Gabi Sicklinger

Königskinder


Sie verbrachte Stunden auf ihrem abseits gelegenen, wie verwunschen wirkenden Lieblingsplatz im Wald. Alltagsvergessen hockte sie auf einem Stein und ließ die Schönheit des Ortes und die Stille auf sich wirken, die von Zeit zu Zeit durch das Gezwitscher der Vögel unterbrochen wurde.

Gerade schickte sie sich an zu gehen, da stand er plötzlich vor ihr! Groß, schlank und mit diesem offenen, gefühlvollen Blick, den sie selten bei jemandem antraf. Offenbar war hier ebenfalls sein Lieblingsplatz.

Oh“, bemerkte er höflich, „ich möchte Sie nicht stören.“

Schon gut“, erwiderte sie, „ich wollte sowieso gerade gehen“, und fügte mit einem Lächeln hinzu: „Hier finden ja nur wenige her.“

Das stimmt. Aber Sie können auch gerne bleiben, es ist wirklich Platz genug für zwei“, meinte er und strich seinen blonden Haarschopf aus der Stirn.

Und da sie ihn sympathisch fand, blieb sie noch, und unverhofft fanden beide sich in einer angeregten Unterhaltung, gerade so, als würden sie sich schon immer kennen.

Wie alt mag sie wohl sein?“, überlegte er, während er erzählte, dass er Jazzpiano spielte und selbst komponierte und außerdem gerne Gedichte schrieb. Sie strahlte zwar eine gewisse Lebenserfahrung und Reife aus, doch erschien sie irgendwie alterslos. In ihren großen braunen Augen spiegelte sich die Lebensfreude eines jungen Menschen, gleichzeitig wirkten sie wie zwei unergründliche Seen.

Ah, Hesse“, schwärmte sie mit Blick auf seinen mitgebrachten Gedichtband und erzählte, dass auch sie Gedichte schrieb. Sie freute sich darüber, diesbezüglich endlich jemand Gleichgesinnten getroffen zu haben.

Die Unterhaltung floss mit wunderbarer Leichtigkeit dahin, und die Themen wurden persönlicher und tiefgründiger. Er war fasziniert von diesem Gleichklang zwischen ihnen. Egal, worüber sie sprachen, sie hatte immer etwas Interessantes und Wertvolles dazu beizutragen. Dabei lag stets ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht, das zuweilen auch ein bisschen schelmisch wirkte.

Er bewunderte sie, dass sie trotz etlicher Herausforderungen in ihrem Leben in keiner Weise verhärtet oder frustriert zu sein schien. Sie konnte offenbar allem etwas Positives abgewinnen und nahm die Widrigkeiten als Entwicklungschance an.

Die ganze Zeit über hatte sie schon diese Herzenergie zwischen ihnen gespürt und fragte sich, wie das sein konnte. Schließlich kannten sie sich erst zwei Stunden. Vermutlich war es die beiderseitige Offenheit, welche sie einfach die universelle Liebe fühlen ließ. Diese Art von Liebe nahm sie auch oft während der Meditation wahr. Sie war einfach da, ohne auf jemand Bestimmtes gerichtet zu sein. Natürlich, sie mochte ihn, keine Frage. Auch seine Sensitivtät gefiel ihr.

Was für eine Frau! Und diese liebevolle Ausstrahlung, so jemand war ihm noch nie begegnet. Er fühlte sich beinahe unwiderstehlich zu ihr hingezogen, versuchte es jedoch zu verdrängen. Vergeblich.

Inzwischen war es fast Abend geworden und sie begann zu frösteln. Schließlich erhob sie sich, um endgültig zu gehen.

Da fasste er sich ein Herz und fragte: „Darf ich dich küssen?“

Damit hatte sie partout nicht gerechnet und wusste zunächst nicht, was sie sagen sollte. Dann fing sie sich und erwiderte: „Du ... könntest mein Sohn sein!“

Ich habe mich aber in dich verliebt“, gestand er. „Noch nie habe ich so eine wunderbare Frau getroffen, die so viel Herzensweisheit und Tiefgang hat wie du!“, fügte er mit leidenschaftlichem Blick hinzu. „Außerdem siehst du viel zu jung aus, als dass ich das glauben könnte.“

Es tut mir wirklich leid, aber ich kann das nicht“, entgegnete sie bedauernd. „Natürlich habe ich auch unsere Unterhaltung genossen und dich ins Herz geschossen. Nur – halt anders.“

In seinem Gesicht spiegelte sich Enttäuschung. Er wollte noch etwas sagen, schwieg dann jedoch.

Sie stand vor ihm und blickte ihn an. Wie schade, dass der schöne Nachmittag eine solche Wende genommen hatte! Sie hätten Freunde werden können, doch das schien nun nicht mehr möglich.

Nun geh schon!“, forderte er sie traurig auf.

Und sie nahm zögernd ihre Sachen und ging nach Hause.


© Mandalena (2022)


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2022. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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