Es geschah in den Ferien, die ich immer im Dorf bei meiner Oma verbrachte, nachdem meine Eltern in die Großstadt gezogen waren.
Er zwang mich nieder auf einer abgemähten Wiese, küsste mich - und spuckte mich dann an. Da war ich zwölf Jahre alt und er vielleicht vierzehn.
Zwei Jahre später trafen wir uns auf einem Schützenfest, wir fuhren auf dem Karussel und er küsste mich wieder, diesmal zaghaft und ohne Anspucken.
Zig Jahre später gab es ein Treffen auf einem Fußballplatz in der Heimat. Er stand hinter mir, hatte seine Hände auf die Rückenlehne meines Stuhls gelegt und ich fand es erregend.
„Bist du schon verheiratet?", fragte ich ihn. Auf dem Dorf heiratet man früh - und lässt sich früh scheiden.
„Nein“, sagte er. „Ich bin doch nicht verrückt!“
„Genauso wie ich!“
Es gab noch eine Begegnung: Ich war an Weihnachten wieder im Dorf zu Besuch bei den Eltern. Und als ich nach den Feiertagen zurück in die Großstadt fahren wollte, sprang der verdammte Karmann nicht an wegen der verdammten Kälte dort. Mein Vater rief jemanden zu Hilfe. Er war es, machte alles klar und ging dann wieder, nachdem ich mich bei ihm bedankt hatte. Danach sah ich ihn nie wieder. Ich hatte ihn verloren. Erst aus den Augen, dann aus dem Sinn.
Wieso muss ich jetzt an ihn denken, jetzt, wo ich fast am Ende meines Lebens angekommen bin?
Was hätte sein können? So viele nicht genommene Straßen, so viele verpasste Ausfahrten. Aber er ist davon die verlockendste, weil er so vertraut wie die Heimat war - und trotzdem erregend und rätselhaft.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.05.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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