René Oberholzer

Tief eingeprägt

«Geh nach oben», sagte Vater, wenn er mit Mutter sprechen musste. «Mach die Türe zu», sagte er dann, wenn ich kurz vor meinem Schlafzimmer stand. «Ja», rief ich. Dann kam Mutter aus der Küche, ging ins Wohnzimmer, setzte sich. Meine Schwester arbeitete im Kino an der Kasse, sie kam meistens spät nach Hause. Manchmal wurde es nach dem Essen im Wohnzimmer laut, sehr laut. Mutter hörte ich durch die Wände hindurch. Vater sagte selten etwas, blieb meistens ruhig. Vater arbeitete seit Jahren nicht mehr, war IV-Bezüger, ein Arbeitsunfall. Zu Hause sass er viel herum, vor dem Fernseher, las Zeitschriften, wusste über alles Bescheid. Mutter ging einkaufen, arbeiten, machte den Haushalt. Vater meckerte oft herum, zwar ruhig, aber so, dass es meine Mutter auf die Palme trieb. Und immer ging es um dasselbe, das Geld, das Essen, das Einkaufen, die Liebe, die Ideenlosigkeit des Vaters. Mutter musste für das meiste besorgt sein. Vater ging manchmal spazieren, soweit das nach dem Unfall noch ging. Mutter ging zuletzt ins Bett, während Vater schon schlief und schnarchte. Getrennte Schlafzimmer kamen nicht in Frage, Vater und Mutter waren sich ausgeliefert. Ich wunderte mich oft, wie sie es nebeneinander aushielten, nach einem missratenen Essen, einem missratenen Abend oder einem missratenen Tag. «Geh nach oben», prägte sich tief in mir ein, und ich hatte mir oft gewünscht, Vater und ich hätten die Schlafplätze getauscht.


© René Oberholzer

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (René Oberholzer).
Der Beitrag wurde von René Oberholzer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.05.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  René Oberholzer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Hass am Camino Frances von Jürgen Berndt-Lüders



Der Jakobsweg ist Sinnbild für Frieden und Ausgleich, und trotzdem gibt es auch hier Subjektivität und Vorurteile.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kindheit" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von René Oberholzer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Das Negligé von René Oberholzer (Sonstige)
Johannisfeuer (Kanzfeuerla) von Annie Krug (Kindheit)
Wie Du mir,... von Klaus-D. Heid (Leidenschaft)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen