Ralf Deutschmann

Der Felsen

Der Felsen ©



von

R. Deutschmann

alias

K.C.


© K.C., 2000 / 2001

Der Felsen

Seit zwei Stunden war sie nun schon mit ihrem kleinen Kajak auf dem doch sehr turbulenten Wildwasserstrom unterwegs. Langsam schwanden ihre Kräfte, doch sie versuchte es nicht zu beachten, denn zu schön, zu fesselnd empfand sie diese Jagd zwischen Wellen und Felsen. Die Sonne schien und verbrannte ihr Gesicht und ihre Hände und gleichzeitig spürte sie die Kälte des Wassers, die durch die Bootswand und auch durch den Neoprenanzug in ihre Beine, ihren Unterleib, ihre Knochen kroch. Bald würde sie sich eine Stelle suchen müssen um das Boot ans Ufer zu lenken und die wilde Fahrt zu beenden. Eine kleine Unaufmerksamkeit und sie konnte es nicht verhindern, daß das Boot kenterte. Sie kannte das und geriet auch nicht in Panik, als ihr erster Versuch sich wieder aufzurichten fehlschlug. Noch hatte sie genügend Kraft und Luft.
Sie spürte, wie das Boot sich drehte, ihr Helm schrammte an den Kieseln des Flußbettes entlang, zweimal schlug sie mit den Ellbogen gegen kleinere Felsen, denen sie nicht ausweichen konnte. Dann schwang sie das Boot herum, schüttelte kurz das Wasser aus ihrem Gesicht und den Augen, schnappte nach Luft und sog sie gierig ein. Wieder geschafft. Einen Augenblick kostete sie diesen Triumph, diesen Sieg über die Elemente und die Schwerkraft, diesen Sieg über ihren eigen Körper aus. Dann realisiert sie, daß sich das Boot gedreht hatte und sie rückwärts den Fluß entlang schoß. Ein paar Stöße mit den Schaufeln der Paddel, das Boot stoppte kurz seine rasende Fahrt, dann steuerte sie dagegen und drehte es.
Nur einen kleinen Augenblick glaubte sie sich in Sicherheit. Dann realisierte sie die großen Felsen, denen sie mit zunehmender Geschwindigkeit entgegenglitt. Sie machte einige Ausweichbewegungen, mußte jedoch erkennen, daß der Wasserdruck sie unaufhörlich weitertrieb. Sie blieb mit dem Paddel im Kiesbett hängen und verlor es, das Boot drehte und kippte gleichzeitig und als sie erneut unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde und spürte wie ihre Hände und Arme über den Boden schrammten, erfaßte sie endlich doch die Panik. Sie mußte raus aus dem Boot. Im nächsten Augenblick krachte es gegen den ersten Felsen und sie spürte, wie ein Teil der zerborstenen Glasfiberhülle sich in ihr Bein zu bohren drohte und Wasser in das Boot drang. Es gelang ihr sich zu befreien. Mit den letzten Kräften wuchtete sie ihren Körper aus dem eiskalten Wasser. Sie öffnete die Augen und versuchte die Umgebung zu erfassen. Dann sah sie den großen Felsen auf sich zutreiben. Ihr Herz schien zu rasen. Und als sie gegen den Felsen schlug, spürte sie den Schmerz wie einen Blitz durch ihren Körper fahren. Die Umgebung schien sich in einer farbigen Explosion aufzulösen und mehr und mehr zu einer Röhre zu verengen, bevor sie alles Gefühl für Farben verlor und Dunkelheit sie umfing. Der Schmerz entfernte sich. Die Kälte verging. Nur den Felsen spürte sie noch ...

Sie spürte, wie sich nicht nur der Felsen, sondern auch sie selbst langsam veränderte. Langsam, unendlich langsam schien sich ihr Körper aufzulösen. Gleichzeitig schien der Felsen seine Härte zu verlieren und sich in Myriaden von kleinen, glitzernden, prickelnden Sternen zu verwandeln, um sich mit ihrem Körper zu vereinen. Sie schmolz dahin. Ihr Körper verlor jede Kontur, zerschmolz wie weich werdendes Blei, verschmolz mit dem Felsen oder seiner Metamorphose, floß in ihn hinein und war bald eins mit ihm, seiner kristallartigen Struktur, weit entfernt von jeder Realität.
Sie konnte nicht begreifen, was mit ihr geschah. Alles in ihr konzentrierte sich auf ihren Körper. Es gab kein Licht mehr, keine Farben, keine Kälte, keine Geräusche, nur dieses Gefühl eins mit dem Felsen zu sein, von ihm aufgesogen zu sein und auch beschützt und in Sicherheit zu sein. Dann bemerkte sie, daß sie langsam zu sinken begann. Langsam durchwanderte ihr Körper diesen Felsen, der selbst um sie herum und doch gleichzeitig auch durch sie hindurch zu fließen schien. Sie spürte, wie sie langsam diesen Felsen verließ und eindrang in das Erdreich, spürte wie der harte Felsen sie freigab, wie sie sich mit dem weicheren Erdreich vereinigte, nun wesentlich schneller zu fallen schien, bis sie eine andere Schicht voller Kiesel erreichte, die ihren Fall wieder zu verzögern schien. Die ganze Zeit war sie wie gelähmt, versuchte die Empfindungen zu deuten und zu verstehen, ob dies alles tatsächlich geschah oder nur eine unfaßbare Illusion war. Je mehr sie jedoch der Schwerkraft folgend zu versinken drohte, umso mehr versuchte sie sich zu konzentrieren und fragte sich, wann, wo, wie dieser Fall zu ende sein würde. Panik erfaßte sie und sie versuchte mit unendlicher Anstrengung ihre aufgelösten Gliedmaßen unter Kontrolle zu bekommen. Sie versuchte die Beine zu bewegen, ihre Arme, die sie einfach hinter sich hergezogen hatte, zu sich zu ziehen und begann wie in einem zähen Brei aus Pech oder Honig mit ihnen zu rudern. Erfreut stellt sie fest, daß sie die Abwärtsbewegung offenbar verlangsamen konnte und bald hüpfte ihr Herz, als sie sicher war, daß sie nun nicht mehr fiel, sondern sich vielmehr fast schwimmend vorwärts bewegen konnte.
Es ging unendlich langsam und kostete unendliche Kraftanstrengung, aber sie schaffte es nun sich weiter zu bewegen in der Hoffnung, daß sie irgendwann ein Ende erreichen mochte, einen Lichtschein oder irgendetwas, daß ihr die Zukunft und ihren Körper wieder zurückgeben konnte. Das Erdreich und Kiesel und Kalk und Steine und Felsen flossen nach wie vor um sie herum und durch sie hindurch. Aber die Panik war der Zuversicht gewichen ...

Wie lange mochte sie wohl schon in dieser unwirtlich Welt existieren? Sie hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren. Vielleicht Minuten nur. Vielleicht auch Stunden oder gar Tage. Noch immer tauchte und schwomm sie durch die Finsterniß ohne Orientierung, ohne ein Oben oder Unten, ohne Zukunft und ohne Vergangenheit. Mit einem Mal veränderte sich alles. Sie spürte, wie sie auf etwas festes, hartes zu treffen schien, ihr Körper begann sich abermals zunehmend aufzulösen, obwohl er doch die ganze Zeit schon seine Form verloren zu haben schien. Sie kannte dieses Gefühl. Wieder verschmolz sie mit diesem Felsen, dem sie nun begegnet war und der sich in seiner seltsamen Metamorphose in ein Meer aus prickelnden Blasen verwandelte und wie die Kohlensäure einer geschüttelten Champagnerflasche ihren Körper umspülte und durchströmte und ihm das Leben wiederzugeben schien, daß sie glaubte bereits verloren zu haben. Sie floß und strömte und tauchte durch diesen Felsen, bis zunächst nur ihre Fingerspitzen, bald schon die Hände und Arme sich befreit fühlten. Mehr und mehr trat ihr Körper aus diesem Felsen heraus und drängte sich ans Licht, an den Sauerstoff der Luft und an die Freiheit, die ihrer Brust wieder das Atmen ermöglichen sollte. Bald konnten ihre Augen die Strahlen der Sonne spüren. Der Felsen schien sie nun geradezu auszuspeien und sie hohlte tief Luft, sog den Sauerstoff in ihre Lungen und mochte schreien vor Glück dieser scheinbar ewig dauernden Bedrückung entkommen zu sein.
Ihr Körper war völlig kraftlos. Und als sie den Felsen vollständig verlassen hatte, war es ihr nicht möglich sich selbst aufrecht zu halten, sich zu stützen oder zu gehen. Sie viel einfach vornüber, spürte noch den Schmerz, als ihr Körper hart und unkontrolliert auf dem Boden aufschlug und ergab sich sogleich einer kurzen Bewußtlosigkeit.
Langsam öffnete sie die Augen. Alles war nun anders. Es war hell. Es war laut. Der Fluß dröhnte hinter ihr. Es war kalt. Als sie sich langsam aufrichtete, stellte sie überrascht fest, daß sie vollkommen nackt war. Der Neoprenanzug und auch ihre übrige Kleidung, die sie darunter getragen hatte, waren verschwunden. Und sie hatte Schmerzen. Die Ellbogen schmerzten, mit denen sie noch vor dem Unglück gegen Felsen geschlagen war, die Knie, mit denen sie zuerst auf dem Boden aufgekommen war, nachdem sie den Felsen verlassen hatte und die Schläfe, mit der sie wohl gegen den großen Felsen geschlagen sein mußte, der sie dann verschlungen hatte.
War dies überhaupt alles geschehen? War sie tatsächlich eins mit der Erde gewesen? Sie sah zurück zum Fluß und mußte erkennen, daß er nur einige Meter entfernt von einem Wasserfall gespeist wurde, der sich über mehrere Kaskaden in die Tiefe ergoß. Und unterhalb des Wasserfalls lag ihr Boot. Es war völlig zertrümmert. War sie vielleicht auch dort hinuntergespült worden? Hätte sie das überleben können? Sie fuhr sich über das Gesicht und bemerkte, daß sie blutete. Von der Schläfe aus rann ein nicht gerade dünnes Rinnsal Blut über ihr Gesicht. Sie fühlte danach, zuckte aber gleich wieder zurück, als sie mit der Hand offenbar ein Loch in ihrem Kopf ertastete.
Noch einmal atmete sie tief durch. Immerhin war sie entkommen. Sie lebte. Und wenn sie es auch nicht verstand, so hatte sie doch das Gefühl nun eine ganz besondere Beziehung zu den Felsen dieses Flußes zu haben ...



Epilog

Myriam hatte Glück gehabt. Sie hatte überlebt. Man diagnostizierte bei ihr eine akute Sauerstoffunterversorgung, aber es schien keinen gesundheitlichen Auswirkungen zu haben. Wie gesagt: sie hatte Glück gehabt. Wenngleich sie auch niemals verstand, was damals tatsächlich passiert war.
Drei Jahre nach diesen unfaßbaren Ereignissen wurde bei Myriam ein Gehirntumor entdeckt. Er war etwa Taubenei groß und lag fast isoliert unter der Schädeldecke. Als man sie in der Nähe der Schläfe öffnete, konnte man den Tumor ohne große Probleme entfernen. Und er war gutartig. Wieder hatte sie Glück gehabt. Als man den Tumor näher untersuchte, fand man in seinem Kern einen Kirschkern großen Kieselstein. Er war glatt poliert, als hätte er längere Zeit in einem Gebirgsbach gelegen. Niemand konnte sich erklären, wie dieser Kieselstein in Myriams Kopf gelangt war. Sie aber trägt ihn heute noch immer als Talisman bei sich ...

Diese story ist beim philosophieren entstanden. Ich philosophiere gerne - d.h., ich stelle z.B. eine These auf und frage mich, was daraus entstehen könnte, wenn diese These als wahr angenommen wird. Hier habe ich mich gefragt, was eigentlich passiert, wenn man in ein zeitlich begrenztes Koma fällt, ja vielleicht sogar zeitweise tot ist. Dabei wollte ich mich nicht an den vielen Geschichten über Lichterscheinungen orientieren, die es ja zu Hauf gibt. Nein - ich hatte eine andere Vorstellung - und diese verpackte ich in einen Rahmen, der gleichzeitig unglaublich und doch realitätsnah sein sollte ...Ralf Deutschmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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