Karl Wiener

Rotzfädelsuppe

Sicher kennst du die Redensart, die besagt, daß jemand Rotz und Wasser heult. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg haben wir das nicht nur geheult, sondern auch gegessen. Du kannst dir das sicher nicht so recht vorstellen. Ich verrate dir hier das Rezept:

     Man nehme, so man hat, eine mittelgroße Kartoffel. Nachdem man die Kartoffel gewaschen hat, reibt man sie auf einem groben Reibeisen zu einer Art dünner Fäden, etwa wie Spätzle. Man sollte sie vorher tunlichst nicht schälen, das wäre ein Verlust an Nährstoffen. Die geriebene rohe Kartoffel gibt man in einen Topf mit einer hinreichenden Menge leicht gesalzenen Wassers, das man über einem Holzfeuer auf dem Küchenherd zum Kochen bringt. Wichtig ist das das richtige Verhältnis zwischen Kartoffeleinlage und Wasser gewahrt ist, damit die Suppe einigermaßen dick wird. Wenn die Kartoffelfasern im Wasser die schleimige Konsistenz von Rotzfädeln angenommen haben, ist das schmackhafte Gericht tafelfertig. So man hat, kann man es mit einer Scheibe trockenen Brotes reichen.

Eine kleine Veränderung der Rezeptur macht die vorerwähnte Speise zur Delikatesse:

     Statt Wasser verwendet man bei der Zubereitung Molke. Das ist die grünliche Flüssigkeit, die zurückbleibt, nachdem Milch von Fett und Kasein befreit wurde. Man setzt beim Kochen statt Salz etwas Zucker zu. Wichtig ist auch hier wieder das richtige Verhältnis zwischen Molke und Kartoffeleinlage. Nach dem Erkalten schlägt man die Suppe mit einem Schneebesen zu einer schaumigen Masse, die anstelle von Schlagsahne als Dessert serviert werden kann.

Es gab zur damaligen Zeit noch eine ganze Reihe ähnlicher Gerichte. Aber keines ist mir so in Erinnerung geblieben wie Rotzfädelsuppe.

Zur Beschaffung der Zutaten und des Brennmaterials möchte ich noch einige Hinweise geben:

    Kartoffeln konnte man sich durch „Kartoffelstoppeln“ beschaffen. Zu diesem Zweck zogen zur Zeit der Kartoffelernte Heerscharen von Menschen über die Dörfer und suchten nach Kartoffelfeldern, auf denen der Bauer gerade mit der Ernte beschäftigt war. Sie lagerten rings um das Feld, bis der Bauer abgeerntet hatte und sich eine weitere Lese für ihn nicht mehr lohnte. Auf seinen Wink stürzten sich die Menschen auf das Feld und sicherten sich ein paar Quadratmeter, die sie dann mit einer mitgebrachten Hacke durchwühlten. Meist fanden sie auch noch ein paar zurückgebliebene Kartoffeln.

     Mit der Beschaffung von Brennmaterial verhielt es sich ähnlich. Die Menschen zogen in den Wald, um Brennholz zu sammeln. Man darf sich das nicht so vorstellen, daß man sich nur zu bücken brauchte, um Holz aufzuklauben. Der Waldboden war durch die häufige Heimsuchung ausgefegt wie Mutters gute Stube. Die Menschen versuchten mit an langen Stangen befestigten Bootshaken dürre Äste von den Bäumen zu reißen oder sägten, wenn sie sich unbeobachtet fühlten, auch mal einen dünnen Schößling ab.

Ich weiß nicht, ob das alles heute noch irgendjemanden interessiert. Aber wer sollte es denn erzählen, wenn nicht wir über neunzigjährigen, die damals als Jugendliche anstelle der im Krieg gebliebenen Väter zusammen mit den Müttern für den Fortbestand der Familie sorgten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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