Wolfgang Hoor

Es geht doch weiter

Es geht doch weiter

Bis W waren es 250 Kilometer. Als Max den Koffer mit dem Anzug, dem schneeweißen Hemd, dem hellen Schlips und den blankgeputzten Schuhen in seinem gebrauchten ZweiCV unterbrachte, musste er lachen. Es gab ihn also jetzt in zweifacher Version: in legerer Kleidung gab es den Max, der er sein wollte, und in Festtagsklamotten gab es den Max, der er sein musste. Vielleicht streikt mein Wagen ja wieder zwischendurch, dachte er. Vielleicht komme ich nie an.

Es würde sich eine Komödie abspielen, wenn er nicht ankäme. Ihr alter Religionslehrer, die romanische Kapelle, der berühmte Organist, die Leute in dem berühmten Restaurant am See, sie würden alle vergeblich auf ihn warten. Und er hätte einen triftigen Grund: Der gebrauchte ZweiCV würde irgendwo an der Hunsrückhöhenstraße stehen und er müsste zurück, irgendwie, vielleicht als Anhalter. Obwohl: Er war noch nie als Anhalter gereist.

Würde sie es sagen, heute, zum ersten Mal, weil es dazugehört? Aber nein, sie hatten sich ja schon vor langer Zeit verboten, die verbrauchten drei Wörter zu benutzen, die so süßlich rochen und in jedem billigen Liebesfilm missbraucht wurden. „Ich liebe dich“ gehört in den Müll, hatten sie damals grmeint. Aber er hätte diese Worte doch manchmal gern von ihr gehört. Sie war in dieser Frage leider konsequent, das musste er schon zugeben, und da hatte er es auch nicht gewagt, diese drei Wörtchen zu benutzen. Vielleicht hätten sie herbeigezaubert, was noch nicht da war.

Es war ein freundlicher Maitag, die Gegend, durch die er fuhr, grünte und blühte. Er fuhr langsamer als er musste. In N. fuhr er nicht an, als die Ampel grün wurde. Der Sturm der Entrüstung hinter ihm war heftig. Er hätte gern gesungen. Ihm fielen Lieder ein, die er als Wölfling bei einer Pfadfinder-Maiwanderung mitgesungen hatte. Aber er konnte nicht singen. Sie war nicht enttäuscht, dass er nicht singen konnte. Er hatte viele Fehler, über die sie nicht enttäuscht war, die sie aber gerne erwähnte.

Der Wagen hielt gut durch, ein paarmal ruckelte er, aber es ging weiter. Er summte „Die Gedanken sind frei!“ und kommentierte: „Warum nur die Gedanken?“ Wer verbot ihm, in Wirklichkeit nicht anzukommen? Oder sollte er einfach den Koffer mit den edlen Klamotten am nächsten Parkplatz abzustellen. Dann würden alle schimpfen, aber es würde nicht dazu kommen. Ohne die Klamotten gäbe es keine Feier. So einfach war das.

„Wer kann sie erraten“, summte er, und da passierte, was eigentlich immer dazu gehört hatte, wenn er eine weite Strecke gefahren war: Der Wagen machte puff, pf, pfffff und stand. Aber es war nicht an der Hunsrückhöhenstraße, es war ein gutes Stück hinter einem Dorf, in dem die Glocken läuteten. Er wusste, dass es zu den Spezialitäten seines Wagens gehörte, nach etwa einer viertel Stunde wieder anzuspringen und dann könnte er weiterzufahren. Aber sicher war das nicht. Die Krankheit seines Wagens müsste sich ja irgendwann einmal verschlimmern.

Er stieg aus. Am Straßenrand blühende sonnengelbe Rapsfelder und über den Blüten ein summendes Engelsheer von Bienen und Hummeln. Hier war es schön. Hier lass uns eine Hütte bauen. Er würde zurück ins Dorf und sich ein Zimmer besorgen. Der Frühling zog in sein Gemüt ein. Leider, leider, man kann es ja nicht wagen, mit so einem totkranken Wagen weiterzufahren. Natürlich kann kein Mensch eine solche Katastrophe voraussehen.

Er war schon auf dem Weg ins Dorf, da kam ihm ein Mann entgegen, der sah ein bisschen so aus, wie er heute Nachmittag aussehen sollte: Dunkler Anzug, hervorragend sitzend, ein gut gebundener Schlips, wie Max ihn allein nie hinbekommen würde, ein vornehmer Hut. Der Mann schritt Max entgegen, als wolle er sagen: Mach Platz, du solltest mich nicht aufhalten. Aber statt seinen gewiss wichtigen Geschäften entgegen zu gehen, hielt er vor Max an und sagte: „Ich muss hier weg. Bitte! Ich muss weg!“

„Und ich muss hier hin!“, entgegnete Max. „Mein ZweiCV da drüben ist todkrank. Ich würde Sie gerne mitnehmen, aber das Risiko wäre zu groß.“ – „Sie könnten es ja mit ihrem Auto noch mal versuchen. „Manchmal sind Fast-Tote quicklebendig, wenn man Ihnen ein bisschen Vertrauen schenkt.“ – „Warum müssen Sie den weg von hier?“ – „Wir hatten vor der Trauung eine Probe-Hochzeitsnacht. Ich muss weg.“

Und während er das sagte, bewegte er sich weiter mit seinem Herren-Schritt auf das Auto zu. Statt zu warten, riss er die Fahrertür auf. Der Schlüssel steckte. Der Fremde drehte ihn um, Max rettete sich eben noch ins Auto neben den Fremden. Der Motor sagte zweimal nein, dann sprang er an. „Sehen Sie“, sagte der Fremde. „Der Wagen vertraut mir. Was haben sie getan, dass er Ihnen nicht mehr vertraut hat?“

Max schwieg lange. Er hielt es für möglich, dass ihn der Fremde mitsamt seinem Auto entführen könnte, und dass der Fremde stärker war als Max, das hatte Max sofort begriffen. „Wo wollen Sie mit mir hin?“, fragte Max schließlich. „Weg von der Braut.“ – Und ganz lange danach fragte der Fremde: „Und wo wollen Sie hin?“ – „Auch weg von der Braut.“

Wo die beiden hingefahren sind, ist unbekannt. Aber zwei Bräute werden schon zwei neue Bräutigame finden, die viele Fehler haben und zu denen man nicht „Ich liebe dich“ sagen muss.

 

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Wolfgang Hoor).
Der Beitrag wurde von Wolfgang Hoor auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.06.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Wolfgang Hoor als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die lila Prinzessin - Märchen ab 6 Jahre von Michael Waldow



"Die lila Prinzessin" ist ein Märchen über eine verwöhnte Prinzessin, die sich einbildet, zu ihrem Geburtstag alle Geschenke der Welt bekommen zu dürfen. Sie lebt im Kunterbuntland und stürzt durch ihren Eigensinn das ganze Land in einen lila Albtraum. Doch nur sie kann das Land retten, denn hinter dem Fluch steckt ein Familiengeheimnis.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Liebesgeschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Wolfgang Hoor

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Wltraut von Wolfgang Hoor (Kindheit)
Eine Nacht mehr von Nando Hungerbühler (Liebesgeschichten)
Endgültig von Monika Klemmstein (Abschied)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen