für mich.

 

Ich schob meine blaue Umhängetasche nach hinten auf den Rücken und blickte hinüber zu einigen verfallenen Häusern, die den Rand des düster daliegenden Platzes säumten. In einem total verwilderten Gartengrundstück stand eine leere Hundehütte mit eingestürztem Dach. Gleich daneben befand sich eine gusseiserne Badewanne, die randvoll mit Regenwasser gefüllt war. Alles wirkte verlassen, auch die Tankstelle, die gleich am Eingang des kleinen Dorfes stand. Ihre Glasscheiben waren zerbrochen und die vergammelten Türen standen offen. Manchmal, wenn der Wind das lose Türblatt hin und her bewegte, knarrten die alten Scharniere und man hatte den komischen Eindruck, als stöhnten sie vor sich hin.

 

Scheinbar lebten hier schon seit Jahrzehnten keine Menschen mehr. Sie hatten aus irgendwelchen Gründen heraus alles aufgegeben oder vielleicht sogar aufgeben müssen. Wer wusste das schon.

 

Tja“, sagte mit einigem Bedauern hinter mir eine harte, metallisch klingende Stimme, die von Dsheezad, dem Cyborg stammte, der schon seit vielen Jahren mein bester Freund war, „ich nehme einmal an, dass es keineswegs so einfach werden wird, wie wir dachten. Du wirst nicht allzu lange ohne ausreichende Nahrung überleben können, Amroon. Die Gegend hier ist anscheinend in weitem Umkreis völlig unbewohnt und menschenleer. Leider konnte ich dir wegen der letzten Vorkommnisse nur eine ungenaue Notkoordinate übermitteln. Ich weiß im Augenblick selbst nicht, wo wir sind. Ich weiß nur, dass wir uns immer noch im Scannerbereich unserer Verfolger befinden. Meine Sensoren zeigen das genau an. Das Suchsignal ist allerdings sehr schwach. Damit sie uns nicht so schnell lokalisieren können, habe ich uns beide mit einer starken Störwelle abgeschirmt.“

 

Ich sah zu Dsheezad hinüber, nickte mit dem Kopf und dachte darüber nach, wie viel Zeit wir wohl durch unseren gemeinsamen Teleportersprung gewonnen hatten. Vielleicht ein bis zwei Tage, hoffte ich. Aber das müsste eigentlich ausreichen, um mich wieder gut erholen zu können.

 

Dann griff ich mir mit beiden Händen an den Kopf und rieb mir die Stirn in der Nähe der Schläfen. Mein Hirn wurde von heftigen Kopfschmerzen geplagt, weil ich meine Teleporterkräfte in letzter Zeit wegen der sich überstürzenden Ereignisse zu oft und ohne ausreichende Erholungsphasen in Anspruch nehmen musste. Je länger nämlich die zusammen hängenden Ruhephasen andauerten, desto weiter konnte ich teleportieren. Die Sprungweite durch Raum und Zeit war dabei dann nach oben hin offen.

 

Ich glaube, dass der letzte Teleportersprung bei mir zu einer Überlastung meines gesamten Nervensystems geführt hat. Bis ich meine Kräfte wieder voll einsetzen kann, dauert es wohl noch eine Weile. Bis dahin werde ich bestimmt schon ganz durchnässt sein und an Unterkühlung sterben. Sei bloß froh, dass du ein Cyborg bist und diese Probleme nicht kennst, mit denen wir Menschen uns herumschlagen müssen. Deine implantierten Energiezellen werden dich noch sehr lange am Leben erhalten.“

 

Dsheezad schüttelte plötzlich mit dem Kopf.

 

Du wirst nicht sterben, Amroon! Jedenfalls nicht, solange ich bei dir bin. Ich werde für dich schon einen geeigneten Unterschlupf finden, damit ich dich in Sicherheit bringen kann.“

 

Der Cyborg drückte auf eine bestimme Stelle seines Unterarmes und im gleichen Moment schaltete sich das helle Licht seiner integrierten Stablampe ein. Er ließ den kreisrunden Lichtkegel durch den anhaltenden Regen wandern.

 

Wir werden uns jetzt mal zusammen die nähere Umgebung anschauen. Vielleicht finden wir irgendwo ein trockenes Plätzchen“, sagte Dsheezad und ließ den zitternden Scheinwerferkegel an einer schmutzigen Häuserwand zur Ruhe kommen.

 

Ich folgte mit meinen Augen dem Strahl des gebündelten Lichts und sah, was er meinte: Eine kleine Häuserreihe etwas weiter rechts von uns, deren Fenster allesamt mit robusten, hölzernen Läden von innen verriegelt waren. Ohne geeignetes Werkzeug würden wir da wohl bestimmt nicht reinkommen, so alt und verfallen die Gebäude auch aussahen, dachte ich skeptisch. Oben, auf den schrägen Flachdächern, wucherte ein dichter Moosteppich. Irgendwelche Einstiegsmöglichkeiten gab es auch dort nicht. Jedenfalls konnte ich keine erkennen.

 

Es regnete jetzt in Strömen.

 

Ich fluchte und trottete dem breitschultrigen Cyborg widerstrebend hinterher, als dieser ohne ein Wort zu sagen zielstrebig an mir vorbei ging und schließlich vor einer wuchtig aussehenden Haustüre stehen blieb. Dann ging er ein wenig in die Hocke und betrachtete das klobige Schloss.

 

Sieht aus wie ein Zylinderschloss“, stellte er fachmännisch fest. „Tja, und es ist zudem noch sehr massiv. Die Bewohner hatten wohl Angst vor Eindringlingen, wie man sieht.“

 

Ich musste jetzt doch ein wenig grinsen, obwohl mir auf Grund der Umstände gar nicht danach zumute war.

 

Sie werden dafür schon ihre Gründe gehabt haben“, sagte ich lakonisch und betrachtete nun ebenfalls das schwere Türschloss.

 

Dsheezad richtete sich wieder auf.

 

Vielleicht finden wir irgendwo einen Schlüssel“, murmelte er halblaut vor sich hin und leuchtete mit seiner Stablampe den völlig verschmutzten Türrahmen von oben bis unten ab. Dann hob er vorsichtig die recht gut erhaltene Kunststoffmatte aus dem stabilen Metallrahmen und spähte darunter. Zuletzt kippte er die rechts und links neben dem Hauseingang stehenden Blumenschalen um, aus denen nur noch kahle, verdorrte Pflanzenstängel herausragten.

 

Wie kommst du eigentlich darauf, dass da irgendwo ein Schlüssel liegen soll. Was bringt dich auf diese Idee“, fragte ich Dsheezad erstaunt.

 

Der Cyborg schüttelte verständnislos den Kopf, sah mich kurz an und suchte weiter. Während er das tat, sprach er mit mir.

 

Weist du Amroon, die meisten Leute riskieren für ihre Bequemlichkeit eine ganze Menge. Das weiß ich aus Erfahrung. Stell dir mal vor, der Besitzer kommt von der Arbeit nach Hause und hat seinen Schlüssel im Büro liegen lassen. Er muss zurückfahren. Ob er will oder nicht. Das passiert ihm garantiert nur einmal; spätestens nach so einem Vorfall sucht er ein leicht erreichbares Plätzchen für seinen Ersatzschlüssel, den er bestimmt irgendwo ganz in der Nähe der Haustür versteckt hat.“

 

Ich fror jetzt ein wenig und schlang die Arme um mich. Das wärmte mich zwar nicht, tat aber dennoch gut.

 

Das klingt ja richtig toll, was du mir da erzählst, Dsheezad, sagte ich mit zitterndem Mund und fragte ihn bewundernd, von wem er das hat.

 

Ich hab’ das mal irgendwo aufgeschnappt. Nun, wir Cyborgs haben ein gutes Erinnerungsvermögen. Das müsstest du doch eigentlich wissen, Amroon, erwiderte der Maschinenmensch knapp.

 

Ich nickte etwas mit dem Kopf, weil man einem Cyborg in dieser Sache nicht widersprechen konnte. Sie hatten tatsächlich ein phänomenales Gedächtnis.

 

Trotzdem, wie wäre es, wenn du mal die Türklinke runterdrücken würdest. Kann ja sein, dass die Tür nicht verschlossen ist.“

 

Dsheezad sah mich verdutzt an.

 

Wie bitte?“ schoss es aus ihm hervor.

 

Ja, du hast richtig gehört. Beweg’ mal die Klinke. Vielleicht ist die Tür gar nicht abgeschlossen.“

 

Der Cyborg drehte sich langsam herum und nahm den Türgriff fest in die Hand.

 

Das wär’ ja ein Ding“, murmelte er wieder vor sich hin und drückte den klobigen Griff langsam nach unten. Aber die Tür war tatsächlich abgeschlossen.

 

Verlegen sah ich zur Seite.

 

Hätte ja sein können...“, meinte ich entschuldigend.

 

Hör bitte auf damit, mir gute Ratschläge zu geben. Hilf mir lieber beim Suchen“, plärrte Dsheezad verärgert und untersuchte einige Fensterbänke neben der Haustür.

 

Ich friere mir hier langsam den Arsch ab“, schimpfte ich mit lauter Stimme. „Außerdem bin ich schon völlig durchnässt und ich habe keine Lust dazu, nach einem Schlüssel zu suchen, den es vielleicht gar nicht gibt.“

 

Von mir aus kannst du es bleiben lassen“, antwortete der Cyborg gelassen und schritt gemächlich in den nah gelegenen Garten, wo eine halb verfallene Garage stand. Er wollte sie etwas genauer untersuchen. Als er dort angekommen war, leuchtete er durch einen breiten Mauerriss in das Innere hinein. Einige lose herunter hängende Dachlatten versperrten ihm allerdings die Sicht. Deshalb suchte er vorne am Eingang weiter. Das blecherne Garagentor war zwar noch da, aber verschlossen und mit großen Rostflecken überzogen. Der Cyborg versuchte erst gar nicht, das Tor zu öffnen, sondern trat einfach kräftig dagegen. Polternd fiel es aus seiner maroden Halterung und kippte krachend nach innen in die Dunkelheit. Sofort leuchtete Dsheezad den Raum mit dem hellen Licht seiner Lampe aus, konnte aber im Augenblick nichts Verwertbares erkennen.

 

Vielleicht ist in der Garage Werkzeug. Suchen wir nach einer Brechstange oder ähnlichem und hebeln damit die Tür aus den Angeln. Wir könnten aber auch ein Fenster aufbrechen, was bestimmt leichter sein wird“, rief ich Dsheezad hinterher.

 

Hier gibt es nichts, außer alte Autoreifen. Außerdem: durch ein verriegeltes Fenster einzubrechen macht eine ganze Menge Arbeit, Amroon. Man merkt, dass du keine Ahnung hast. Glaub mir, es ist besser wir suchen weiter.“

 

Ich glaubte dem Cyborg diesmal und schaute mich um. Mittlerweile bibberte ich am ganzen Körper. Der kalte Regen rann mir durch die nassen Haare. Meine Hände bekamen langsam eine blaue Färbung.

 

Plötzlich kam mir ein Gedanke.

 

Ich kann mich daran erinnern, dass mein Onkel den Reserveschlüssel zu seiner Wohnung immer mit einem Klebestreifen an die Unterseite eines Blumentopfes festklebte“, rief ich mit zitternder Stimme und fuhr fort: „Er meinte, dass ein Einbrecher zwar einen Blumentopf anhebt, um zu sehen, ob ein Schlüssel darunter liegt, aber er schaut nicht nach, ob einer am Topfboden klebt.“

 

Dsheezad ließ eine morsche Dachlatte fallen und trabte mit weit ausholenden Schritten zurück zur Haustür. Außer den zwei großen Blumenschalen, die jetzt umgekippt da lagen, standen noch einige andere, kleinerer Blumentöpfe herum, die in einer Doppelreihe neben dem verwilderten Plattenweg aufgestellt waren. Wir hatten sie vorher einfach übersehen.

 

Dein Onkel war ein kluges Köpfchen. Er hatte gar nicht so Unrecht“, sagte der Cyborg und hob einen Topf nach dem anderen hoch. Schon beim zweiten triumphierte er. „Und er war nicht der Einzige mit diesem Trick. Hier ist ein Schlüssel. Leicht angerostet zwar, aber noch soweit in Ordnung, dass man ihn bedenkenlos verwenden kann.“

 

Na also“, seufzte ich erleichtert.

 

Der Schlüssel passte sogar. Dsheezad schloss die Tür behutsam auf, öffnete sie vorsichtig einen Spalt weit und lauschte mit mir zusammen in die Finsternis hinein. Ein modriger Gestank kam uns entgegen.

 

Ich gehe zuerst hinein. Warte hier auf mich, während ich mich da drinnen ein wenig umsehe“, flüsterte er mir zu.

 

Wieso? Ich komme gleich mit. Soll ich hier draußen noch länger im Regen stehen bleiben? Das kannst du von mir nicht verlangen, Dsheezad!“ Dann folgte ich dem Cyborg einfach mit ins Haus. Widerwillig ließ er es geschehen.

 

Gleich hinter der Haustür lag ein schmaler Flur mit einer niedrigen Decke. Ich hatte das komische Gefühl, mich ständig bücken zu müssen. Hier drinnen war es aber wenigstens trocken. Ich blieb deshalb erst mal stehen und hörte, wie Dsheezad die einzelnen Zimmer abging. Türen öffneten sich, Schubladen wurden aufgezogen und wieder zugeschoben. Immer wieder sah ich den hellen Lichtstrahl seiner Stablampe durch die Dunkelheit geistern. Mal verharrte der Lichtkegel für einen Moment, dann huschte er weiter. Offenbar hatte der Cyborg eine Menge Erfahrung darin, in fremder Leute Wohnungen wie ein geübter Einbrecher herumzustöbern. Ich wunderte mich darüber, woher er das hatte.

 

Im schattenhaften Licht erkannte ich, dass das Haus schon sehr lange leer stand. Außerdem roch die Luft hier drinnen noch stärker nach Fäulnis und Verwesung, wie in einer Gruft oder einem tief unter der Erde liegenden, fensterlosen Verlies.

 

Hin und wieder konnte ich sogar in den Zimmerecken verstaubte Spinngeweben erblicken, die, wenn der Lichtschein darüber glitt, silbern aufleuchteten. Spinnen gab es aber keine, und wenn doch, dann hatten sie sich vor uns verkrochen.

 

Ich ging zurück zur Eingangstür und machte sie sicherheitshalber zu. Dann folgte ich dem Cyborg, wobei ich mich vorsichtig an den feucht-schmierigen Wänden und halb zerfallenen Schränken wie blind entlang tastete.

 

Unvermutet stand Dsheezad wieder vor mir, der plötzlich wie aus dem Nichts kam und den Lichtkegel an die Decke richtete, wo große Löcher zu sehen waren. Ich erschrak etwas. Der Cyborg übersah absichtlich meine ängstliche Reaktion.

 

Hier ist niemand“, sagte er gelassen.

 

Ja, keiner ist mehr hier. Alle sind weg“, wiederholte ich, „es muss schon ziemlich lange her sein, dass hier mal Menschen gewohnt haben“, sinnierte ich weiter und blickte um mich, sah aber im Augenblick nicht sehr viel.

 

Der Cyborg bemerkte das und schwenkte die Taschenlampe herum. Im Schein des Lichts erkannte man, dass alles sehr altmodisch aussah. Der Fußboden bestand aus grün-weißen Fließen, die sich an vielen Stellen gelockert und übereinander geschoben hatten. Die verstaubten Wände waren mit einer Art Blümchentapete überzogen, die alten Möbel sahen ehr so aus, als schienen sie vom Dachboden zu stammen.

 

Hier riecht es ja wie in einem Familiengrab. Wir sollten ein Fenster aufmachen oder eins einschlagen, damit frische Luft reinkann“, sagte ich zu Dsheezad.

 

Ich hab’ meine Geruchssensoren abgeschaltet. Tut mir leid für dich, Amroon. Aber diesmal kann ich dir wirklich nicht helfen, mein Freund“, erwiderte der Cyborg, der ein wenig die Mundwinkel zu einem angedeuteten Grinsen verzog.

 

Dann ließ er den Lichtkegel wieder durch die nähere Umgebung wandern.

 

Währenddessen redete er weiter.

 

Ich habe eine Küche am Ende des Ganges entdeckt. Dort steht ein alter Kohleofen. In einem durchgerosteten Behälter befinden sich sogar noch eine ganze Menge Kohlen. Das heißt, wir können den Ofen in Betrieb nehmen und heizen. Ich werde die Kohlen mit meinen Energiezellen anzuzünden“, machte er mir deutlich.

 

Aber vorher werden wir ein Fenster öffnen, Dsheezad. Ich kann die muffig modrige Luft hier nicht ertragen.“

 

Zusammen gingen wir erst mal durch alle Zimmer, um jedes erreichbare Fenster zu öffnen. Zu unserer Überraschung waren nicht alle mit Brettern von Innen verriegelt worden.

 

Das Gebäude war in der Tat ziemlich klein. Aber immerhin gab es ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, außerdem ein Badezimmer mit Klo und die erwähnte Küche, aber man konnte die schmutzigen Räume wegen der allgemeinen Verrottung nicht oder nur eingeschränkt benutzen. Der Ofen allerdings war noch in einem äußerst guten Zustand. Er sah ziemlich unverwüstlich aus.

 

Während sich der Cyborg am Kohleofen zu schaffen machte, öffnete ich vorsichtig das Küchenfenster, dessen stabiler, imprägnierter Holzrahmen und alle vier darin eingefassten Glasscheiben trotz des schleichenden Verfalls seltsamerweise intakt geblieben waren. Die frische Luft von draußen tat mir gut, obwohl sie unangenehm kalt über meine Haut strich.

 

Trotzdem blieb ich eine Weile bewegungslos stehen, sah aus dem Fenster hinaus und versuchte die Umrisse des Gartens in der Dunkelheit auszumachen, den ich hier hinter dem Haus vermutete. Jetzt, da der Cyborg Dsheezad und ich im Trocknen waren, hatte es draußen plötzlich aufgehört zu regnen. Ganz klar, so geht es ja immer, fiel mir dazu ein. Selbst der Himmel schien auf einmal nicht mehr ganz so schwarz und undurchsichtig zu sein, wie zuvor. An einigen Stellen, wo die Wolkendecke etwas aufriss, schimmerte das fahle Licht des Vollmondes hindurch, den es noch nach wie vor gab.

 

Schweigend stand ich so da. Ich erkannte die Silhouette eines verkrüppelten, windschiefen Baumes, erahnte die Gestalt der Büsche, die schattenhaft entlang einer verfallenen Gartenmauer wuchsen. Und über allem lag eine seltsam anmutende Stille, die mich daran zweifeln ließ, dass so etwas wie eine Welt jenseits dieser beschädigten Gartenmauer überhaupt existierte.

 

Ein Zaubergarten, dachte ich abwesend. Ein verwunschener Ort, an dem die Zeit stillsteht.

 

Plötzlich spiegelte sich in den blinden Scheiben des Küchenfensters ein matt leuchtendes Licht. Lange Schatten tanzten an Wänden und Zimmerdecke herum. Ich wendete meinen Kopf und sah, dass auf einer vermoderten Tischplatte drei Kerzen brannten, die Dsheezad irgendwo gefunden haben muss. In ihrem Licht war er damit beschäftigt, den Ofen anzuheizen. Ich schaute ihm bei der Arbeit zu. Offenbar schien er das nicht zum ersten Mal zu machen, denn bald loderte in der Brennkammer ein knisterndes Feuer, das wohlige Wärme verströmte.

 

Ich schloss das Küchenfenster. Dann ging ich noch mal durchs ganze Haus, um die anderen Fenster zu schließen, die nicht verbarrikadiert waren.

 

Leider haben wir kein fließendes Wasser“, erklärte mir der Cyborg, als ich wieder zurückkam und neben ihm in der Küche stand, in der es jetzt rasch angenehm warm wurde.

 

Draußen habe ich eine Wanne voll Regenwasser gesehen“, fiel mir ein. „Wir können es reinholen und auf dem Ofen warm machen. So haben wir wenigstens etwas Wasser. Ich muss mir den gröbsten Dreck runterwaschen und brauche etwas zu essen und zu trinken.“

 

Dsheezad sah mich mitleidig an, als ob er mir nachempfinden konnte, was Hunger für einen Menschen bedeutet. Dabei kannte ein Cyborg das hässliche Gefühl eines leeren Magens nicht, da er selbst völlig ohne Nahrung auskam.

 

Wie geht es dir Amroon, fragte er mich auf einmal voller Fürsorge.

 

Es geht. Meine Kopfschmerzen verschwinden langsam und die Taubheit in meinen Gliedern lässt nach. Ich glaube, es ist bald überstanden. Wahrscheinlich können wir bis morgen Mittag oder so einen neuen Teleportersprung über eine größere Distanz wagen. Bis dahin sind meine Kräfte bestimmt wieder voll einsatzfähig.“

 

Ich werde rechtzeitig die Raum-Zeit-Koordinaten für einen gezielten Sprung neu berechnen. Wenn ich damit fertig bin, übertrage ich sie auf dein Speichermedium. Du kannst sie dann jederzeit abrufen, wenn du willst. – Na, du weist schon was ich meine. Ehrlich gesagt bin ich froh darüber, wenn wir diesen ungemütlichen Ort endlich wieder verlassen können“, sagte Dsheezad zu mir und stocherte dabei mit einer krummen Eisenstange im Ofenfeuer herum.

 

Das Dsheezad mir die neuen Koordinaten so schnell wie möglich übermitteln wollte, fand ich gut. Man wusste ja nie, was einen erwartet.

 

Ich starrte derweil schweigend in die flackernden Kerzenflammen auf dem Tisch. Der gusseiserne Ofen knisterte gemütlich vor sich hin, und die Glut ließ die Ofenplatte feuerrot aufglühen. Nach all den Strapazen war ich mittlerweile von einer immer stärker werdenden Müdigkeit erfüllt, die mich mit jeder Minute schwerer werden ließ. Ich suchte nach einer Sitzgelegenheit und fand neben dem Fenster eine alte Holzkiste. Ich zog sie zu mir herüber und überprüfte ihre Standfestigkeit. Sie war noch recht stabil und würde wohl mein Gewicht aushalten, dachte ich. Vorsichtig setzte ich mich darauf und lehnte mich rücklings an die Wand.

 

Alles ist so friedlich“, flüsterte ich in die aufkommende Stille hinein. Es war wirklich friedlich. Und so still, dass man es kaum glauben konnte.

 

Der Cyborg murmelte etwas vor sich hin.

 

Vielleicht haben wir sie abgeschüttelt“, sagte ich zu ihm.

 

Mmmh, ja, vielleicht. Du solltest dir nicht so sicher sein, Amroon, erwiderte Dsheezad.

 

Ich musterte ihn stirnrunzelnd.

 

Was mag wohl jetzt gerade in deinem künstlichen Gehirn vorgehen, wenn ich dich mal fragen darf, Dsheezad?“

 

Oh, nichts. Ich dachte eigentlich nur an deine Sicherheit, Amroon. Du weist, dass die Leute vom interplanetarischen Geheimdienst hinter uns her sind. Früher oder später werden sie uns finden. Wir sollten also gerüstet sein. Du musst jetzt unbedingt ausruhen und deine Kräfte sammeln, damit wir bald von hier wegkönnen.“

 

Der Cyborg verstummte auf einmal und ging nach draußen, um Wasser zu holen.

 

Ja, ja“, erwiderte ich mit schleppender Stimme und hörte noch, wie er knarrend die Haustür öffnete, um schließlich irgendwo in der pechschwarzen Dunkelheit einer mir ehr unwirklich erscheinenden Welt zu verschwinden.

 

Eine bleierne Müdigkeit überkam mich, gegen die ich mich nicht erwehren konnte. Dann schlief ich widerstandslos ein...

 

***

 

Das Erwachen am nächsten Morgen ließ mich erschreckt auffahren. Es war fast so, als habe jemand einen Presslufthammer neben mir in den festen Teerboden einer Straße gesetzt. Ein ohrenbetäubendes Knattern zerriss meinen Schlaf, und als ich träge und müde mit den Augen blinzelte, drang helles Licht unter meine Lider. Ich wälzte mich ärgerlich knurrend auf die andere Seite, aber das schreckliche Geräusch blieb, ja, es wurde sogar immer lauter.

 

Ich bemerkte auf einmal verdutzt, wie Dsheezad zu mir herüber eilte und sich schützend vor mir aufbaute. Dann schrie er meinen Namen. Irgendwas stimmte hier nicht.

 

Amroon, wach auf! Sie kommen! Du bist ein Teleporter. Bring uns von hier weg, sofort!“

 

Dsheezads Geschrei machten mich schlagartig hellwach. Aber es war schon zu spät. Draußen vor den verbarrikadierten Fenstern waren plötzlich Bewegungen auszumachen. Ein lautes Stimmengewirr war zu hören. Knappe Befehle schallten durch den Garten, über den weiten Platz vor dem Haus und kamen schnell immer näher. Dann wurde mit lautem Getöse die Hauseingangstür eingeschlagen. Krachend fiel sie nach Innen auf den staubigen Boden. Für einen Moment blieb es ruhig, bis auf einmal von allen Seiten Stiefel tragende Männer auf uns zustürmten. Es waren Männer in schwarzen Lederjacken und langen Regenmänteln, die mit Gewehren und Pistolen schwer bewaffnet waren. Noch ehe ich meine Teleporterfähigkeit einsetzen konnte, hatten sie sich im Zimmer verteilt und vier von ihnen auf den Cyborg gestürzt. Es waren riesige Männer mit Bärenkräften, die Dsheezad brutal auf den Boden drückten und ihn festhielten, sodass er sich nicht mehr rühren konnte. Wieder hörte ich abgehackte Befehle. Sie gellten hin und her, von denen ich nur wenige verstand. Es kamen immer mehr Leute herein, als ob das kleine Zimmer nicht schon voll genug gewesen wäre. An ihrer Uniform konnte ich erkennen, dass es Geheimdienstmänner waren. Sie redeten auf Dsheezad ein, der sie aber nur finster ansah und kein Wort sagte.

 

Auf Grund der Ereignisse beschloss ich, mich vorerst so unscheinbar wie ein kleines Mäuschen zu machen. Doch es half nichts. Angst stieg in mir hoch und mein Herz pochte von Innen wie wild gegen die Brust. Im nächsten Augenblick packten mich auch schon zwei kräftig aussehende Agenten in langen Ledermänteln und hielten meine Arme schraubstockartig fest. Es folgte ihnen ein großer schlanker Mann, der einen schmalen Aluminiumkoffer bei sich trug, ein Arzt offenbar, dem die umstehenden Uniformierten sofort respektvoll Platz machten.

 

Die beiden Typen griffen noch fester zu, als der hagere Kerl seinen Koffer vor mir auf den Boden stellte und ihn öffnete. Dann fasste er nach meinem rechten Handgelenk und streckte den Arm brutal nach vorne. Ein weiterer Helfer schob gleichzeitig den Ärmel nach oben, schnürte mit geübtem Griff ein Gummiband um meinen Oberarm, um mit einem Desinfektionsspray meine Armbeuge zu desinfizieren. Der vermeintliche Arzt holte eine vorbereitete Spritze aus dem Alukoffer, in der eine klare, grünlich schimmernde Flüssigkeit aufgezogen war: ohne Zweifel ein Betäubungsmittel oder ähnliches, dachte ich.

 

Dsheezad warf mir einen kurzen Blick zu, in dem zu gleichen Teilen Ratlosigkeit wie Bedauern zu lesen war. Er konnte sich offenbar nicht erklären, wie sie uns so schnell gefunden hatten. Dann verfolgte er mit ausdruckslosem Gesicht, wie man mir die Spritze in die Vene der Armbeuge stach. Ich ließ es geschehen, ohne mich zu widersetzen. Im Moment konnte ich sowieso nichts anderes tun.

 

Endlich war die Spritze leer. Der Arzt legte sie zurück in den Metallkoffer, drückte einen Tupfer auf die Einstichstelle, löste das Gummiband und fühlte noch rasch meinen Puls. Einen Augenblick später nickte er den Männern zu, die neben mir standen und mich immer noch fest umklammert hielten. Er erteilte ihnen ein paar rasche Befehle. Sie lockerten daraufhin ihren Griff, und im ganzen Zimmer schien die Nervosität spürbar nachzulassen: meine Teleporterkräfte waren bis auf weiteres so gut wie ausgeschaltet, aber sie waren nicht ganz verschwunden.

 

Trotzdem: Man hatte mich wieder mal eingefangen.

 

***

 

Ziehen Sie sich an!“ befahl eine Stimme knapp, die mir sofort bekannt vor kam. Sie gehörte dem hageren Mann, der mir die Betäubungsspritze verpasst hatte. Sein Name war Dr. Stan Morlock, wie er sich nachträglich vorstellte. Er arbeitete für den Geheimdienst der interplanetarischen Förderation und man wollte mich offenbar schon wieder in eines dieser schrecklichen Versuchslabore des Militärs zurückbringen, um weitere Experimente an mir vornehmen lassen zu können. Aber ich dachte überhaupt nicht daran, auch nur einen Zentimeter unter der Bettdecke hervorzukommen. Ich fluchte und protestierte vielmehr.

 

Dies ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um sich in Empfindlichkeiten zu üben, Mister Amroon, schimpfte er wütend. Dann zog er mir einfach die Decke weg und sah mich an. Sein starrer Blick wirkte irgendwie gefährlich. „Außerdem bin ich auch nicht in der Stimmung, besonders höflich zu sein. Wenn Sie sich nicht anziehen wollen, kommen Sie so mit, wie Sie sind.“

 

Ich dachte kurz nach, verließ das Bett ohne weiter zu lamentieren, angelte mir meine Sachen und zog mich an. Die Spritze wirkte zwar immer noch nach, aber ich spürte auch, wie sich mein Nervensystem langsam erholte. Die Teleporterkräfte in mir wurden wieder stärker. Sie regenerierten sich offenbar schneller, als ich dachte. Trotzdem tat ich so, als würde mir das verabreichte Mittel noch zu schaffen machen und torkelte absichtlich etwas unbeholfen herum.

 

Der Doktor rief sofort nach ein paar seiner Männer in schwarzen Lederjacken, die mich äußerst unhöflich an den Armen packten, als sei ich ein Schwerverbrecher, und führten mich stützend hinaus. Ich ließ alles über mich ergehen und dachte darüber nach, was aus Dsheezad geworden ist.

 

Der Himmel war ohne Wolken, und die Strahlen der Sonne wärmten mein Gesicht. Ich staunte nicht schlecht, was ringsherum um mich los war, als ich durch einen parkähnlich angelegten Garten zu einer überlangen, dunklen Limousine schritt, die mit geöffneten Wagenschlag auf uns wartete. Überall standen Männer mit schussbereiten Waffen herum, die weiträumig um das Gebäude postiert waren. Ich entdeckte an ihnen, dass sie alle Stöpsel im Ohr und ein Mikrofon vor dem Mund trugen.

 

Als ich fast am Fahrzeug angekommen war und Dr. Morlock mich dazu aufforderte, hinten auf dem Rücksitz Platz zu nehmen, entdeckte ich zu meiner großen Überraschung Dsheezad, der gefesselt zwischen zwei Bewacher saß.

 

In diesem Moment blieb ich störrisch stehen.

 

Ich habe meine Umhängetasche mit den Zigaretten und dem Feuerzeug darin vergessen“, sagte ich mit lauter Stimme. „Die müssen noch im Haus sein. Ich gehe nicht ohne meine Sachen von hier weg.“

 

Der hagere Doktor musterte mich unwillig. „Was für eine Tasche?“ fragte er mich und fuhr fort: „Ich wusste gar nicht, dass sie rauchen.“

 

Ich bin nikotinsüchtig und starker Raucher. Sie wissen schon, der ständigen Nervenanspannung wegen“, log ich, „nun machen Sie schon. Schicken Sie jemanden los! Die Umhängetasche liegt unter dem Bett. Sie ist blau. Es sind außerdem noch eine Menge Sachen darin, die mir persönlich gehören. Ich will sie unbedingt mitnehmen.“

 

Es schien dem Doktor allerhand Nachdenken zu kosten, ehe er sich zu einer Entscheidung durchrang.

 

Na gut. Man wird sie Ihnen holen.“

 

Mit einer knappen Geste winkte er einen seiner bulligen Männer heran, entfernte sich ein paar Schritte mit ihm von mir und erklärte ihm wohl, was er tun solle. Dann setzte sich der Mann zurück in Richtung des Hauses in Bewegung.

 

Dr. Morlock wandte sich mir zu.

 

Sie bekommen gleich Ihre Tasche zurück“, sagte er. „Und nun steigen Sie ein! Wir haben schon zu viel Zeit verloren.“

 

Ich kletterte in den Wagen und setzte mich sofort neben Dsheezad, was den beiden Bewachern zwar nicht passte, aber es trotzdem murrend hinnahmen.

 

Der Cyborg wusste in diesem Moment, dass ich irgend etwas vorhatte. Er machte sich unauffällig bereit. Wir wollten einen neuen Fluchtversuch unternehmen, wobei das Feuerzeug in meiner Tasche jetzt eine überaus wichtige Rolle spielen würde. Es war in Wirklichkeit ein kleiner Empfänger, auf dem sich die Sprungkoordinaten befanden, die der Cyborg mir in dem verfallenen Gebäude noch rechtzeitig übermittelt hatte, bevor man uns verhaftete. Beim Anzünden einer Zigarette konnte man auf einem unscheinbaren Display in der hohlen Hand eine ganz bestimmte Folge von Zahlen ablesen, die, wenn sie von meinem Gehirn vollständig registriert wurden, noch im gleichen Augenblick schlagartig meine mir zur Verfügung stehenden Teleporterkräfte freisetzen und uns beide von einer Sekunde auf die andere von jedem gegenwärtigen Ort verschwinden lassen würden. Keine Macht der Welt könnte diesen Vorgang noch aufhalten, wenn er erst einmal begonnen hat. Wichtig war nur, dass Dsheezad mich dabei direkt körperlich berühren musste, um den Tandemsprung durch Raum und Zeit mitzumachen.

 

Als der bullige Agent wieder zurückkam und die Tasche zu mir ins Auto warf, kramte ich gleich darin nach dem Feuerzeug und tat so, als wollte ich mir genussvoll eine Zigarette anzünden. Mich wunderte dabei, wie einfach man die Leute vom Geheimdienst der interplanetarischen Förderation überlisten konnte. Offensichtlich waren sie sich ihrer Sache mehr als sicher.

 

Die schwere Limousine setzte sich in Bewegung, die kurz darauf automatisch beschleunigte und im rücksichtlosem Tempo über eine abgelegene Landstraße raste.

 

Mittlerweile hatte ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen gesteckt und das Feuerzeug in die hohle Hand genommen. Beim Betätigen des Zündmechanismus erschien gleichzeitig das Display und ich konnte ungehindert die eingegebenen Sprungkoordinaten darauf ablesen, die nur wenige Sekunden später wie eine Initialzündung meine ungeheuren Teleporterkräfte freisetzten. Dsheezad fasste augenblicklich nach meinem freien Handgelenk und im nächsten Moment waren wir beide lautlos verschwunden.

 

Der Fluchtversuch war gelungen.

 

***

 

Irgendwann nach einer Zeit, die mir endlos vorkam, materialisierten Dsheezad und ich auf einem unbekannten Planeten weit draußen in der mit unzähligen Sternen übersäten Milchstrasse. Es war eine jungfräuliche Welt mit einer für Menschen atembaren Atmosphäre, die sich über weite Meere und ebenso weite Landmassen mit hohen Bergen spannte. Es gab eine üppige Flora und Fauna, die jener auf der Erde nicht unähnlich war. Wir entdeckten wenig später auf unseren ausgedehnten Erkundungen eine aufrechtgehende zweibeinigen Rasse, die sich noch auf einer sehr niedrigen Stufe ihrer evolutionären Entwicklung befand und dem frühzeitlichen Menschen auf der Erde äußerlich sehr ähnlich sah. Nachdem wir uns nach und nach zu erkennen gaben, fielen sie vor uns reihenweise auf die Knie.

 

Dsheezad und ich wurden wie himmlische Götter verehrt (was ja auch aus unserer Sicht nicht ganz so abwegig war). Von dem Tag an veränderte sich ihre bis dahin primitiv gebliebene Welt. Sie waren sehr lernfähig und eines Tages gingen sie mit Pfeil und Bogen auf die Jagd. Dann lernten sie von uns, wie man Feuer machte und feste Hütten baute, sesshaft wurde oder mit einfachen Mitteln Metall gewinnen konnte, um Werkzeuge und Waffen daraus anzufertigen.

 

Den Schlauesten unter ihnen brachten wir bei, wie man Bäume fällte, Felder anlegte und diese dann bestellte, indem man genießbare Pflanzen in großer Zahl darauf anbaute. Eine Revolution nach der anderen setzte sich seitdem in Gang und bald bildeten sich unter ihnen große Völker und Zivilisationen heraus. Zu diesem Zeitpunkt aber entschlossen sich Dsheezad und ich dazu, den Planeten, den wir GENESIS nannten, mit seinen aufstrebenden neuen Zivilisationen auf unbestimmte Zeit wieder zu verlassen. Auf unseren gemeinsamen Teleporterausflügen in die benachbarten Systeme stießen wir nämlich auf einen weiteren lebensfreundlichen Planeten, auf dem seltsame Kristalle wuchsen, die, wenn man sich in der Nähe ihrer Strahlung aufhielt, dies zu einer umfassenden Zellverjüngung führte. Man konnte den Prozess so oft wie man wollte wiederholen. Je öfter man sich in die Nähe der Kristalle begab, desto jünger wurde man. Die Wirkung auf Dsheezad war allerdings gleich null. Seine künstlichen Zellen erneuerten sich sowieso schon von selbst und ein Cyborg konnte locker mehrere hundert Jahre alt werden.

 

Von diesem Zeitpunkt an streiften wir gemeinsam durch die unendlichen Weiten des Universums und besuchten ferne Welten, die vor uns noch kein Mensch betreten hatte. Regelmäßig aber kehrte ich mit dem Cyborg Dsheezad zu jenem Planeten zurück, auf dem die geheimnisvollen Kristalle wuchsen, deren Strahlung meine biologischen Zellen verjüngten. So wurde ich im Prinzip unsterblich und mein Tod war eine Sache, mit der ich mir seither noch viel Zeit lassen wollte, jedenfalls solange, wie mein bester Freund Dsheezad noch einwandfrei funktionierte.

 

©Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***

 

 

 

2. Der unsichtbare Killer


 

Das Krankenzimmer lag recht weit hinten, schon fast am Ende des Ganges, wo an der Querwand so etwas wie eine Notbeleuchtung brannte. Alle Zimmertüren waren geschlossen, bis auf eine, die man wohl einfach nur vergessen hatte ordentlich zu schließen.


Hinter dieser spaltbreit offenen Tür lag Amelia Jones, die jetzt ruhig schlief und erst vor wenigen Stunden wegen extremer Angst- und Panikattacken hier in dieses Krankenhaus eingeliefert worden ist. Es ging ihr wirklich sehr schlecht und deshalb hatte man sie vorsorglich in einem komfortablen Einzelbettzimmer untergebracht. Gut möglich, dass sie vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt in eine psychiatrische Klinik verlegt werden musste, falls sich ihr ernster Zustand nicht alsbald zum Guten hin bessern würde.


***


Ich schob die Tür behutsam weiter auf und ging wie auf Zehenspitzen leise ins Zimmer. Als Stationsarzt hatte ich meiner jungen Patientin eine starke Beruhigungsspritze gegeben und wollte mich jetzt selbst davon überzeugen, ob es ihr den Umständen entsprechend gut ging. Scheinbar war alles in Ordnung. Von draußen drang allerdings kühle Luft durch das offene Fenster ins Krankenzimmer, was mich dazu bewog, das Fenster zu schließen. Schließlich nahm ich den Stuhl aus der Ecke neben dem Esstisch und stellte ihn direkt ans Krankenbett. Als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte, beobachtete ich die junge Frau ein Weile aufmerksam. Ihr Atem ging ruhig. Sie machte insgesamt einen entspannten Eindruck auf mich.


Sie lag auf dem Rücken. Die diensthabende Stationsschwester hatte die weiße Bettdecke bis zu den Schultern nach oben gezogen. Nur der Kopf lag noch frei. Die Stirn war verbunden, der Verbandsstoff leuchtete hell weiß. Die junge Frau sah friedlich wie ein Engel aus, was allerdings wohl nur ein subjektiver Eindruck meinerseits war.


Plötzlich passierte es.


Die ganze Zeit hatte Amelia Jones ruhig in ihrem Bett gelegen. Wie es aussah, war das jetzt ganz plötzlich vorbei, denn ihre Hände zuckten auf einmal wild hin und her, als wollten sie etwas abwehren, das sie bedrohte. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich zu einer hässlichen Fratze.


Vielleicht wird sie wach, dachte ich und rutschte mit dem Stuhl ein wenig nach hinten vom Bett zurück, denn die Bewegungen ihrer Hände und Arme wurden jetzt immer heftiger.


Doch dann war von einer Sekunde auf die andere alles wieder vorbei. Ihr Körper entspannte sich und die Patientin schlief ruhig weiter.


Ich betrachtete aufmerksam ihr Gesicht und wartete gespannt darauf, dass es sich möglicherweise wieder verändern würde. Aber da war nichts zu sehen, kein Zeichen irgendwelcher neuerlichen Erregung. Ich sah kein Zucken der Lider oder irgendwelchen Schweiß auf der Stirn. Auch ihre Hände waren mittlerweile ganz zur Ruhe gekommen. Die Augen blieben geschlossen. Nur der Schlaf schien nicht mehr so tief zu sein.


Durch die abrupten Bewegungen ihre Arme und Hände war die Bettdecke etwas nach unten gerutscht. Ich zog sie vorsorglich wieder bis zur Schulter nach oben und streifte sie ein wenig glatt. Dann wendete ich mich von Amelia Jones ab und drehte mich zur Tür um. Ich hatte die Absicht, das Krankenzimmer zu verlassen.


Gerade in dem Augenblick, als ich die Türklinke niederdrücken wollte, geriet sie wieder in Unruhe. Ich ging zurück an ihr Bett. Jetzt zuckten auf einmal nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper wurde von ekstatisch anmutenden Bewegungen erfasst. Etwas stimmte jetzt ganz und gar nicht mehr mit ihr.


Ich wartete etwas ab, es blieb mir im Augenblick auch nichts anderes übrig. Ich fragte mich, ob ich meiner Patientin möglicherweise eine weitere Beruhigungsspritze verabreichen sollte, sah aber vorläufig davon ab, weil die Zuckungen nicht heftiger wurden.


Plötzlich schlug Amelia Jones die Augen auf und blickte mich trübe an. Sie musste mich sehen können, deshalb war ich gespannt, wie sie reagieren würde.


Zuerst passierte überhaupt nichts. Dann blickte die Frau im Krankenzimmer herum, bis sich unsere Blicke abermals trafen. Sie bewegte schwach ihre Lippen, als wollte sie etwas sagen.


Im nächsten Augenblick deutete sie mit der rechten Hand auf den fahrbaren Nachttisch hin, wo ein leeres Glas neben einer Wasserflasche stand. Zwar wusste ich nicht genau, was sie sagte, aber ich reagierte trotzdem und griff nach der Flasche. Ich schraubte den Verschluss runter, nahm das Glas in die linke Hand und goss etwas Wasser ein.


"Sie haben Durst, nicht wahr?" sagte ich zu ihr und hielt das Glas Wasser an ihre geöffneten Lippen. Es sah wirklich so aus, dass sie großen Durst hatte, denn sie leerte es bis zum aller letzten Tropfen. Ihre Lebensgeister schienen mit jedem Schluck zurück zu kommen.


Ich stellte das Glas behutsam auf den fahrbaren Nachttisch zurück. Dann blickte ich der jungen Frau in die Augen und fragte sie: "Wie geht es denn meiner Patientin so?"


Amelia Jones antwortete nicht sofort. Sie schien nachzudenken und sagte schließlich: "Wie schön, ich lebe noch. Liege ich in einem Krankenhaus?"

"So ist es", antwortete ich ihr.


"Gut. Sie sind wohl der Stationsarzt, wie ich annehme."


"Ja, der bin ich. Ich habe mich die ganze Zeit um sie gekümmert. Sie wurden mit großen Angst- und Panikattacken eingeliefert. Sagen sie mir einfach, was passiert ist. Hatten sie schon öfters solche lebensbedrohlichen Angstzustände?"


"Nein. Jedenfalls nicht so intensiv wie diesmal. Aber ich wurde offenbar von einem verdammten Killer verfolgt. Er wollte mich erschießen."


"Haben sie ihn denn sehen können, ich meine den Killer?"


"Sorry, das weiß ich nicht mehr. Ich konnte eigentlich gar nichts erkennen. Er hat offenbar hinter einer grauen Wand gestanden und von dort auf mich geschossen. Einfach so. Ich bekam fürchterliche Angst, geriet in Panik und schrie mit aller Kraft um Hilfe. Dann spürte ich einen fürchterlichen Schmerz an meiner Stirn und wurde kurz darauf ohnmächtig."


"Ja, der Schütze hat sie erwischt. Aber sie haben verdammtes Glück gehabt. Es war nur ein harmloser Streifschuss."


Die Patientin drehte ihren Kopf zur Seite, schloss die Augen und sagte: "Er wird wiederkommen. Ganz bestimmt. Er wird keine Ruhe geben, bis er mich umgebracht hat."


"Vom wem reden sie eigentlich, Miss Jones?" fragte ich sie neugierig.


Ohne mich anzusehen antwortete sie: "Ich kann seit einiger Zeit offenbar nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Auf jeden Fall war jemand hinter mir her, etwas Fremdes, etwas, das auf mich schon die ganze Zeit lauert. Ich kann es einfach beim besten Willen nicht erklären. Es ist wie ein grauer Schatten, der mich packen und töten will. Seit ich das weiß, bekomme ich Angstzustände und Panikattacken."


"Sie bleiben vorerst in diesem Krankenhaus. Unser Chefarzt, Dr. Murphy, wird sie morgen besuchen kommen und sich mit ihre Geschichte einmal näher befassen, damit wir weitere Maßnahmen beschließen zu können. Sie sollten jetzt aber erst einmal in aller Ruhe weiterschlafen. Ich werde ihnen noch eine Beruhigungsspritze verabreichen, falls sie es wünschen, Miss Jones."


"Ja, das wäre mir recht, Herr Doktor. Ich denke, dass ich von selber nicht einschlafen kann." sagte die junge Frau und legte sich einen Augenblick später flach auf den Rücken.


Ich gab der Patientin eine weitere Beruhigungsspritze. Allerdings nur eine abgeschwächte Dosis. Trotzdem würde sie danach gut schlafen können. Ich hatte zwar kein gutes Gewissen dabei, aber als Stationsarzt blieb mir keine andere Wahl. Ich musste die Frau auf jeden Fall unter Kontrolle halten, wenigstens bis zum nächsten Tag, wenn der Chefarzt die Sache übernehmen würde.


Kurz darauf verließ ich das Krankenzimmer und zog die Tür hinter mir behutsam und leise zu.


***


Amelia Jones blieb allein zurück. Das Licht auf ihrem Zimmer reichte mit seiner Stärke gerade mal aus, um auch die Tür zu sehen, die jetzt geschlossen war.


Die Beruhigungsspritze begann zwar langsam zu wirken, aber trotzdem wurde sie nicht schläfrig. Im Gegenteil.


Plötzlich erlebte die junge Frau wieder das andere, das sich in ihrer Umgebung zusammenzog, von dem sie wusste, dass es ihre Angst- und Panikgefühle erneut anfachen würde, trotz der verabreichten Beruhigungsspritze.


Sie bewegte nur ihre Augen. Sie spürte auf einmal sehr genau, dass etwas in ihrem Zimmer war und auf sie zukam. Aber sie konnte es nicht sehen.


Das war eben das Wahnsinnige, das Unerklärbare und Schreckliche an dieser Situation. Etwas hatte sich von irgendwas gelöst und bewegte sich unablässig auf sie zu. Es gab einfach nichts, das es hätte stoppen können. Seltsamerweise stieg diesmal keine Angst in ihr auf, von der sie sonst immer in solch einer schlimmen Lage heimgesucht worden ist.


Das Unerklärliche erreichte das Bett und nahm sie jetzt gewaltsam in Besitz.


Amelia Jones konnte nichts dagegen tun. Sie konnte die Veränderung nicht beschreiben, die sie dabei erlebte. Sie musste alles über sich ergehen lassen und hatte auf einmal das Gefühl, im Nichts zu liegen. Etwas Fremdes hatte sie gepackt, das über unglaublich magische Kräfte verfügen musste. Die junge Frau lag einfach nur so da in ihrem Bett. Sie wusste instinktiv, dass es nicht gut war, wenn sie sich jetzt bewegen würde. Trotzdem wagte sie es, denn sie wollte sehen und erkennen, was um sie herum vorging.


Sie schaute zuerst nach links vorsichtig über den Rand ihres Krankenbettes hinunter zum Boden. Unwillkürlich riss sie den Mund auf. Dann schnappte sie nach Luft. Sie fasste es einfach nicht, was sie sah. Zuerst glaubte sie an einen Irrtum. Der Boden unter ihrem Bett hatte sich entfernt und war tiefer gesunken, und zwar rundherum auf allen Seiten. Er sank immer weiter, bis er nicht mehr zu sehen war.


Die junge Frau schwebte plötzlich im Nichts!


Amelia Jones hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Sie kroch zurück vom Rand in die Mitte des Bettes und legte ihren Kopf zurück auf das flache Kissen, weil sie zur Decke hoch schauen wollte, um zu erklären, wo sie sich befand. Sie erschrak abermals. Auch hier war nichts. Ihre weit geöffneten Augen blickten in einen unendlichen Himmel hinein oder ins Nichts, das kein Ende zu haben schien.


Anstatt jetzt in Angst und Panik zu verfallen, wie sonst immer, wollte es die junge Frau auf einmal genauer wissen, wo sie war. Sie riss sich zusammen und dachte darüber nach, wo sie sich befand.


Das Bett stand offenbar noch immer am gleichen Platz, nur die Umgebung hatte sich verändert. Da sie keine Fixpunkte hatte, musste sie davon ausgehen, irgendwo in einer anderen Dimension zu sein. Möglicherweise war alles auch nur eine üble Täuschung, eine Fata Morgana sozusagen.


Abermals schaute Amelia Jones über den Rand des Bettes. Diesmal auf der gegenüber liegenden Seite. Auch hier war es nicht anders. Sie versuchte mit einer Hand den Boden zu ertasten, griff aber ins Nichts. In diesem Moment erblickte sie einen grauen Schatten, der von der rechten Seite auf sie zukam und sich ihr schnell näherte.


Er kam näher und näher, bis der graue Schatten direkt vor ihrem Bett stand. Unheimlich und drohend schwebte er da auf und ab.


Im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen der jungen Frau vor lauter Entsetzen. Der graue Schatten teilte sich und ein gespreiztes Händepaar fingerte daraus hervor.


Es waren große, hässliche Klauen, die dazu bereit waren, sie zu erwürgen. Sie kamen näher und näher. Amelia Jones hätte sie greifen können, aber ihr ganzer Körper war wie paralysiert. Sie konnte sich einfach nicht mehr bewegen. Langsam schwebten die Hände des unsichtbaren Killers über ihren zitternden Leib hinauf zum Hals. Die junge Frau wollte schreien, brachte aber keinen Ton über ihre erstarrten Lippen. In diesem Moment spürte Amelia Jones auch schon, wie ihr schlanker Hals erbarmungslos zugedrückt wurde. Röchelnd nach Luft versuchte die Frau noch dem Würgegriff zu entkommen und fing heftig mit ihren Beinen an zu strampeln. Aber es half nichts. Die schrecklichen Hände würgten sie solange, bis ihr gesamter Körper schlaff in sich zusammensackte und keinen Mucks mehr von sich gab. Ihr Gesicht war jetzt blau angelaufen und zu einer von Angst und Furcht entstellten, hässlich aussehenden Fratze erstarrt. Dann war wieder alles wie zuvor, als hätte es diesen schrecklichen Spuk nie gegeben.


Draußen im Gang war nur Stille. Niemand war zu sehen. Nur ein grauer Schatten huschte auf einmal durch ein geöffnetes Flurfenster des Krankenhauses nach draußen hinaus in die Dunkelheit, wo er zwischen den trübe erleuchteten Gassen irgendwo in der Nacht wie ein Geist verschwand.


***

Nachdem ich das Krankenzimmer von Amelia Jones verlassen hatte, machte ich mir große Vorwürfe. Sie musste sich wohl in der Nacht irgendwann mit dem Laken an der eisernen Bettkante aufgehängt haben. Ich konnte nur noch ihren Tod feststellen. Es war nicht gut von mir gewesen, dass ich sie allein in ihrem Zimmer zurück gelassen habe. Nun, andererseits war sie ja auch kein kleines Kind mehr, sondern eine erwachsene Person, die ihre Entscheidungen selbst treffen konnte und es in letzter Konsequenz ja auch getan hatte. Niemand kann in einen Menschen hineinschauen, auch ein Arzt nicht.


Eine bekannte Männerstimme riss mich aus meinen grübelnden Gedanken. Es war einer meiner langjährigen Stationsmitarbeiter.

"Herr Doktor, die Leiche von Frau Amelia Jones soll heute noch in die Pathologie. Ist die Todesbescheinigung schon fertig? Die Leute vom Bestattungsinstitut sind bereits unterwegs. Sie werden bald hier sein und warten nicht so gerne."


"Es ist alles fertig bearbeitet. Frau Jones ist eines unnatürlichen Todes gestorben und muss obduziert werden. Sie können die Verstorbene wie besprochen abholen lassen."


Ich wies meinen Stationshelfer kurz ein und machte mich auf den Weg in mein Büro. Ich hatte unterwegs plötzlich das seltsame Gefühl, von jemand oder etwas beobachtet zu werden. Ich drehte mich daher ein paar Mal schnell herum und schaute nach hinten, konnte jedoch nichts ungewöhnliches erkennen. Mir fiel allerdings auf, dass ganz hinten am Ende des Ganges das Fenster weit offen stand und ein eiskalter Wind an mir vorbeizog. Ich wies eine zufällig vorbei kommende Schwester an, das Flurfenster zu schließen und fuhr dann mit dem Aufzug nach oben, wo sich in der letzten Etage das Büro von mir befand.


 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

 

 

***

 

 

 

3. Der Wurm der Träume


 

In einer fernen Zukunft...


Gelangweilt saß Dan an diesem schönen Nachmittag auf einer alten von grünem Moos überwachsenen Holzbank am Rande eines total verwilderten Parks. Er spielte mit dem Gedanken den Rest des Tages ganz ohne Arbeit zu verbringen, weil er einfach seine Ruhe haben wollte - mehr nicht.

Außerdem konnte er wegen seiner momentan schlechten finanziellen Lage sowieso nirgendwo anders hin und musste deshalb zwangsläufig den größten Teil seiner Freizeit hier in einem der langweiligsten und schmutzigsten Wohnbezirke weit draußen am Stadtrand von City One verbringen.

In dieser futuristisch aussehenden Wolkenkratzerstadt, die scheinbar zum Greifen nah direkt vor Dans Füßen lag und mit ihren schier unübersichtlich ineinander verzweigten Verkehrssystemen an eine gigantische Krake erinnerte, war man ohne Schwebegleiter hilflos verloren. Diese technisch hochentwickelten Wunderfahrzeuge stellten eine Mischung aus Auto und Flugzeug dar und wurden hauptsächlich wegen ihrer hohen Geschwindigkeit vollautomatisch gesteuert.

Um sich einen dieser Ein-Mann-Kombinationsgleiter überhaupt leisten zu können, musste man schon ein ziemlich nettes Sümmchen hinblättern. Dan gehörte zur armen Unterschicht von City One, die sich so ein Ding nicht leisten konnten. Sein Leben fristete er in einem der zahlreichen Elendsviertel, die weit weg vom Zentrum lagen und wo der tagtägliche Kampf ums Überleben nicht selten tödlich endete.

Leider hatten die üblichen klassischen Verkehrsmittel nicht die geringste Chance in diesem gewaltigen Labyrinth aus schmalen und breiten Fahrbahnen, das außerdem noch überall mit Zubringern und Abzweigungen aller Art nur so gespickt war. Darüber hinaus wurde der unablässig strömende Verkehr von einem bis in die letzten Stadtwinkel hinein verzweigten Computersystem vollelektronisch überwacht und geregelt. Natürlich waren auch überall großzügig angelegte Park- und Umsteigestationen, so genannte Decks, installiert worden auf denen wegen des hohen Verkehrsaufkommens Tag und Nacht was los war.

Genau genommen gelangte man nämlich nur von hier aus in das Innere der gigantischen Wolkenkratzer, die in ihrer Gesamtheit den atemberaubenden Stadtkern von City One bildeten und alles zu bieten hatten, was man zu einem angenehmen Leben in einer hochmodernen Stadtzivilisation so benötigte.

Eine Doppelformation von unterirdisch angelegten Kernfusionsreaktoren stillte den nie nachlassenden Energiehunger dieses urbanen Ungeheuers, dessen weithin sichtbares Lichtermeer sogar am Tag aussah wie ein sternenübersäter Kosmos.

Dan betrachte sehnsuchtsvoll und mit einer gewissen Faszination die pulsierende Megastadt aus der Ferne. Er konnte förmlich ihre unermüdlich vibrierende Geschäftigkeit spüren. Zusätzlich wurde das gesamte Panorama von einem gleichmäßig lauten Hintergrundgeräusch untermalt, das man sogar noch in den weit abgelegenen Außenbezirken von City One wahrnehmen konnte.

Doch hier draußen in den verdreckten Randbezirken war man von dem schönen Leben in der Stadt abgeschnitten, einsam und allein sich selbst überlassen. Hier, wo
Dan jetzt war, in der öden Weite ineinander verschachtelter seelenloser Betonklötze, kam es ihm so vor, als lebte er in einem Gefängnis.

Müdigkeit kroch langsam in
Dans Gehirn. Sein Körper war plötzlich schwer wie ein Sack Blei und es dauerte nicht mehr lange, da übermannte ihn der Schlaf. Es begann dunkel um ihn herum zu werden. Die Zeit schien still zu stehen.

Wie lange?

Dan öffnete schlagartig die Augen. Das helle warme Licht einer unsichtbaren Sonne strömte vom blauen Himmel herunter, einem Himmel, der so blau war, dass man glaubte hineinzufallen wenn man nur lange genug hinaufsah. Nicht eine einzige Wolke war zu sehen. Dan hatte das komische Gefühl, als würde er eine Ewigkeit geschlafen haben. Seine Benommenheit wich nur langsam aus seinem dumpfen Schädel, doch allmählich wurde er die Dinge um sich herum gewahr. Er spürte auf einmal die weichen Kleider auf seiner Haut, er spürte das Heben und Senken seiner leise atmenden Brust, den harten Boden unter seinem kraftlosen Körper.

Dan riss sich zusammen und mit einem Mal war er wieder hellwach. Tausend Dinge gingen ihm gleichzeitig durch den Kopf, Sinneseindrücke flossen zusammen und wurden zu einem vollständigen Bild zusammengesetzt, das aber nicht lange hielt und gleich wieder auseinander fiel. Dann sah er sich mit breit ausgestreckten Beinen im Gras liegen, den möglichen Gefahren eines seltsam stillen Ortes ausgeliefert, der ihm völlig unbekannt war. Sein Gehirn pochte, seine Nerven vibrierten und seine Muskeln waren angespannt wie die Sehnen eines Bogens.

Er richtete sich vorsichtig auf und fragte sich:

“Wo bin ich?“


Dan saß auf einem leichten mit spärlichem Rasen überwachsenen Felsvorsprung, der sich beängstigend nahe dem Horizont zuneigte. Er wandte den Kopf nach allen Seiten und schaute schließlich über seine Schulter hinweg. Hinter ihm lag ein schmaler Kiesweg, der zu einem weiter oben liegenden Haus führte. Behutsam stand Dan auf, bewegte sich von dem Felsüberhang weg und marschierte auf das einsam da liegende Gebäude zu. Vor dem Eingang blieb er stehen, der nur durch einen leicht surrenden Energievorhang von der Außenwelt geschützt wurde, wahrscheinlich um Staub und Dreck abzuhalten. Vorsichtig streckte Dan seine Hand aus. Aber er spürte nur ein weiches, elastisches Nachgeben, gerade so, als wenn seine Hand durch eine überdimensionale Seifenblase hindurch gleiten würde. Zum Glück war es auf der anderen Seite angenehm warm. Dan zog deshalb seine Hand erleichtert zurück und betrat – allerdings mit größter Vorsicht – das Innere des Hauses.

Kurz darauf stand er in einem schmalen Gang. Hinter ihm schloss sich der schwach aufleuchtende Energievorhang mit einem blubbernden Geräusch.
Dan ging ein paar Schritte weiter, bis er in einem Raum ankam, dessen Deckenlichter wie von Geisterhand eingeschaltet wurden. Er sah sich neugierig um. Ihm gegenüber befand sich eine Sitzgarnitur aus braunem Leder mit einem flachen Rauchtisch davor. Ein breiter Plasmabildschirm hing an der hellen Wand auf der anderen Seite.

Dan betrachtete seine Umgebung etwas näher. Das TV-Gerät war eines dieser supermodernen Modelle, die zusätzlich mit einem Filmrecorder und eingebauter Phonothek ausgestattet waren. Dann durchquerte er das geräumige Zimmer und betrat durch einen weiteren Durchgang den hinteren Teil des Hauses.

Hier fand er noch zwei weitere Räume – ein Schlafzimmer und eine gut eingerichtete Küche. Das Bett war ebenfalls durch ein Kraftfeld geschützt, ziemlich kostspielig und luxuriös ausgestattet. In der Küchenmitte gab es einen Tisch und zwei Stühle, im hinteren Bereich befanden sich eine Anzahl breiter Vorratsschränke durch deren blanke Scheiben man eine große Menge Lebensmittel liegen sah.

Erst jetzt kam
Dan auf den Gedanken, dass das Haus bewohnt sein könnte.

Mit hastigen Schritten ging er wieder zurück und trat hinaus ins Freie, wo er von dem hellen Sonnenlicht geblendet wurde. Wieder blickte
Dan um sich. Durch seine zusammengekniffen Augen erblickte er einen gepflegten Rasen, der sich nach allen Seiten hin von ihm weg erstreckte. Hier und da ragten große Bäume aus dem üppig wuchernden Rasenmeer. Trotz der Schönheit der Landschaft erschien Dan alles irgendwie unberührt und künstlich. War er vielleicht ganz allein hier?

„Hallo!“ rief
Dan.

Sein Rufen brachte nichts. Es verhallte ohne Echo. Keine Antwort.

Er versuchte es noch einmal. Jetzt klang seine Stimme etwas lauter.

„Hallo! Jemand da? Hallo! Ist hier jemand?“

Alles blieb unheimlich still. Nur ein leichter Wind säuselte durch die Blätter der vereinzelt am Rande des Kiesweges stehenden Büsche und Bäume, der auf der anderen Seite vom Haus weg führte und irgendwo im nahen Horizont verschwand.


Dan begann zu laufen. Eine unterschwellige Angst hatte von ihm Besitz ergriffen, eine Angst, die immer mehr zur abgrundtiefen Furcht wurde und die sein heftig pochendes Herz schmerzen ließ.

Das Gras wurde höher zu beiden Seiten des steinernen Weges.
Dans Füße schlugen hämmernd und knirschend im gleichen Takt auf den harten Rollkies. Er rannte, bis seine Lungen keuchten und er fasst keine Luft mehr bekam. Sein Herz schien die Brust sprengen zu wollen. Als er nicht mehr konnte, blieb er erschöpft stehen und blickte um sich.

Das Haus war nicht mehr zu sehen.
Dan stand plötzlich am Rand eines dichten Waldes von riesenhaften Bäumen. Dreißig Meter schätzte er sie hoch oder sogar noch mehr. Wie eine gewaltige Barrikade versperrten sie ihm den weiteren Weg, der allerdings jetzt immer mehr zu einem schmalen Pfad wurde und mitten ins Unterholz führte. Er fürchtete sich davor, den Pfad zu betreten, der sich irgendwo in der bedrohlich wirkenden Finsternis des Waldes verlor. Trotzdem ging er mutig weiter, denn zurückkehren wollte er auch nicht.

Inmitten der Bäume verlor
Dan plötzlich jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Der Wurzelboden ließ ihn ein paar Mal stolpern. Als ihn die Furcht erneut einholte, lief er schneller und schneller, doch der Weg durch das dunkle Unterholz nahm einfach kein Ende. Sein Atem ging pfeifend, seine Lungen schmerzten. Dan gab aber dennoch nicht auf. Er rannte einfach solange weiter, bis er fast zusammengebrochen wäre.

Mit einem Schlag endete der Wald wieder. Eben noch hatten sich die Bäume dicht um ihn gedrängt, und im nächsten Augenblick stand er am Rand des Waldes vor einem weitläufig angelegten grünen Rasen, durch den abermals ein Kiesweg führte, von dem er meinte, den gleichen schon mal gesehen zu haben.
Dan blieb stehen und blinzelte. Mit einem erleichterten Seufzer trat er aus dem Schatten der Bäume hervor und setzte seinen Weg mit knirschenden Schritten fort.

Er brauchte nicht weit zu gehen. In wenigen Augenblicken war er auf dem Kamm eines kleinen Hügels angelangt. Als er leicht nach vorne gebeugt vorsichtig von der Anhöhe hinunter schaute, lag das gleiche Haus unmittelbar direkt unter ihm, jenes also, das er zuvor hastig verlassen hatte.

Mit schleppenden Schritten ging er darauf zu. Er klammerte sich insgeheim an die Hoffnung einer Selbsttäuschung zu unterliegen.

Doch je näher er kam, desto mehr wurde er von der Wahrheit eingeholt. Erst sah er den Eingang mit dem durchsichtigen Energievorhang, dann dahinter die Tür zum Schlafzimmer und die andere, die in die Küche führte.

Wie ein Traumwandler bewegte sich
Dan auf das verlassene Gebäude zu, trat ohne Halt in das Innere ein und ließ sich schließlich erschöpft in einem der braunen Ledersessel fallen, die im Wohnzimmer standen.

Nach einer Weile hatte
Dan sich soweit erholt, dass er endlich über seine absurde Situation in Ruhe nachdenken konnte. Plötzlich fiel ihm das Vorratslager wieder ein, das ihm anfangs wegen seiner überreichen Fülle an Lebensmittel aufgefallen war. Mit einem Ruck erhob er sich aus dem gemütlichen Sessel, ging hinüber zu den Schränken des Lebensmittellagers, schnappte sich dort eine Flasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, öffnete sie und setzte die Öffnung anschließend behutsam an seine trockenen Lippen.

Der erste Schluck brannte fürchterlich in seiner Kehle. 40 Prozent Alkohol stand auf dem Etikett der bauchigen Flasche. Tränen quollen aus
Dans Augen und fast wäre ihm die Luft weggeblieben. Der zweite und dritte Schluck dagegen waren schon viel angenehmer und wesentlich wohltuender. Dann verließ er das Haus wieder.

Draußen nahm er nochmals einen kräftigen Schluck, hockte sich auf den weichen Rasen und murmelt vor sich hin: „Ich kann trinken, also bin ich! - Aber was mache ich jetzt? Wie bin ich hier eigentlich hingekommen?“ Die Fragen hingen vor ihm wie die reifen Früchte eines Obstbaumes.
Dan versuchte sich zu erinnern, aber seine Erinnerungen verloren sich jedes Mal in einem Irrgarten schattenhafter Bilder. Fast hätte er manchmal die Antworten gewusst, aber dann waren sie ihm doch wieder entflohen. Dan schüttelte verzweifelt den Kopf.

Er trank von neuem einen kräftigen Schluck aus der bauchigen Flasche.

Etwas an diesem Ort, an dem er sich jetzt befand, dachte er so für sich, war nicht ganz geheuer. Irgendwie kam ihm alles unnatürlich vor. Aber dieses unbestimmte Etwas ließ sich nicht in Worte fassen, was
Dan ziemlich beunruhigte.

Vielleicht lag der Grund dafür aber auch einfach nur ganz woanders.

Er sah ein, dass er nur abwarten konnte. Sonst nichts.


Dan runzelte die Stirn. Je länger er nämlich darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass er sich in einer verzwickten Situation befand. War er überhaupt auf der Erde? Ganz sicher war er sich da auf einmal nicht mehr.

Er schaute sich suchend um. Er betrachtete jetzt seine unmittelbare Umgebung etwas genauer. Und wie ein Donnerschlag traf ihn plötzlich die Erkenntnis, dass es zwar überall hell und warm war aber dennoch keine Sonne gab. Sie war einfach weg! Doch der Himmel strahlte so blau wie eh und es gab auch keine Wolken, die man vorbeiziehen sah. Nirgends hörte man einen Vogel zwitschern oder konnte man irgendeine andere Tierstimme vernehmen, wo doch der Wald ganz in seiner Nähe lag. Und der Wind? Wo war der Wind geblieben? Gab es ihn überhaupt? Bewegten sich vielleicht nur die Blätter, um das Vorhandensein eines lauen Lüftchens vorzutäuschen?


Dan sprang auf. Seine Hand umklammerte krampfhaft den schlanken Flaschenhals, gerade so, als könne er sich in seiner Verzweiflung daran fest halten. Ein überaus schlimmer Verdacht stieg langsam in ihm auf.

Dann griff er instinktiv nach seiner Armbanduhr. Tatsächlich, sie war da. Er schaute auf das Ziffernblatt und bemerkte voller Schrecken, dass sich die Zeiger der Uhr nicht bewegten. Es gab keine Zeit.


Dan dachte nach. War er möglicherweise allein in dieser Welt, von der er nicht wusste, wo sie sich befand? Ihre Schönheit beeindruckte ihn, aber sie war auch eine seltsam stille Welt, die unter einem strahlend blauen Kunsthimmel lag, mit einer herrlich weiten Landschaft, die in der Ferne im leuchtend roten Horizont versank, der ebenfalls nur reine Illusion zu sein schien. Dan kam sich vor wie ein Gefangener und er fragte sich, wer oder was ihn hier hingebracht hatte. Er wusste darauf keine schlüssige Antwort und gab es schließlich auf, weiter darüber nachzudenken.

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Neue Szene...

„Hey Mann, wachen sie auf! Wollen sie vielleicht die ganze Nacht hier auf der Bank im Park verbringen?“

Erschreckt und verstört zuckte
Dan zusammen. Er wusste überhaupt nicht wie ihm geschah.

Der schwarzgekleidete Streifenpolizist rüttelte jetzt heftig an seinem rechten Arm und sagte mit eindringlicher Stimme: „Sie können hier nicht bleiben! Stehen sie auf! In dieser Gegend treibt sich allerlei Gesindel in der Nacht herum. Es ist besser, sie gehen jetzt gleich nach Hause, mein junger Freund. Befolgen sie meinen Rat! Es ist zu ihrer Sicherheit!“


Dan stand auf, entschuldigte sich vorsichtshalber beim Polizisten, der mit seiner schwarzen Uniform und der schweren Laserpistole in der Hand wie ein drohend aufgerichteter Fels vor ihm stand, argwöhnisch jede seiner fahrigen Handbewegungen beobachtend.

Dan versuchte einen harmlosen Eindruck zu machen und schlug mit wackeligen Beinen schließlich den Weg zu seiner Wohnung ein, die ganz in der Nähe einer tristen Einheitssiedlung hinter einer hohen Mauer lag, irgendwo am Rande dieser gigantischen Mega-Millionenstadt.

Draußen war es mittlerweile schon dunkel geworden, als
Dan die schäbig aussehende Haustür seiner kleinen Wohnung erreichte und den elektronischen Türöffner mit einer ganz bestimmen Zahlenkombination surrend in Gang setze. Die Tür glitt geräuschvoll zur Seite. Dan betrat seine Wohnung, die jetzt vollautomatisch mit hellem Licht ausgeleuchtet wurde. Zielstrebig ging er ins Badezimmer, stellte sich vor den breiten Spiegel und entfernte mit dem schmalen Saugschlauch einer Mini-Vakuumpumpe einen etwa ein Zentimeter dicken und etwa fünf Zentimeter langen grauweißen Wurm aus dem rechten Nasenloch, legte ihn vorsichtig in eine wohltemperierte Metallbox mit einer speziellen Nährflüssigkeit darin und stülpte schnell den Deckel darüber. Anschließend wischte er sich mit einem feuchten Lappen das herausquellende Blut von Nase und Lippen und legte sich anschließend schlafen.

Der Wurm, eigentlich ein Parasit, begann sofort damit, begierig die eigens für ihn zubereitete Nährflüssigkeit in sich aufzunehmen, die er aber nur für die ersten Monate seines Wachstums benötigte. Später ernährte er sich ausschließlich vom Blut seines Wirtes. Man hatte diesen Wurm auf einem fremden Planeten entdeckt und einige verblüffende Fähigkeiten an ihm festgestellt.

Er konnte sich irgendwie in das Nervensystem eines Menschen problemlos ein- und wieder ausklinken. Angedockt verursachte er im Gehirn die unglaublichsten Halluzinationen, welche jede Person als so real und plastisch empfand, als wäre es die Wirklichkeit selbst.

Als bester Platz für den Wurm hatten sich dabei die Nasenlöcher des Menschen herausgestellt, weil der Wurm von hier aus ziemlich nah am Gehirn platziert werden konnte. Nach einigen Experimenten hatte man etwas ganz ungewöhnliches herausbekommen. Je länger nämlich jemand seinen Wurm benutzte, desto besser passte er sich seinem Besitzer an und erfüllte ihm seine tiefsten Wünsche, Träume und Begierden, sofern man ihn natürlich gut behandelte und ausreichend mit seiner Lieblingsnahrung versorgte, dem menschlichen Blut.


Dan hatte seinen Wurm erst seit ungefähr drei Wochen und bisher nur ein paar Mal ausprobiert. Seine ganzen Ersparnisse hatte er für dieses noch junge Exemplar auf dem Schwarzmarkt dafür hergeben müssen. Das Ergebnis konnte sich dennoch sehen lassen, wenngleich seine Halluzinationen noch ziemlich unvollkommen waren. Aber das würde sich legen und irgendwann würden sich auch die Angstgefühle unter Kontrolle bringen lassen, die seine immer plastischer werdenden Träume bisher hier und da eingetrübt hatten.

Mit Hilfe des Wurms konnte sich
Dan seine eigenen Wünsche und Vorstellungen von einer für ihn besseren Welt erfüllen, die jedes Mal realistischer wurde, je öfters er ihm seinen Körper als Wirt anbot. Noch war diese Welt im Zustand der Unvollkommenheit, aber irgendwann würde der Wurm das ändern, spätestens dann, wenn er Dan ganz in seinen Besitz genommen hat.

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 


 


 


 


 

***


 


 

4. Der Untergrundkämpfer


 

Der Morgen war erwacht. Es roch nach sauerstoffreicher Luft und über der ganzen Landschaft lag ein leichter taufrischer Dunstschleier.

Der stabile Metallrahmen eines kleinen Panzerglasfensters bildete in der nachlassenden Dunkelheit ein schwach leuchtendes Viereck. Dahinter, hoch droben in einem kleinen trübe ausgeleuchteten Raum des letzten Stockwerkes eines etwas abseits gelegenen monumentalen Regierungsgebäudes, stand der Soldat Tibben Leckaas und war wütend, weil er noch immer nicht über die Beleidigungen hinweggekommen war, die er aufgrund der Ereignisse über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie hatten ihn schließlich dazu motiviert Dinge zu tun, die er unter normalen Voraussetzungen nie getan hätte. Trotzdem bereute er nichts.

Das werde ich euch heimzahlen“, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme leise vor sich hin, obwohl er wusste, dass er eigentlich im Moment nicht viel ausrichten konnte. Noch nicht..., doch das würde sich bald ändern, wie er hoffte.

Seine augenblickliche Machtlosigkeit ließ ihn deshalb in süßen und gewalttätigen Träumen schwelgen, an deren Ende stets der gleiche Gedanke hervortrat, nämlich der, dass er schon etwas finden würde, um an dem verhassten Regime endlich Rache üben zu können. Er wollte dieser abstrusen Scheindemokratie größtmöglichen Schaden zufügen, woran er gerade intensiv arbeitete.

***

Tibben Leckaas hatte sich erst vor weniger als einem halben Jahr dazu entschlossen, freiwillig in die Regierungsarmee einzutreten, um es jenen zu zeigen, die ihn für ängstlich und schwächlich hielten. Doch, was niemand bis dahin für möglich hielt, trat unerwarteter Weise ein: Der Krieg gegen die ROODS war bald vorüber und der junge Leckaas war plötzlich nur noch Soldat und kein Held mehr oder ein gefeierter Sieger.

Der Soldat Leckaas hasste die ROODS über alle Maßen, wie so viele Bürger und Bürgerinnen seines Volkes, den MINSOREN vom Planeten NAPUR. Woher dieser Hass auf die ROODS kam, konnte allerdings niemand so richtig erklären. Er war Fakt.

Als der Krieg entschieden war, hatte man ihn einfach nach Hause geschickt, ohne irgendeinen Dank oder den geringsten Anerkennungsbeweis für seinen aufopferungsvollen Einsatz im Kampf gegen den angeblichen Feind, der von der eigenen Regierung plötzlich wie ein enger Freund behandelt wurde, nachdem man ihn besiegt hatte. Alles schien offenbar wie ein ganz großes, raffiniert eingefädeltes Spiel abgelaufen zu sein. So empfand es jedenfalls Tibben Leckaas, der sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, an einem grausigen Theater teilgenommen zu haben, das für viele seiner Kameraden allerdings ein tödliches Ende genommen hatte.

Kurz nach dem aufwändig dargestellten Friedensschluss mit den ROODS, der von allen Medien auf dem Planeten NAPUR bis ins letzte Detail ausgiebig übertragen wurde, hatte sich der Soldat Leckaas noch patriotisch, stark und mächtig gefühlt. Er wähnte das Volk der MINSOREN endlich auf dem richtigen Weg. Doch schon bald stellte sich heraus, dass das nicht stimmte.

Ein schlimmer Machtkampf brach unter den einzelnen Clans auf NAPUR aus, nachdem sich einige Familien bei der Aufteilung der Kriegsbeute benachteiligt fühlten. Ein grausamer Bürgerkrieg begann, der bald viele Opfer forderte, bis sich endlich die oberste Staatsführung aus heiterem Himmel dazu entschloss, hart und kompromisslos einzugreifen.

Eine Verhaftungswelle nach der anderen folgte, die auch auf die ehemaligen Offiziere der siegreichen Armee übergriff. Man steckte sie entweder einfach ins Gefängnis oder schickte sie in die Verbannung. Manche wurden sogar von aufgestachelten Fanatikern ermordet. Wieder gab es viele unschuldige Opfer.

Der Staat der MINSOREN verwandelte sich nach diesen brutalen Vorfällen zusehends in eine hässliche Diktatur, die man politisch von Seiten der amtierenden Regierung nach außen hin allerdings als eine hervorragend funktionierende Demokratie darzustellen versuchte.

Viele Offiziere und Soldaten der ehemals so siegreichen minsorensischen Armee waren wegen dieser schrecklichen Vorkommnisse bald in den Untergrund gegangen und hatten von dort aus den Kampf gegen das undemokratische Regime aufgenommen. Auch der junge Soldat Tibben Leckaas gehörte dem Widerstand an.

***

Trotz des frühen Morgens lastete die Hitze der aufsteigenden Sonne auf der Landschaft wie eine gesandte Plage der Götter. Das einzige Fenster dieses kleinen stickigen Raumes befand sich direkt unterhalb der Zimmerdecke, wo auch ein kleiner Luftschacht endete, der den Raum nur dürftig mit frischer Luft versorgte.

Auf dem Fußboden befanden sich zahlreiche Löcher, aus denen noch einige abgeklemmte Kabel herausschauten. Tatsächlich aber standen in diesem Zimmer früher einmal ein paar periphere Computer des gewaltigen Rechenzentrums des Innenministeriums der Regierung. Die gekappten Leitungen hatten von hier aus bis in eine Tiefe von mehreren hundert Metern geführt und waren direkt mit dem einzigen Hauptrechenzentrum des Planeten verbunden.

Tibben Leckaas wurde langsam unruhig. Sein Herz pochte wie eine kleine Maschine in seiner Brust und nur allzu deutlich spürte er auf einmal den kühlen Kunststoff der Tastatur unter seinen Fingern. Er hatte sich nämlich von hier aus heimlich und unbemerkt in das Computersystem des brutalen Regimes eingeklinkt. Das geheime Passwort dazu hatte er von einem älteren Mitglied des Widerstandes erhalten, einem Mann namens Bratan Lockier, der im Rechenzentrum der Diktatur als Administrator arbeitete und dort eine führende Position bekleidete. Anscheinend genoss er das Vertrauen der derzeitigen Machthaber.

Tibben Leckaas wählte das Symbol des Innenministeriums an und begann sofort damit, die zahlreich vorhandenen Datenbanken zu durchsuchen. Er stöberte in jeder Datei herum und wurde schließlich unter dem Begriff „Sonderserien“ fündig.

Am Ende des Textes wählte er ein Untermenü an. Als er es anklickte, erschien endlich eine lange Liste mit Kleinseriengeräten. Neben zahlreichen Gerätenamen und deren Modellabbildungen fanden sich keine weiteren Neuigkeiten. Lediglich ein kleiner, unscheinbarer Stern hinter einigen seltsam aussehenden Maschinen zeigte an, dass weder technische Daten noch sonstige Informationen abzurufen waren, da sie der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlagen.

Leckaas fluchte leise vor sich hin. Er hatte sich dem Ziel so nah gefühlt. Seine innere Anspannung nahm zu.

Bestimmt hatte er irgendeine Kleinigkeit übersehen. Nochmals ging er die dargestellten Geräteabbildungen durch. Dann erkannte er etwas, was er zuvor anscheinend übersehen hatte. Die Sonderseriengeräte besaßen eine etwas andere Gehäuseform als die standardisierten Modelle, die für den öffentlichen Verkauf zugelassen waren.

Hatte er sich nur getäuscht?

Der junge Mann lehnte sich zurück und starrte für einen Moment lang wie abwesend an die weiß gestrichene Betondecke des Raumes. Es war nahezu unnatürlich still um ihn herum. Sogar auf dem schmalen Gang draußen war absolut nichts zu hören. Tibben Leckaas war darüber nicht unglücklich, weil er sich sicher war, dass er nur so seine Arbeit in Ruhe ungestört fortführen konnte.

Dann beugte er sich wieder nach vorne über den kleinen Bildschirm und betrachtete noch einmal jede Abbildung der dort aufgeführten Sondermodelle sorgfältig einzeln nach einander. Es war einfach schwer zu glauben, dass eine so hochtechnisierte Wundermaschine in ein vollkommen normal aussehendes Gehäuse gesteckt worden war. Verblüffend, wie er dazu bemerken musste. Sie waren sicherlich auch nicht für den Verkauf bestimmt. Diese Dinger gehörten augenscheinlich zu einem hoch geheimen Projekt, wie er jetzt wusste. Ihre Darstellung hier war nur eine infame Täuschung.

Leckaas klickte zwischen den einzelnen Abbildungen hin und her, die mit einem Stern gekennzeichnet waren. Es dauerte ihm aber alles zu lange. Er rief deshalb den Dateimanager auf, der ihm die Abbildungen samt dazugehörigen Texten noch einmal präsentierte. Ein weiteres Fenster öffnete sich plötzlich, in dessen Textbereich er den gesuchten Begriff eingeben sollte.

Aus irgendeinem Grunde vergaß Tibben die Eingabe des Textes und bestätigte unbewusst das Feld des leer gebliebenen Suchkommandos. Der Bildschirm wurde für einige Sekunden schwarz, als urplötzlich am unteren rechten Ende eine Liste aller Abbildungen samt Texte der mit Sternchen gekennzeichneten Geräteabbildungen auftauchte und den dunklen Bildschirm mit sich stetig vermehrenden weißen Schriftzügen ausfüllte, die kein Ende nehmen wollten.

Leckaas hatte einen Fehler im System gefunden, ohne es gewollt zu haben. Die Innenflächen seiner Hände fingen an zu schwitzen und wurden feucht. Ihm bot sich jetzt die einmalige Gelegenheit, an hochbrisante Geheiminformationen des Innenministeriums zu gelangen. Mit zitternden Fingern tippte er auf der Tastatur herum und ging die jeweiligen Texte durch. Auffällig erschien ihm, dass einige dieser Texte zweimal vorkamen, einmal mit und einmal ohne voranstehendem Stern.

Als er die Texte mit dem Sternchensymbol anklickte, bekam er plötzlich Zugriff auf alle Dateien, die mit diesem Zeichen gekennzeichnet waren und somit auch auf alle Sondermodelle. Es war einfach unfassbar für den jungen Mann, was sich hier vor seinen Augen abspielte. Durch diesen winzigen Fehler im System hatte er Zugriff auf alle geheimen Dateien des Innenministeriums erhalten. Vor Staunen schüttelte er ungläubig den Kopf. Ein Gefühl des Triumphes überkam ihn auf einmal.

Diese unscheinbar aussehenden Wunderdinger in der Größe eines ganz normalen Reisekoffers waren dazu in der Lage, jede x-beliebige Person nachzubilden, wenn man erst einmal die von ihr gespeicherten Daten wie DNS, Blutgruppe, Haarfarbe, Größe, Aussehen, Denkmuster oder sonstige persönliche Merkmale besaß. Sie konnten aus unbelebter Materie organische Substanzen erzeugen und zu einem identischen Klon zusammenfügen, der alle Eigenschaften seines Originals besaß.

Schlagartig begriff Leckaas die Tragweite dieser geheim gehaltenen Erfindung. Durch sie konnte man ganz gezielt darüber hinaus auf einfachste Art und Weise allen betroffenen Personen ihre sämtlichen Erinnerungen, Geheimnisse und Intimitäten entlocken, wenn sie erst einmal geklont worden waren.

Unbewusst fuhr sich Tibben Leckaas mit der rechten Hand zum Hals. Er spürte eine unglaubliche Beklemmung, als er darüber nachdachte, dass es diese unheimlichen Maschinen offenbar schon mehr als zwei Generationen lang auf NAPUR gab. Das jedenfalls ergaben die eindeutigen Hinweise auf deren Herstellungsdaten und die angegebenen Produktionsorte, die überall auf den jeweiligen Modellen deutlich lesbar eingraviert worden waren.

Je länger Tibben darüber nachdachte, desto größer wurde der Druck in seinem Magen. Theoretisch war die Möglichkeit gegeben, dass bereits große Teile der Bevölkerung von NAPUR, einschließlich ihrer Feinde, den ROODS, die auf dem dritten Kontinent des Planeten lebten, zum größten Teil nur aus Duplikaten bestanden. Man musste diesen Tatbestand jedenfalls ernsthaft in Betracht ziehen. Tibben wurde bei diesem Gedanken übel.

Hastig legte er jetzt einen der Quantenspeicherwürfel in die dafür vorgesehene Öffnung seines speziellen Datenaufnahmegerätes und übertrug die gesamte Information in Sekundenschnelle aus dem Zentralrechner des Innenministeriums in sein mitgebrachtes molekulares Speichermedium. Draußen würde das Gerät diese gewonnenen Informationen sofort automatisch an die Zentrale des Widerstandes senden, die sich in der versteckten Unterstadt befand. Das geheime Passwort verhinderte außerdem sicher, dass der enorme Datentransfer bemerkt werden konnte. Die angezapften Daten wurden nur kopiert, nicht entfernt. Als er damit fertig war, trennte er die Kabelverbindungen seines Minicomputers, verstaute alles sorgfältig in einem stabilen Rucksack und verließ fluchtartig den Raum.

Während er so unauffällig wie möglich den langen Flur des abgelegenen Gebäudes durchschritt, dachte er über seine Entdeckung nach. Sie schien ihm so unglaublich, so überwältigend und einfach schier unfassbar zu sein, dass ihm nur allein bei dem Gedanken daran schwindlig wurde. Es konnte und durfte einfach nicht wahr sein, und doch ahnte er gleichzeitig, dass er und viele andere mit ihm, ohne es zu wissen, zu einem integrierten Teil einer gigantischen Manipulationsmaschinerie geworden waren, die sie zu Spielbällen der mächtigen Regierung werden ließen. Die Herrschenden taten offenbar mit der Bevölkerung, was sie wollten.

Als Tibben Leckaas sich umschaute, sah er einen Aufzug am Ende des Ganges. Er zog seine gefälschte ID-Karte durch den Schlitz des Terminals und schon nach wenigen Sekunden kam der Fahrstuhl angerauscht. Die metallenen Doppeltüren glitten geräuschlos zur Seite und Tibben trat sofort in das Innere der geräumigen Fahrkabine, die ihn zügig nach unten ins Erdgeschoss brachte.

Unten angekommen verließ er das Gebäude durch einen kleinen Nebeneingang auf der weit abseits gelegenen Rückseite. Auch hier half ihm die gefälschte ID-Karte problemlos dabei, dass sich die elektrisch betriebene Tür ohne Schwierigkeiten leise surrend öffnen und anschließend ebenso unauffällig wieder schließen ließ. Dann schlug er sich in die angrenzenden Büsche eines nah gelegenen Wäldchens, wo er sich versteckte und über sein klappbares Funkgerät die codierte Verbindung mit seinem aktiven Führungsoffizier des Untergrundes herstellte. Einen Moment später sah er das Gesicht von Mo Dhumas auf dem kleinen LCD-Bildschirm.

In aufgelöster Hast überschüttete er Dhumas mit den Fakten, die er herausgefunden und auf seinen Quantenspeicherwürfel heruntergeladen hatte. Seine Worte überschlugen sich fast vor innerer Aufregung.

Der Führungsoffizier versuchte Leckaas zu beruhigen, weil er nur die Hälfte verstand und animierte ihn dazu, langsamer zu sprechen. Tibben wiederholte seine Sätze und gab abermals seine Vermutung zum Ausdruck, dass das Innenministerium der diktatorisch gewordenen Regierung möglicherweise schon seit langer Zeit einen großen Teil der Bevölkerung von NAPUR nicht nur heimlich aushorchen, sondern wahrscheinlich bereits über Generationen hinweg sukzessive durch willfährige Klone ersetzte, die sich besser manipulieren ließen als die natürlich gebliebene Gesellschaft.

Nach seinen Worten schwieg der Offizier Mo Dhumas eine zeitlang. Eigentlich war das alles zu fantastisch, um glaubwürdig zu klingen. Aber mit was war er in den letzten Jahren nicht schon alles konfrontiert worden?

Hör zu Soldat! Deine Information klingen unglaublich. Aber wenn sie stimmen, schwebst du in großer Lebensgefahr. Ich schicke vorsorglich ein paar Leute von mir los, die dich abholen und in Sicherheit bringen werden. Schalt’ deinen Peilsender ein, damit sie dich schneller finden können. Sie werden mit einem Tarnfahrzeug zu dir kommen. Erschrecke also nicht, wenn es plötzlich direkt vor deinen Augen sichtbar wird. Verhalte dich ruhig und bleib in deinem Versteck. Meine Männer werden dich dann zu mir ins Hauptquartier in die Unterstadt bringen! Ach ja, ich habe noch eine Überraschung für dich. Sie wird dein Leben retten. Aber das werde ich dir später erzählen, wie ich das angestellt habe. Wir sehen uns Soldat. – Ende der Mitteilung.“

Tibben Leckaas Funkgerät knackte ein paar Mal geräuschvoll, dann wurde die Verbindung abrupt unterbrochen. Auf dem langsam dunkel werdenden LCD-Schirm schimmerte bald nur noch das schwarze Hintergrundbild. Er ließ das Gerät in seiner rechten Brusttasche verschwinden und spähte hinüber zur Gras bewachsenen Lichtung, wo sich vermutlich das Fahrzeug enttarnen würde, wie er annahm. Schließlich setzte sich der junge Untergrundkämpfer in ein dichtes Gebüsch und wartete geduldig darauf, dass man ihn abholen würde.

***

Woher haben Sie diese Informationen?“ fragte der bärtige Mann in dem Militärjeep, der Tibben Leckaas gegenüber saß und eine schwarze Uniform trug. Auf der linken Brusttasche prangte in goldener Schrift sein Name: Leutnant B. Kahnaan.

Gemütlich zündete der Offizier sich eine Zigarette an. Nach einer kurzen Pause redete er weiter. Seine Stimme wurde noch sanfter und entgegenkommender.

Sie wissen doch sicherlich selbst, dass überall Falschinformationen verbreitet werden, die die abwegigsten Ziele haben. Zum Beispiel versucht man von ganz bestimmter Seite, dieses Staatsgefüge auseinanderbrechen zu lassen“, sagte er in Anspielung auf die verfemte antidemokratische Opposition, die sich überwiegend im Untergrund aufhielt und massiv gegen die Regierung kämpfte.

Doch Tibben durchschaute den rhetorischen Trick.

Lassen Sie die Spielchen. Was sind das überhaupt für Informationen, die ich angeblich gefunden haben soll?“ fragte er den Mann in der schwarzen Uniform.

Wie können Sie nur so einen Schwachsinn daher reden? Sie wissen doch ganz genau, was ich meine. Aber wir wollen das trotzdem in aller Ruhe erledigen. Geben Sie mir den Quantenspeicherwürfel und die Sache hat sich für Sie erledigt. Wo haben Sie ihn versteckt?“ Die Frage des Vernehmungsoffiziers war plötzlich von einer erbarmungslosen Härte und Kälte.

Der Bärtige sah den Gefangenen mit stechendem Blick an und dachte darüber nach, dass der junge Mann zuviel wusste, als dass man ihn einfach wieder so laufen lassen durfte. Er würde ihn früher oder später liquidieren müssen. Sein Vorgesetzter, Mo Dhumas, hatte ihm das ausdrücklich nahegelegt. Es war eigentlich so gesehen ein ganz klarer Tötungsbefehl.

Kommen Sie, Leckaas, die Zahl der gelösten Fälle hat in meiner Abteilung zugenommen. Und das in erheblichem Umfange. Ich hoffe, das sie das zur Kenntnis nehmen werden, um ihr Leben zu retten. Nun sagen Sie schon, wo Sie das Speichermedium versteckt haben.“

Ich kann Ihnen darüber nichts sagen, weil ich nicht weiß, was Sie eigentlich von mir wollen. Ich habe kein Speichermedium versteckt und gehöre auch nicht dem Widerstand an. Wovon reden Sie eigentlich?“

Tibben Leckaas schwieg wieder und schaute aus dem verdunkelten Fenster des breiten Militärjeeps in die vorbeihuschende Landschaft. Er glaubte sich im falschen Film, nur konnte er nichts dagegen tun.

Ich halte Sie für einen Lügner und Feigling, Leckaas. Das ist alles, was ich noch zu sagen habe. Mir reicht es jetzt“, platzte es unvermutet aus dem bärtigen Leutnant heraus. Er gab seinem Fahrer den Befehl, den Wagen hinter der nächsten Kurve anzuhalten. Als das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, ließ der Offizier Leckaas aussteigen. Er überzeugte sich davon, dass niemand in der Nähe war. Dann zog er seine Strahlenwaffe und zielte damit eiskalt durchs offene Wagenfenster auf den wehrlos dastehenden jungen Mann. Sekunden später war Tibben Leckaas tot und sein pulverisierter Körper nur noch ein Häufchen verbrannte Asche, die am Gras bewachsenen Straßenrand dunstig vor sich hin qualmte. Dann raste der Wagen mit quietschenden Reifen davon.

***

Es tut mir wirklich leid, dass diese Schweine vom Regierungsgeheimdienst dich einfach so erschossen haben, mein lieber Tibben. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste dein Duplikat opfern, sonst wäre unser Plan womöglich noch aufgedeckt worden. Wir können aber jetzt mit den gleichen Kartentricks wie das Innenministerium spielen“, sagte Dhumas über Funk zu Leckaas.

Eine kleine Pause trat ein. Dann sprach der Führungsoffizier weiter.

Ach so, du kannst das Versteck jetzt verlassen. Wir stehen mit unserem Tarnfahrzeug genau auf der Lichtung. Du müsstest uns eigentlich schon sehen können. Das Täuschungsmanöver hat geklappt. Der Geheimdienst des Innenministeriums ist auf den von mir ausgelegten Klon-Köder hereingefallen. Ich hatte mir schon so was ähnliches gedacht“, sagte Mo Dhumas zum wartenden Untergrundkämpfer, der immer noch versteckt im dicht bewachsenen Unterholz saß und sein kleines Funkgerät krampfhaft an sein rechtes Ohr hielt.
Es ging ihm schon viel besser, als er Dhumas persönlich sehen konnte, der jetzt das enttarnte Fahrzeug verließ und mit weit ausholenden Schritten direkt auf das Dickicht zulief, das Leckaas gerade hinter sich gelassen hatte. Dann standen sich die beiden Männer gegenüber und umarmten sich wie zwei Brüder.

Es ist zum Verrücktwerden mit Dir, mein lieber Tibben. Ich konnte es in der Unterstadt einfach nicht mehr aushalten und bin gleich selbst mitgekommen. Du bist mein bester Mann. Diese Nummer war einfach irre. Durch die von dir übertragenen Geheiminformationen konnten wir die erbeuteten Duplikatorenmaschinen umgehend in Betrieb nehmen. Den ersten Klon, den wir herstellten, warst du selbst. Von dir hatten wir alle persönlichen und genetisch-biologischen Merkmale vorliegen. Nachdem dein Duplikat fertig war, brachte ich deinen Doppelgänger umgehend zu dieser Lichtung und schickte gleich darauf eine fingierte Nachricht an den Regierungsgeheimdienst los, die tatsächlich auf meinen Cup hereinfielen und bald zur Stelle waren. Dein Duplikat wurde sofort festgenommen und in ihrem Militärjeep abtransportiert. Während wir die Operation aus unserem getarnten Fahrzeug heraus beobachteten und alles akribisch überwachten, erfuhr ich über unsere Lauscheinrichtungen, dass es von mir ebenfalls schon einen Klon gibt, der als Offizier für den Geheimdienst der Diktatur arbeitet und den Auftrag dazu gab, deinen Klon von einem seiner Männer nach dem Verhör erschießen zu lassen. Fürchterlich, wozu mein Duplikat fähig ist. Sie glauben allerdings jetzt, du wärst tot. Wir werden die Physiognomie deines Gesichtes wohl chirurgisch etwas verändern müssen, zu deiner eigenen Sicherheit wohlgemerkt, und schon kannst du dich in der offiziellen Bevölkerung von NAPUR gefahrlos bewegen. Man wird dich nicht mehr wiedererkennen. Übrigens knüpfen wir gerade einige Verbindungen zu unserem Brudervolk den ROODS, die ebenfalls über eine starke und schlagkräftige Untergrundbewegung verfügen. Wenn wir es richtig anstellen, wird es eines Tages zwischen unseren Völkern wieder Frieden geben, so wie es früher einmal war. Die Zusammenarbeit mit ihnen klappt bereits schon ganz gut. Sie haben für uns einen noch geheim gehaltenen Scanner entwickelt, mit dem man Duplikate einwandfrei identifizieren kann. Ich habe dieses Ding gleich mitgebracht und an uns heimlich ausprobiert. Unter uns gibt es nicht einen einzigen Klon. Der Widerstand scheint etwas ganz natürliches zu sein, zu dem die Duplikate anscheinend nicht fähig sind. Diesen Vorteil nutzen wir natürlich aus. So gesehen werden wir sie jagen können und eines Tages alle ausgemerzt haben. Vor uns liegt eine große Zukunft, die von Eintracht und Frieden zwischen den ROODS und uns MINSOREN erfüllt sein wird. Dafür lohnt es sich doch zu kämpfen, nicht wahr Tibben?“

Die junge Untergrundkämpfer hatte sich die langen Ausführungen seines Führungsoffiziers mit einiger Faszination angehört. Dann nickte er nur wortlos mit dem Kopf und sagte mit fester Stimme: „Ja..., mein lieber Dhumas, für diese Zukunft unserer Völker lohnt es sich wirklich zu kämpfen. Komm, lass’ uns gehen! Wir haben noch viel zu tun...“

Beide Männer umarmten sich wieder, drehten sich schließlich gemeinsam herum, gingen auf das wartende Fahrzeug zu und nahmen darin auf den weichen Rücksitzen Platz. Nachdem sich die Türen sanft geschlossen hatten, schaltete sich die Tarnvorrichtung ein und machte das geräumige Vehikel praktisch unsichtbar. Dann setzte es sich mit einem leichten Ruck in Bewegung und verschwand von einer Sekunde auf die andere in eine nicht mehr feststellbare Richtung, die aber auf jeden Fall in die versteckte Unterstadt führen würde, die das Zentrum und die Heimat für alle Untergrundkämpfer auf dem Planeten NAPUR war, sowohl der männlichen als auch der weiblichen.



(c)Heinz-Walter Hoetter


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.05.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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